Selbstbestimmt leben mit Behinderung Umkämpft: Inklusion dank persönlicher Assistenz
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Das Recht, mit Assistenz zu leben, ist gesetzlich verankert. Es bei den Ämtern durchzusetzen, ist nicht selten ein Kampf. Wie Assistenz aber ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht und warum die Vergütung umstritten ist, zeigt Jens Merkels Geschichte. Er würde gern alle Verantwortlichen an einen Tisch holen. Doch das ist nicht so einfach.
Gemeinsam mit dem Inklusionsnetzwerk Sachsen zeigt "Selbstbestimmt – Gesichter der Inklusion" und erzählt die Geschichten von Menschen, die um Teilhabe kämpfen – für sich und andere.

Es ist mal wieder Zeit für den Wocheneinkauf. Jens Merkel ist mit Jan Renner, einem seiner Assistenten in Grimma unterwegs im Supermarkt.
Auch sonst unterstützt er Jens bei den Dingen, die er allein nicht kann. Seit 2001 lebt Jens Merkel mit persönlicher Assistenz.
Er kämpfte darum, "denn es war damals wie auch heute die einzige Möglichkeit, selbstbestimmt in meiner eigenen Wohnung zu leben". Jens Merkel ist seitdem sozusagen Arbeitgeber.
Das Recht mit Assistenz zu leben und der Kampf darum
Abrechnungen mit den Kassen, die Dienstpläne für seine drei Assistenten – all das liegt in seiner Verantwortung. Das Recht, mit Assistenz zu leben, ist gesetzlich verankert. Es bei den Ämtern durchzusetzen ist aber nicht selten ein Kampf. Meist geht es ums Geld. Die Kosten teilen sich Pflege- und Krankenkasse sowie die Sozialämter der jeweiligen Kommunen. Etwa 10.000 Euro monatlich kostet die Assistenz von Jens Merkel. Ein Heimplatz wäre mit 4.000 bis 6.000 Euro um einiges preiswerter.
Jens Merkel findet, dass sich das Assistenz-Modell trotzdem rechnet: Denn dadurch seien die Assistenznehmer, also die Menschen mit Behinderung, mobil, könnten am sozialen Leben teilnehmen, seien in der Stadt unterwegs oder besuchten auch mal eine Gaststätte, heißt: Sie geben dort auch Geld aus.
Ich hab' damals schon ein knappes Jahr darum gekämpft weil es für mich damals und auch heute noch die einzige Möglichkeit ist selbstbestimmt in meiner eigenen Wohnung zu leben.
Auch Jens' alter Schulfreund Andreas Paul hatte Interesse am Assistenzmodell und ließ sich von Jens beraten. Heute 17 Jahre später sind die beiden Nachbarn und immer mal gemeinsam in der Gegend um Grimma unterwegs. Für Andreas Paul war die Entscheidung für das Assistenzmodell die einzig richtige:
Die Alternative wäre gewesen: Entweder drei Mal mal täglich der Pflegedienst, was auch nicht so das Gelbe vom Ei gewesen wäre oder Heim, Pflegeheim. Da hat man ja im Prinzip gar nichts mehr.
Unterschiedliche Bezahlung als Problem auf der Agenda
Mal rausgehen, einen Ausflug machen - für Jens und Andreas ermöglicht nur das Assistenzmodell diese Normalität. Zehn Tage im Monat, meist zwei, drei Tage am Stück rund um die Uhr arbeitet jeder Assistent. Was er verdient, hängt vom zuständigen Sozialamt ab.
Eine bundesweit einheitliche Regelung gibt es nicht. Im Landkreis Leipzig, wozu auch Grimma gehört, zahlt das Amt den Mindestlohn von 9,35 Euro. Nur wenige Kilometer weiter in der Stadt Leipzig sind es über 14 Euro in Chemnitz sogar 19 Euro. Assistent Jan Renner meint dazu:
Natürlich ist das ein Thema, was man immer im Kopf hat. Fünf bis zehn Euro die Stunde mehr, das ist schon ordentlich. Aber es ist am Ende ja immer noch die Sympathie im Raum, die man entwickelt für den Menschen.
Jens Merkel engagiert sich seit Jahren in zahlreichen Ehrenämtern leidenschaftlich für die Belange von Menschen mit Behinderung. Derzeit steht das Thema der Assistenten-Bezahlung ganz oben auf seiner Agenda. Er möchte gern alle Verantwortlichen an einen Tisch holen. Möglicherweise wäre ein Tarifvertrag die Lösung. Darüber ist er im Gespräch mit Markus Schlimbach, dem sächsischen DGB-Vorsitzenden, der meint: "So ein Tarifvertrag wäre gut, weil der klare Regeln macht. Aber da stehen wir erst ganz am Anfang. Das eine Problem ist, wir brauchen jemanden, mit dem man verhandeln kann. Da muss ein Arbeitgeberverband da sein. Arbeitgeber sind hier diejenigen, die auch nur das Geld weiter reichen. Die Kassen können auch nicht die Verhandlungspartner sein.
Eigentlich müsste das Sozialministerium die Initiative ergreifen und für einen einheitlichen Standard hier in Sachsen sorgen.
2003 lebten in ganz Deutschland gerade mal 3.000 Menschen mit persönlicher Assistenz. Heute sind es allein in Sachsen um die 1.000. Die ungleiche Bezahlung ist für Assistenznehmer wie Jens Merkel auch deshalb ein großes Problem, weil es so - etwa in kleineren Städten wie Grimma, wo das Sozialamt schlechter bezahlt, schwerer wird, Assistenten zu finden, die diesen verantwortungsvollen Job machen wollen. Jan Renner steht trotzdem zu seinem Job und sagt dazu, im Vordergrund sollte das selbstbestimmte Leben eines Menschen stehen:
Dafür sind wir Assistenten da, dass unsere Chefs selbstbestimmt leben dürfen. Das ist am Ende unser Job. Wir ersetzen hier Arme und Beine.
Sein Kollege ergänzt: "Sie können selber entscheiden, wir stehen ihnen zur Seite."
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt - Das Magazin | 08. November 2020 | 08:00 Uhr