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FIFA-Präsident Gianni Infantino (l.) und der Emir von Katar, Scheich Tamim bin Hamad al-Thani bei der Auslosung der WM im April. Bildrechte: IMAGO/Xinhua

Neue repräsentative Studie aus MitteldeutschlandWie die deutschen Fans über die Katar-WM denken

von Patrick Franz

Stand: 16. November 2022, 10:25 Uhr

Es wird die außergewöhnlichste Weltmeisterschaft aller Zeiten und es entzünden sich so viele Debatten wie nie zuvor. Eine neue Studie aus Mitteldeutschland hat ein repräsentatives Meinungsbild der deutschen Fußball-Fans zur Katar-WM eingeholt. 5.748 Teilnehmer wurden in der Zeit vom 24. Oktober bis 6. November 2022 befragt, wie sie das Turnier und seine Begleiterscheinungen kurz vorm Start einschätzen. Die Ergebnisse sind aussagekräftig, der MDR analysiert.

Durchgeführt wurde die wissenschaftliche Erhebung über die Voting-Plattform FanQ, deren beide Gründer im mitteldeutschen Raum verwurzelt sind. Dr. Joachim Lammert war zuvor an den Universitäten Leipzig und Chemnitz tätig, Kilian Weber von 2013 bis 2014 Referent der Geschäftsführung von Dynamo Dresden und lebt seither in der sächsischen Landeshauptstadt. Gemeinsam mit einem Netzwerk von zwölf Wissenschaftlern, u.a. von der Universität Würzburg und Fachhochschule Dortmund, haben sie die Stimmungen rund um die erste Winter-WM immer wieder erfasst.

"Die Ablehnung besteht nachhaltig"

Die neueste Umfrage ist ihre dritte Studie zum Katar-Turnier. Dr. Lammert erklärt dem MDR: "Unsere kontinuierliche Untersuchung belegt, dass der Anteil derjenigen, die sich die Spiele der WM 2022 nicht anschauen möchten, stetig gestiegen ist. Die Enttäuschung und die Ablehnung der Fans scheinen also nachhaltig zu bestehen. Um solche Entwicklungen aufzeigen zu können, haben wir die Fanmeinungen zur Katar-WM zu unterschiedlichen Zeitpunkten abgefragt."

Über die Hälfte der deutschen Fans will kein einziges Spiel sehen

Wenige Tage vorm Turnier gaben nun 84,9 Prozent der Teilnehmenden an, dass ihre Vorfreude gegenüber vorangegangenen Weltmeisterschaften diesmal "viel kleiner" ist. Mehr als die Hälfte aller Befragten (54,9 Prozent) wollen nach eigener Aussage kein einziges Spiel live verfolgen, was quasi einem TV-Boykott gleichkommt. Nur jeder Zehnte wird jede oder die meisten Partien anschauen. 15 Prozent wollen wenige Spiele und 17,3 Prozent nur die deutschen Begegnungen sehen. Sportwissenschaftler Prof. Dr. Harald Lange von der Universität Würzburg fasst zusammen: "Solche Zahlen wären vor früheren WM-Endrunden unvorstellbar gewesen. Kritik und Abneigung der Fans sind riesig. Selbst der Kompromiss, sich nur die deutschen Spiele zu gönnen, was durch die emotionale Verbundenheit mit WM-Turnieren erwartbar wäre, wird kaum gewählt."

Bildrechte: FanQ

Mindestens 6.500 tote Arbeiter für 28 WM-Tage

Robert Pohl ist ein mitteldeutscher Vertreter des bundesweiten Fanbündnisses "Unsere Kurve e.V." und bestätigt: "Die Studie spiegelt die Stimmung wider, die ich bei den Fans wahrnehme. Es gibt viele Faktoren, die gegen diese WM sprechen. Katar ist ein Staat, der weder Menschenrechte einhält noch ein annähernd demokratisches System darstellt."

