Ein Mann telefonierend im Sakko
Ostdeutsche kommen deutlich seltener in Führungspositionen als Westdeutsche Bildrechte: Colourbox.de

Aktuelle Datenerhebung mit der Universität Leipzig Ostdeutsche Eliten: Der Weg "nach oben" führt über den Westen

08. Juni 2022, 15:46 Uhr

Bis heute finden sich in Führungspositionen in Bund und Ländern kaum Ostdeutsche. Ihr Anteil ist mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung in manchen Bereichen sogar zurückgegangen. Der Weg "nach oben" führt nach wie vor meist über den Westen. Das zeigt eine aktuelle Datenerhebung* von MDR und der Universität Leipzig.

Die Ostdeutschen kommen deutlich seltener in Führungspositionen als Westdeutsche. In den ostdeutschen Bundesländern besetzen sie gerade einmal 26 Prozent der Elitepositionen in Politik, Wirtschaft, Medien, Justiz und Wissenschaft. Dabei stellen sie im Osten einen Bevölkerungsanteil von mehr als 80 Prozent. 2016 lag ihr Anteil an Spitzenpositionen bei 23 Prozent, also nur ein geringfügiger Anstieg. Das widerlegt die seit Jahrzehnten kursierende These, dass sich die Anteile von ost- und westdeutschen Eliten perspektivisch an die jeweiligen Bevölkerungsanteile anpassen werden.

Weniger ostdeutsche Landesminister

In den Bereichen Politik, Wirtschaft und Medien ging der Anteil ostdeutscher Spitzenkräfte sogar zurück. So waren die Ministerposten in den ostdeutschen Landesregierungen in den Jahren 2004, 2016 noch zu mindestens 70 Prozent ostdeutsch besetzt – heute liegt der Anteil bei nur noch 60 Prozent. Unter den Staatssekretären ist er dagegen stetig gestiegen, von unter 30 Prozent 1991 auf nun 52 Prozent.

In der Wirtschaft ist ihr Anteil an der Leitungsebene wieder rückläufig. Bei den 100 größten Unternehmen Ostdeutschlands hatten 2016 noch 25 Prozent des Führungspersonals eine Ostbiografie, im Jahr 2022 sind es nur noch 20 Prozent.  Der Anteil der stellvertretenden Führungskräfte sank sogar noch stärker: von einst 45 Prozent auf jetzt 27 Prozent.

Angleichung in Wissenschaft und Justiz

In anderen gesellschaftlichen Bereichen, zum Beispiel auch dort, wo fachliche Qualifikationen eine sehr große Rolle spielen, gibt es stabilere Entwicklungen oder sogar Anstiege. An der Spitze der 23 größten ostdeutschen Hochschulen mit mindestens 5.000 Studenten stehen vier Ostdeutsche. Bei den Kanzlern, die sich an den Hochschulen um Finanzen und Verwaltung kümmern, stieg der Anteil stetig auf nunmehr 53 Prozent. Auch an der Spitze ostdeutscher Forschungsinstitute gab es in den letzten Jahren einen Anstieg von 15 Prozent auf nun 20 Prozent. Zur Einordnung, wir reden hier von Positionen in den ostdeutschen Bundesländern selbst, während westdeutsche Institutionen so gut wie nie von Ostdeutschen geführt werden.

An den obersten Landesgerichten Ostdeutschlands wächst die Zahl ostdeutscher Richter immer stärker an. Während sie 2004 nur 12 Prozent und im Jahr 2016 noch 13 Prozent der Richterschaft bildeten, stellen sie nun gut 22 Prozent. Nur unter den Vorsitzenden Richtern, die zum Beispiel Senate leiten, sank der Anteil von 6 Prozent auf 4,5 Prozent.

Medien-Chefs: Uneindeutige Entwicklung

MDR -Sendezentrale Leipzig
Bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten wuchs der Anteil Ostdeutscher in der Führungsebene auf 31 Prozent Bildrechte: MDR/Dana Lorenz

Der Blick auf die großen Regionalzeitungen im Osten wie die Leipziger Volkszeitung oder die Mitteldeutsche Zeitung zeigt ein eher durchwachsendes Bild. In den Chefredaktionen sank der Anteil Ostdeutscher von 62 Prozent (2016) auf 43 Prozent, während er in den Verlagsleitungen von 9 Prozent auf 20 Prozent anstieg. Bei den drei öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die ihr Sendegebiet in Ostdeutschland haben – das sind MDR, RBB und NDR – wächst der Anteil Ostdeutscher in der Führungsebene langsam, aber stabil an auf nunmehr 31 Prozent. Auf den Chefposten großer Medienkonzerne gibt es keine Ostdeutschen, immerhin aber zwei in den Chefredaktionen der größten überregionalen Printmedien. An der Spitze der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gibt es nur eine Ostdeutsche, die Intendantin des MDR.

