Selbstbestimmt - Die Reportage Ersatzteil im Kopf - Möglichkeiten und Grenzen des Cochlea-Implantats (2017)
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Es gibt sie seit über 20 Jahren - Chochlea-Implantate. In Deutschland werden 5.000 Menschen pro Jahr neu damit versorgt. Der Begriff "taub" hat seitdem viel von seiner Endgültigkeit verloren. Dass die Hörprothese eine Hilfe, aber kein Allheilmittel ist, zeigt "Selbstbestimmt" in der Reportage "Ersatzteil im Kopf - Möglichkeiten und Grenzen des Cochlea-Implantats".

Mit 16 Jahren verlor Enno Park nach einer Masernerkrankung fast gänzlich das Gehör. Mit Hörgeräten konnte er den Verlust kaum ausgleichen.
Das Implantat, für das er sich 20 Jahre später entschied, half ihm, in "diesem Nebel", der ihn umgab, wieder "akustische Konturen" auszumachen. Ein halbes Jahr nach der OP erlangte er sein Sprachverständnis zu fast 100 Prozent zurück und konnte wieder ganz anders am Leben Teil haben. Die Technik ermöglicht ihm heute vieles: "Telefonieren, in die Kneipe gehen, flirten, Filme ohne Untertitel angucken ..."
Das Wichtigste an meinem Implantat ist, dass es meine Sinne verändert, dass ich die Welt anders wahrnehmen kann, dass ich mehr von der Welt wahrnehmen kann und das ist schon ziemlich großartig. Ich habe auch das Gefühl, es macht mich wacher, empathischer, es bringt mich näher an meine Umwelt und an meine Mitmenschen heran.
Gehörlos geborene haben es schwerer
Spätertaubte wie Enno Park lernen wieder hören, gehörlos Geborenen wie Jonas Enzmann aber fehlt die Erfahrung des Hörens und Sprechens gänzlich. Sie müssen die Impulse, die das Implantat sendet, neu deuten. Ein beschwerlicher Weg, Jonas Enzmann hat ihn hinter sich. Dass er gehörlos ist, stellte sich erst sieben Monate nach seiner Geburt heraus. Hörgeräte halfen ihm nicht. Mit 15 Monaten wurde er operiert. Danach machte er schnell Fortschritte. Schon mit drei Jahren erreichte er annähernd den Stand normalhörender Kinder. Insgesamt acht Jahre lange absolvierte er eine intensive Hör- und Sprechtherapie. Der 16-Jährige geht heute aufs Sport-Gymnasium. Ohne Implantat könnte Jonas nicht fechten - er muss die Treffer und Kommandos hören. Die Grenzen der Technik spürt er z.B. in lauter Umgebung.
CI - Kein Allheilmittel, aber ein boomender Markt
Solche Einschränkungen machen deutlich, dass die Hörprothesen kein Allheilmittel sind, auch wenn die Gerätehersteller, zuweilen diesen Eindruck erwecken.
Die Cochlear-Implant-Therapie ist bis heute einzigartig, weil durch Medizintechnik ein Sinnesorgan ersetzt werden kann.
Inzwischen tragen 50.000 Menschen in Deutschland diese Technik im Kopf - angesichts der demografischen Entwicklung ist die Tendenz steigend, der Markt boomt und verspricht einen Umsatz von bis zu 20 Milliarden Euro.
Ein Drittel der Implantierten sind Kinder
Ein Drittel der Implantierten aber sind gehörlos geborene Kinder - eins von 1.000 kommt mit einem schweren Hörschaden auf die Welt. Somit handelt es sich um eine der häufigsten Behinderungen. Für sie gehört das Cochlea-Implantat bereits zur Standardversorgung, verbunden damit ist die Verheißung, später ein "normales Leben" führen zu können. Die Operation - immerhin ein Eingriff knapp am Gesichtsnerv vorbei - erfolgt schon in den ersten 24 Monaten, um das Sprechenlernen nicht zu sehr zu verzögern, das die geistige Entwicklung insgesamt beeinflusst. Entscheidend sind dafür die ersten vier Lebensjahre.
Laut- vs. Gebärdensprache?
Aber was ist, wenn sich zeigt, dass das Implantat allein nicht helfen kann - so wie bei Benni? Der Junge wurde mit elf Monaten operiert. Im Alter von vier hing er mit seiner Sprachentwicklung um ein Jahr zurück. Die Eltern brachten sich Gebärdensprache bei, um ihn zu unterstützen. Doch die ist hierzulande - anders als etwa in den USA oder in Skandinavien - für Kinder mit Cochlea-Implantat verpönt.