Beim Bau der acht Stadien für die Weltmeisterschaft, von der FIFA wurde die Vorgabe von eigentlich zwölf Spielstätten reduziert, sollen laut Recherchen der englischen Zeitung "The Guardian" 6.500 Wanderarbeiter aus Nepal, Indien und Bangladesch gestorben sein. Die Schätzung geht auf Angaben der katarischen Botschaften der drei Staaten zurück. Amnesty International kommt auf bis zu 8.178 Ausländer, die die Bauarbeiten bei etwa 45 Grad im Schatten nicht überlebten. Für den Dresdner Pohl ist das nicht hinnehmbar: "Jeder tote Arbeiter ist einer zu viel für ein Fußball-Spektakel in einem Staat, der im weitesten Sinn nichts mit dem Sport zu tun hat. Das ist der Hauptgrund für die Ablehnung."

Fans erwarten, dass deutsche Nationalspieler Menschenrechtslage ansprechen

Fast logisch dazu würden 78,1 Prozent der deutschen Fans es begrüßen (10,3%) oder zum überwältigenden Teil sogar sehr begrüßen (67,8%), wenn deutsche Nationalspieler die Menschenrechtslage während der WM offen kritisieren würden. Dynamo-Dresden-Anhänger Pohl sagt: "Für die Fans ist es nicht nur eine Forderung, sondern eine Selbstverständlichkeit, zu der es gar nicht erst einer Forderung bedarf." Fanforscher Prof. Harald Lange, der im wissenschaftlichen Beirat von FanQ die Studie wesentlich begleitete, betont: "Der Sport hat aus seiner Geschichte heraus mit dem Fairplay-Gedanken eine ethisch-moralisch geleitete Tradition. Daher haben die Fans eine deutliche Erwartung, dass die Spieler individuelle Zeichen setzen. Es gibt ein hohes Verständnis dafür, dass die Nationalspieler nur alle vier Jahre an einer WM teilnehmen können und es für sie ein Karrierehöhepunkt ist. Jedoch sollen sie zeigen, dass sie mit dem Rahmen nicht einverstanden sind, in den sie hineingezwungen wurden."

Fakt ist, dass der DFB die Nationalspieler extra darauf vorbereitete, Kritik äußern zu können. So mussten alle Teammitglieder rund um die letzten Länderspiele Schulungen besuchen, bei denen ihnen Hintergrundwissen zu den Unterschieden zwischen Deutschland und Katar sowie speziell zur Menschenrechtslage vor Ort vermittelt wurde. Lange erläutert: "Durch die Seminartätigkeiten hat jeder die Voraussetzung erhalten, sich eine Haltung ausbilden zu können. Die Spieler werden während der WM damit bei ihren Fans punkten können, wenn sie es ehrlich und glaubhaft herüberbringen."

"One-Love-Binde als Kniefall vor den Machthabern in Katar enttarnt"

Ähnlich ist es um das Thema Homosexualität, die in Katar unter einer Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren Haft verboten ist, bestellt. In der FanQ-Umfrage wurde erhoben, wie sich der DFB dazu positionieren soll. 26,4 Prozent der deutschen Anhänger sehen auch hier Spielerstatements als das beste Mittel. 31 Prozent sind dafür, dass Nationalelf-Kapitän Manuel Neuer mit der originalen Regenbogenbinde aufläuft. Nur 6,9 Prozent sind für die One-Love-Binde, die allgemein gegen Diskriminierung steht und mit der der DFB bislang plant. 27,1 Prozent sind der Meinung, der deutsche Verband solle sich in dieser Frage gar nicht äußern. "Die Fans haben die One-Love-Binde als Kniefall vor den Machthabern in Katar enttarnt", meint Prof. Lange. "Sie merken, dass man hier dem Gastgeber entgegenkommen wollte und daher dieses Kunstprodukt geschaffen hat. Jetzt steht der DFB ziemlich hilflos da."

Bildrechte: FanQ

Unsere-Kurve-Vertreter Pohl: "Infantino-Brief ist ein Skandal!"

Noch ist unklar, wie die FIFA überhaupt nur auf die One-Love-Binde reagieren wird. Denn Präsident Gianni Infantino rief in einem Brief an alle WM-Teilnehmer auf, "den Fußball nicht in jeden ideologischen oder politischen Kampf hineinzuziehen" und beabsichtigte wohl, permanente Kritik am autoritären Gastgeber zu verhindern. Der Weltverband droht bei politischen Äußerungen mit Sanktionen wie Geldstrafen.

