Ost-Frauen: Die Anpassungs-Weltmeisterinnen
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Wie haben es ostdeutsche Frauen geschafft, von den Verlierern zu den Gewinnern der Deutschen Einheit zu werden? Über ihre unsagbare Fähigkeit, sich mit allen Zumutungen des Lebens zu arrangieren.

Es ist – auch wenn es komisch klingt – ein Kreißsaal gewesen, in dem ich etwas über ostdeutsche Frauen gelernt habe. Ich war vor ein paar Wochen zu Besuch in der Uniklinik Leipzig, dort hing in einem Flur der Geburtsstation eine Grafik: "Geburtenzahlen von 1941-2018". Sie zeigt, dass in zwei Jahren extrem wenige Kinder in diesem Haus zur Welt kamen. Das eine war 1948, nach dem Zweiten Weltkrieg. Noch viel weniger Babys aber wurden 1994 geboren, nach der Friedlichen Revolution. "Die Wende hat sich krasser ausgewirkt als der Krieg", so kommentierte das eine Hebamme.
Ost-Frauen: Mehr als pragmatisch
Ost-Frauen gelten als pragmatisch, und so könnte man auf den ersten Blick auch diese Grafik erklären: Anfang der 1990er-Jahre bekamen Frauen aus den neuen Ländern kaum mehr Kinder, weil die Wende sie zu sehr verunsicherte oder weil sie erst einmal selbst in der neuen Welt ankommen wollten. Pragmatisch bedeutet so viel wie sachbezogen, lösungsorientiert.
Anne Hähnig ist 1988 in Freiberg im Erzgebirge geboren, studierte Politikwissenschaft in Leipzig und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Sie ist Redakteurin im Leipziger Büro der Wochenzeitung DIE ZEIT und berichtet insbesondere aus und über Ostdeutschland.
Ich finde, das genügt nicht, um zu verstehen, was ostdeutsche Frauen ausmacht, was viele von ihnen verbindet. Aus meiner Sicht sind diese Frauen mehr als pragmatisch. Sie sind bereit und imstande, sich mit allen nur denkbaren Zumutungen des Lebens zu arrangieren. Ändern sich die Zeiten, ändern sie binnen weniger Monate ihre Familienplanungen. Sie sind die Anpassungs-Weltmeisterinnen.
Wo die Emanzipation hakt
Als ich aufwuchs, im Sachsen der 1990er-Jahre, waren starke, selbstbewusste Ostfrauen für mich eine Selbstverständlichkeit. Erst später wurden sie mir, zwischenzeitlich, zu einem Rätsel. In meiner Familie (und in den meisten anderen, die ich kenne) sind Frauen diejenigen, die alles zusammenhalten. Die Kraftzentren. Sie sind auch diejenigen, die mich als junges Mädchen immer schon animierten: Sei fleißig in der Schule, mach was aus dir, du kannst alles werden!
Interessanterweise bin ich aber, würde ich heute sagen, nicht zur Feministin erzogen worden. Emanzipiert sollte ich sein, selbstbewusst. Aber eine Kämpferin für die Rechte der Frauen? Ich bin groß geworden mit dem Selbstverständnis, dass man Missstände zwar kritisieren kann, man ihnen aber eigentlich lieber aus dem Weg geht. Dann komme man nämlich weiter.
Mir ist erst mit den Jahren klar geworden, wie groß die Zumutungen waren, die ostdeutsche Frauen in der DDR auszuhalten hatten. Viele, die ich kenne, hatten immer nur davon gesprochen, wie emanzipiert sie damals gewesen seien. Aber dass sie viermal so viel Zeit wie Männer alleine mit Hausarbeit verbrachten, dass sie im Grunde ständig überfordert waren damit, Vollzeit arbeiten zu gehen, Kinder großzuziehen, den Haushalt zu schmeißen, sich zu allem Überfluss noch irgendwo zu engagieren? Mir hat das irgendwann in einem Interview Anna Kaminsky erzählt, die Geschäftsführerin der Stiftung Aufarbeitung, die ein Buch über das Thema geschrieben hat. "Ich glaube einfach nicht, dass die DDR zum großen Emanzipierungsvorbild taugt", sagte Kaminsky. "Ich will dieser Verklärung gerne etwas entgegensetzen."
