Die DNA des Ostens Warum das Verständnis für den Osten so schwer fällt

Der Osten hat gewählt, und mal wieder anders als die meisten Regionen im Westen. Die Nachwendezeit, der Mauerfall und das DDR-Erbe prägen bis heute den Blick auf Politik, Menschen und das eigene Leben. Man kann diesen Erfahrungsschatz auch als eine "DNA des Ostens" lesen.

Grafitti an Mauer mit Suschrift "Ossi oder Wessi"
Die Ostdeutsche Prägung hat auch Einfluss auf das Wahlverhalten der Ostdeutschen Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Die Tendenz ist eindeutig: In den letzten drei Jahrzehnten schauen die Menschen immer weniger auf die Unterschiede zwischen Ost und West. Sicher, noch immer fühlt sich rund die Hälfte der Menschen im Osten zuallererst als ostdeutsch, und noch immer spielt die regionale Identität für sie eine größere Rolle als für Westdeutsche. Aber je jünger die Menschen sind, umso unwichtiger werden solche Abgrenzungen für sie. Dabei steht die jüngere Hälfte der Ostdeutschen, die Unter-Vierzigjährigen, vor einer besonderen Aufgabe. Beeinflusst vom Erbe und Verschwinden eines Staates, den sie kaum oder nie selbst erlebt haben, müssen sie ein Verhältnis zu ihrer ostdeutschen Biografie entwickeln – und sich mit ihren Prägungen auseinandersetzen. Manche tun es aus Interesse an ihren Prägungen, auf der Suche nach ihren Wurzeln, Andere als Teil der gesellschaftlichen Debatte und auch um sich selbstbewußt aus dem zum Teil negativen Image des Ostdeutschseins zu befreien.

Prägungen: Band zwischen ostdeutschen Generationen

Um zu erfassen, wie stark die Prägungen der Vergangenheit bis in die Gegenwart wirken, lohnt ein vergleichender Blick auf die verschiedenen ostdeutschen Generationen. Denn DDR-Geborene und Nachwendekinder teilen einen kollektiven Erfahrungsschatz. Er reicht vom einst verweigerten Abitur bis zu den Montagsdemonstrationen, von der ZV-Ausbildung bis zur Clubkultur der Neunziger, vom Prager Frühling bis zum ersten "Westauto", vom rasanten Systemwechsel bis zum kompletten Neuanfang. Dieser Kanon gemeinsamer Erfahrungen verknüpft die Ostdeutschen bis in die Gegenwart und unterscheidet sie vom Rest der Republik, obwohl die verschiedenen Jahrgänge ganz unterschiedlich durch dieselben Umstände geprägt wurden. Ihre gemeinsamen Erfahrungen aufzuschlüsseln kann erklären, wieso der Osten bis heute anders tickt. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob diese Erfahrungen selbst erlebt oder in den Familien-, Freundes-, und Kollegenkreisen weitergegeben wurden. Auch das Mit- und Nacherleben von Erfahrungen der Elterngeneration – die langersehnte Neubauwohnung, der verhasste NVA-Dienst oder der berufliche Neuanfang nach der Wende – formen als Prägungen den Blick auf die Welt und das eigene Leben.

Jede Generation einzeln betrachten

Trotzdem ermöglicht erst die differenzierte Perspektive auf jede einzelne Generationen ein tieferes Verständnis des Ostens. Wer in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre das Licht der Poliklinik erblickt hatte, wurde in den Achtzigern in ein Arbeitsleben voll von Stagnation, Mangel und Bürokratie geworfen. Eine Karriere schien für Vertreter dieser Generation in der DDR kaum möglich, der Schritt in die westdeutsche Leistungsgesellschaft verlangte ihnen ein deutlich größeres Maß an Flexibilität ab als etwa der Generation der ab 1980 Geborenen. Diese Generation wiederum war in ihrer Nachwendejugend häufig sich selbst überlassen und konnte die entstandenen Freiräume kreativer nutzen als ältere Jahrgänge, die in den festen Strukturen von Schulbetreuung und Sportzirkeln sozialisiert wurden. Bis heute wird solchen Unterschieden und den sich daraus ergebenden Prägungen noch zu selten öffentliche Aufmerksamkeit zu Teil – zumindest aus ostdeutscher Sicht.

Repräsentiert wird diese Perspektive beispielsweise von Initiativen wie "Wir sind der Osten", welche die ihrer Ansicht nach noch immer zu pauschalen Bilder des Ostens aufbrechen will. Ihr Eindruck wird genährt von öffentlichen Debatten, in denen Ostdeutsche vor allem als Sammelbegriff und Problembeschreibung auftauchen. Etwa, wenn sie in der Debatte um die Corona-Impfbereitschaft pauschal mit Arbeitslosen und Migranten als eine von drei besonders impfskeptischen Randgruppen eingereiht werden, anstatt spezifischer regionale Besonderheiten zu betrachten.

Eine Analyse, die genauer die verschiedenen ostdeutschen Generationen in den Blick nimmt, könnte sich als ein konstruktives Gegenmodell zu den noch immer präsenten öffentlichen Denkschablonen anbieten. Die Erfahrungen der Ostdeutschen – zum Teil sind sie über Jahrzehnte in ihr Denken und Handeln übergangen – bieten als ein Set von Prägungen einen Fundus, um ihre Einstellungen und ihr Handeln genauer beschreiben und erklären zu können. Im gemeinsamen Durchdringen und Diskutieren dieser Prägungen könnte ein Weg liegen, um das bis heute Andere am Osten besser zu verstehen.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Wer wir sind - Die DNA des Ostens | 01. Oktober 2021 | 20:15 Uhr