Fanorganisationen wie "Unsere Kurve e.V." sehen sich damit erneut in ihrem Denken bestätigt. Pohl sagt stellvertretend: "Das ist nüchtern betrachtet ein Skandal und eine Bevormundung, die absolut nicht zu akzeptieren ist. Sie zeigt aber entsprechend, wie die FIFA und ihre Verantwortlichen agieren und denken." Für den Dresdner steht auch im Bezug auf die sexuelle Identität von Menschen fest: "Wenn man Haltung zeigt, dann sollte man das konsequent und nicht in abgeschwächter Form tun, wo nur ein symbolischer Akt dahintersteckt. Es geht darum, klar Stellung zu beziehen – und zwar sowohl mit Aussagen von Spielern als auch mit Trikotaufschriften und Kapitänsbinden."

Viele politische Unstimmigkeiten vor Ort erwartet

Prof. Lange erwartet für die 28 WM-Tage einige Unstimmigkeiten im Emirat. "Die Polizei hat extra Anweisungen bekommen, was sie während der WM entgegen der geltenden Gesetzeslage vor Ort durchgehen lassen soll. Dadurch entsteht ein ungewisser Raum zwischen Gesetz und Praxis. Vieles wirkt kurzfristig, obwohl zwölf Jahre Zeit zur Vorbereitung waren", begründet er. Unklar ist allerdings, wie viel die Welt davon erfahren wird. "Die Pressefreiheit wurde nochmals beschränkt", schildert Lange. "Es gibt ein rigoroses System der Akkreditierung und feste Drehorte, wo TV-Kameras filmen dürfen."

Imagewerte von Katar, FIFA und WM rauschen in den Keller

In dieser Gemengelage überrascht wenig, dass die überwältigende Mehrheit der Fans das Image sowohl des Gastgeberlandes (74,5%), des Turniers an sich (91,6%) als auch der FIFA (94,9%) seit der Vergabe der Weltmeisterschaft an Katar als verschlechtert einstuft. 90,5 Prozent glauben nicht, dass sich die Menschenrechtslage in dem Wüstenstaat durch die Ausrichtung verbessert. Die Ablehnung geht so weit, dass WM-Sponsoren mit einem negativeren Image rechnen müssen. Bereits in der zweiten FanQ-Studie waren knapp drei Viertel (73,1%) der Fans der Ansicht, dass das Ansehen von Geldgebern in Mitleidenschaft gezogen werden. 58,2 Prozent gaben im Mai 2022 sogar an, dass ihre Kaufbereitschaft auf Produkte von WM-Sponsoren sinkt.

Bildrechte: FanQ

Weihnachtsmärkte und Regionalliga als Gewinner der Katar-WM?

Auch die erstmalige Austragung im Winter bekommt in der neuesten Studie mit 70,6 Prozent eine negative Auswirkung zugeordnet. Pohl meint: "Der Zeitpunkt schafft nicht die typische Atmosphäre. Die Menschen verbinden mit der WM auch Bratwurst und Bier – so habe ich es in der Szene vernommen. Glühwein passt da eher weniger zu den Gewohnheiten." Weitergehend wurde gefragt, welche alternativen Sportangebote Fans, die das Turnier im Fernsehen nicht verfolgen, sich stattdessen anschauen wollen. Hier bekamen der Amateurfußball (17,9%) und die Regionalliga (17,5%), die im Nordosten auch weiterhin spielen wird, die höchsten Zustimmungswerte. Die Handball-Bundesliga (12,4%) und die DEL (11,3%) sind noch zweistellig, die Basketball-Bundesliga kommt nur auf 5,7 Prozent.

Bildrechte: FanQ

Sportwissenschaftler Harald Lange ist jedoch überzeugt: "Es ist erstmal eine Abwendung vom Fußball. Profitieren werden vor allem die Weihnachtsmärkte, die erstmals nach zwei Corona-Jahren wieder geöffnet sind. Sonst sind leichte Zuwächse in der Regionalliga zu erwarten, aber keine großen Sprünge in anderen Sportarten. Dafür müssen Verbände und Vereine nun mit ihren besseren ethischen Werten werben und diese erklären."

Auch während der WM wird "Sport im Osten" weiterhin ausführlich über die Regionalliga Nordost berichten, an den Wochenenden zwei Topspiele live im Web, in der SpiO-APP und via Youtube übertragen.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 14. November 2022 | 19:30 Uhr

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