Im Bundesvergleich: Ostdeutsche Eliten selten

Die Datenerhebung betrachtet auch Top-Elitepositionen auf Bundesebene, um diese mit der regionalen Ebene in Ostdeutschland vergleichen zu können. In gesamtdeutscher Betrachtung liegt der Bevölkerungsanteil der Ostdeutschen bei etwa 17 Prozent. Im Vergleich dazu sind Ostdeutsche in der Top-Elite kaum vertreten, auch wenn ihr Anteil leicht gestiegen ist: seit 2016 von rund zwei auf dreieinhalb Prozent. In der aktuellen Bundesregierung sind mit Steffi Lemcke und Klara Geywitz zwei Ministerinnen mit Ostbiografie vertreten, dies entspricht einem Anteil von 12 Prozent.  Damit wird die Marke von 17 Prozent für die Repräsentation Ostdeutscher nur knapp verfehlt, bei den Staatssekretären mit rund 6 Prozent dagegen erheblich.

Auch in den Chefsesseln der größten Wirtschaftsunternehmen, Hochschulen und Medienhäuser  finden sich noch immer kaum Ostdeutsche: In den Vorständen der DAX-Konzerne sank die Zahl Ostdeutscher zuletzt von drei auf zwei Führungskräfte, 2016 saß in den Rektoraten der 100 größten Hochschulen Deutschland kein Ostdeutscher, heute ist es immerhin einer.

Allein bei den Bundesgerichten gibt es wie auf Landesebene ein stabiles Nachrücken: in der gesamten Richterschaft von einem Prozent auf fünf Prozent. 2021 hat auch erstmals eine Vorsitzende Richterin aus Ostdeutschland ihr Amt angetreten.

Karriere-Booster Westdeutschland

Die Datenerhebung zeigt zudem, dass die Aufstiegswege in Elitepositionen vor allem über Westdeutschland verlaufen. So studierte nur die Hälfte der erfassten Ostdeutschen in Führungsverantwortung  auch im Osten. Die weiteren Karrierestationen liegen sogar nur zu 43 Prozent in Ostdeutschland. Das ergab eine Auswertung der Ausbildungs- und Berufsbiografien der Ostdeutschen, die es in die bundesdeutschen Eliten geschafft haben.

Ursachen für das Missverhältnis

Neben der Wahl von westdeutschen Stationen für Studium und Karriere haben vor allem Bevölkerungsbewegungen bis heute Einfluss auf den Anteil von Ostdeutschen in Führungspositionen. Nach der Wiedervereinigung wurden das Institutionen- und Rechtssystem Westdeutschlands auf Ostdeutschland übertragen. Hierfür brauchte es erfahrene Fachkräfte, die notwendigerweise in Westdeutschland rekrutiert wurden und teilweise bis heute ostdeutsche Posten besetzen. Auf der anderen Seite gab es ab 1990 eine dramatische Abwanderung Ostdeutscher in die westdeutschen Bundesländer. Es waren vor allem junge und gut ausgebildete Menschen, die durch die wirtschaftlichen Umwälzungen im Osten bessere Karrierechancen und höhere Einkommen im Westen gesucht haben. Dieses Potenzial an Eliten fehlt Ostdeutschland offenbar bis heute.

*Zur Methodik: Die Datenerhebung betrachtet Elitepositionen in den gesellschaftlichen Bereichen Politik, Wirtschaft, Justiz, Wissenschaft und Medien sowohl in Ostdeutschland als auch auf Bundesebene. Berlin wurde auf ostdeutscher Ebene ausklammert, weil nicht klar zwischen West- und Ostteil unterschieden werden kann. In den wirkmächtigsten Einrichtungen der genannten Bereiche wurden die Inhaber von Führungspositionen betrachtet und deren Biografien die regionale Herkunft ermittelt. Eine ostdeutsche Herkunft ist immer schwieriger zu ermitteln, da es immer mehr Wohnortwechsel gibt. Hier werden Personen zu Ostdeutschen gezählt, die in der DDR geboren oder aufgewachsen sind oder, wenn nicht in der DDR geboren, dort bis 1990 den größten Teil ihres Lebens verbracht haben. Auch jüngere Menschen, die nach 1989 bis zum Erreichen des Erwachsenenalters den überwiegenden Teil ihres Lebens in Ostdeutschland verbracht haben, zählen hier zu den Menschen mit ostdeutscher Herkunft.

Michael Schönherr ist Co-Autor der Studie "Der lange Weg nach oben.  Wie es Ostdeutsche in die Eliten schaffen".

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 08. Juni 2022 | 19:30 Uhr