Mediziner argumentieren, deren Gebrauch würde das Training der Lautsprache unterlaufen, auch wenn es inzwischen Untersuchungen gibt, die einerseits belegen, dass 50 Prozent der Kinder trotz Implantat nicht ausreichend hören, Sprache so auch nicht befriedigend lernen und andererseits, dass die Gebärdensprache für die Entwicklung genauso förderlich sein kann wie die Lautsprache, deren Erwerb wiederum nicht durchs Gebärden behindert werde. Darauf verweist eine erfahrene Therapeutin wie Astrid Braun vom Cochlear-Implant-Rehabilitationszentrum Halberstadt:
Kinder, die die Gebärdensprache beherrschen und zeitgleich die Lautsprache - wie z.B. Kinder aus Elternhäusern, die gebärden und die in Hörendenkindergärten sind - die schaffen es ganz schnell umzuswitchen zwischen der hier und der dort geforderten Sprache. Das ist ja bei Zweisprachigkeit im lautsprachigen Bereich nicht anders.
Bennis Eltern wissen, das Sozialamt rechnet kühl: Ein Implantat kostet 30.000 Euro, die Förderung der Gebärdensprache zusätzlich ein Vielfaches. Vor Gericht mussten Bennis Eltern die zeitweise Förderung fürs Erlernen der Gebärdensprache erkämpfen - und das obwohl das Behindertengleichstellungsgesetz die Grundlage zur rechtlichen Anerkennung der Gebärdensprache bereits vor 15 Jahren geschaffen hat.
Patientenvertreter fordern mehr Aufklärung - und Empathie
Indessen mahnt die Patientenvertretung der CI-Träger eine bessere Aufklärung durch die Ärzte an, mehr Kommunikation sei wichtig. Schließlich, so betont Barbara Gängler vom Cochlea Implant Verband Mitteldeutschland e.V., träfen Eltern hier eine lebenslang relevante Entscheidung für ihr Kind. Steffen Räder, der seine Art der Behandlung als entmündigend erlebte, hätte mehr Empathie sicherlich viel Leid ersparen können. Als 12-Jähriger erhielt er sein erstes Implantat. Er kam gut damit zurecht. Doch zwei, drei Jahre später empfahlen die Ärzte ein neues, moderneres. Das hieß: noch einmal Schädel auf. Nach der OP hörte er schlechter als vorher, er ignorierte den Fremdkörper in seinem Kopf und arrangierte sich wieder mit seinem Leben als Gehörloser - bis zu einem Arbeitsunfall 2013. Ein Rolltor fiel auf seinen Kopf und beschädigte das Implantat. Kopfschmerzen und Tinnitus waren die Folge. Erst nach langen Diskussionen wurde ihm das Implantat 2014 entfernt.
Wie oft es überhaupt zu Explanationen kommt, etwa aufgrund von schadhaften Geräten, ist hierzulande unklar. "Es gibt keine Statistiken", sagt Barbara Gängler, denn: "Es ist ein heißes Thema." Professor Klaus Begall vom Ameos Klinikum Halberstadt geht von fünf bis sieben Prozent der Implantate aus.
Fest steht: Nicht jeder kann oder will mit einem solchen Ersatzteil versorgt werden. Für Steffen Räder ist das Gebärden heute nicht Krücke, sondern eine vollwertige Sprache und die wiederum ist für ihn Teil einer eigenständigen Kultur, in der er mit seiner gehörlosen Familie lebt. Für Benni ist die Prothese ein Hilfsmittel. Für Jonas Enzmann und Enno Park bedeutet das Implantat ein großes Plus an Lebensqualität. Der Informatiker und Publizist hat die "Körper-Technik", die er fortlaufend an sich selber testet, zu seinem Spezialgebiet gemacht. Er begleitet die Diskussion darum durchaus kritisch und kommt zu dem Schluss:
Wir müssen weiterhin akzeptieren, dass es eine große Zahl von Behinderten geben wird, denen wir technisch-medizinisch nicht helfen können, längst nicht nur bei der Gehörlosigkeit. Und für die brauchen wir weiterhin alle Maßnahmen zur Barrierefreiheit.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt - Die Reportage | 07. Juni 2020 | 08:00 Uhr