Irgendwann fand ich auch Studien, die zeigten, dass es Ostfrauen nach dem Mauerfall schwerer hatten als Männer. Sie wurden früher arbeitslos, hatten ein höheres Armutsrisiko. Eigentlich hätten sie die Verlierer der Einheit werden müssen. Hat man sie jemals jammern hören, sich beklagen? Heute haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Ostfrauen sind inzwischen, im statistischen Durchschnitt, besser gebildet als Ostmänner. Sie sind auch seltener arbeitslos. Sie waren in den Neunzigern viel eher als Männer bereit, ihre Heimat zu verlassen, in den alten Ländern ihr Glück zu suchen. Deswegen gibt es im Osten heute Orte, in denen kaum eine Frau mehr wohnt.
Wenn der Konflikt unterbleibt
Die westdeutsche Welt, in die sie dann kamen, muss den Ostfrauen aber auch merkwürdig vorgekommen sein. In den alten Ländern gab es nach 1990 nicht genügend Kitas, dafür lauter bestens ausgebildete Mütter, die nach der Geburt ihrer Kinder zu Hausfrauen wurden. Wir leben heute in feministischen Zeiten, finde ich. Viele jüngere Frauen fragen, warum sie in den Eliten des Landes unterrepräsentiert sind, in den Dax-Vorständen und Bürgermeister-Büros zum Beispiel. Warum ihre Karrieren meistens dann versiegen, wenn sie ein Kind zur Welt bringen. Solche Fragen wurden vor zehn Jahren kaum gestellt. Auch von ostdeutschen Frauen nicht. Dabei haben es einige von ihnen weit gebracht, wurden Bundeskanzlerin wie Angela Merkel, Familienministerin wie Manuela Schwesig, Linken-Chefin wie Katja Kipping oder Grünen-Fraktionschefin wie Katrin Göring-Eckardt.
Aber was viele Ostfrauen eben ausmacht - vor allem die erfolgreichen unter ihnen -, das ist neben ihrer beinharten Rationalität auch dieses: Sie gehen über emanzipatorische Fragen hinweg, als ob es nichts zu diskutieren gäbe. Sie sehen Zumutungen eher als etwas zu Überwindendes, nicht als etwas zu Beklagendes. Sie sind unerbittlich vor allem gegenüber sich selbst. Nicht gegenüber anderen. Sie wollen Probleme möglichst dann schon lösen, bevor sie sich erst richtig entfalten. Das ist eine kluge Strategie, aber wenn sie die einzige ist, dann unterbleibt etwas. Es unterbleibt ein Konflikt und eine Debatte. Genau das jedoch braucht eine demokratische Gesellschaft auch. Wer immer nur das Möglichste zu erreichen versucht, wird das Unmögliche nicht ändern können.
Vielleicht lässt sich so auch erklären, warum es keine ostdeutsche Frau war, die unsere Familienpolitik revolutionierte. Die ein Gesetz schrieb, das allen Eltern einen Kitaplatz garantiert und die das Elterngeld einführte. Anders gesagt: Die, die Bundesrepublik ein bisschen ostdeutscher machte. Die Frau, die all das zu verantworten hat, ist Ursula von der Leyen (CDU), heute Verteidigungsministerin, früher war sie Familienministerin. Aus meiner Sicht ist von der Leyen die größte Feministin der Bundespolitik – beziehungsweise die ostdeutscheste Westfrau, die mir je untergekommen ist.
Dieser Text ist entstanden im Rahmen des Projekts "Ostfrauen" des Rundfunk Berlin-Brandenburg und des Mitteldeutschen Rundfunks.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Ostfrauen - Wege zum Glück | 06. März 2022 | 22:50 Uhr