Gutachten zur Gebietsreform in Thüringen
Die Neuordnung Thüringens war ein zentrales Projekt der rot-rot-grünen Landesregierung. Bildrechte: MDR/Jan Bösche

Rückblick Gebietsreform und Verwaltungsreform in Thüringen

02. März 2022, 21:27 Uhr

In Thüringen leben immer weniger Menschen. Die rot-rot-grüne Landesregierung wollte mit einer Gebiets- und Verwaltungsreform darauf antworten. Doch der Kern des Projekts scheiterte. Das Wichtigste zum Nachlesen.

Was ist eine Gebietsreform?

Bei einer Gebiets- oder Kreisreform werden einzelne Landkreise oder kreisfreie Städte zu größeren Kreisen zusammengelegt. In der Vergangenheit wurde dieser Schritt vor allem in Kreisen mit wenigen Einwohnern oder schwindenden Einwohnerzahlen gegangen. Gebietsreformen gibt es oft da, wo mittelfristig mit sinkenden Einwohnerzahlen zu rechnen ist.

Deutschlandweit gibt es laut dem Deutschen Landkreistag fast 300 Landkreise. Die meisten davon haben zwischen 100.000 und 200.000 Einwohner. Hinzu kommen über 100 kreisfreie Städte, die teilweise deutlich mehr Einwohner haben.

In Thüringen wurden die Kreise 1994 reformiert. Dabei entstanden 17 Landkreise und sechs kreisfreie Städte. Im Vergleich mit Sachsen und Sachsen-Anhalt sind das sehr viele Kreise mit deutlich weniger Einwohnern. So hatte die kreisfreie Stadt Eisenach bis zu ihrer Eingliederung in den Wartburgkreis im Sommer 2021 nur rund 43.000 Einwohner. Mit Erfurt gibt es in Thüringen nur einen "Kreis" mit mehr als 200.000 Einwohnern.

Zu einer Gebietsreform gehört oft auch die Neustrukturierung von Gemeinden. Da viele Gemeinden zu klein sind oder schrumpfen, macht das Land Vorgaben: Die Gemeinden müssen sich mit anderen Gemeinden zusammenschließen oder in Städte eingliedern lassen.

Verwaltungsformen auf Staatsebene in Deutschland In der staatlichen Hierarchie sind Gemeinden die niedrigste Verwaltungsform, darüber kommen Kreise. Kreisfreie Städte sind zugleich Kreis und Gemeinde. Über den Kreisen stehen in den meisten Bundesländern Regierungs- oder Direktionsbezirke, außer in Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. In diesen drei Bundesländern wurde bei Eintritt ins Bundesgebiet 1990 auf die Einrichtung von Regierungsbezirken verzichtet. In Schleswig-Holstein und dem Saarland gab es nie Regierungsbezirke.
Über den Landkreisen stehen die Bundesländer, darüber der Bund. Die Stadtstaaten sind kreisfreie Städte, Regierungsbezirk und Bundesland in einem.

Warum gibt es in Thüringen eine Reform?

Die rot-rot-grüne Landesregierung wollte Thüringen neu strukturieren. Sie begründet die Reformpläne mit den sinkenden Einwohnerzahlen in Thüringen. 1990 lebten im Freistaat noch mehr als 2,6 Millionen Menschen, derzeit sind es knapp 2,2 Millionen. Bis zum Jahr 2030 soll die Einwohnerzahl unter die Zwei-Millionen-Marke fallen. Grundlage dieser Annahmen sind Berechnungen des Landesamtes für Statistik.

Weniger Menschen und ein höheres Durchschnittsalter der Bevölkerung bedeuten geringere Steuereinnahmen. Dazu kommen weniger Zuwendungen vom Bund und von der Europäischen Union. Die Gemeinden in Thüringen müssen also mit weniger Geld rechnen.

Eine Reform könnte ihnen helfen, mit den sinkenden Einnahmen umzugehen und den Geldbeutel des Landes zu schonen. Um leistungsfähig zu bleiben und von den Einwohnerzahlen auf einem ähnlich hohen Stand zu bleiben, hat Rot-Rot-Grün eine Reform auf den Weg gebracht. Sie besteht aus drei Teilen: der Gebietsreform und Gemeindereform, der Funktionalreform und der Verwaltungsreform.

Ein Mann in Anzug und Krawatte steht an einem Pult und spricht in ein Mikrofon. Er macht mit der rechten Hand eine Bewegung.
Holger Poppenhäger war von 2014 bis 2017 Thüringer Innenminister. Bildrechte: MDR/Karina Heßland

Welche Pläne verfolgte die Landesregierung bei der Gebietsreform?

Thüringens einstiger Innenminister Holger Poppenhäger (SPD) wollte die 17 Landkreise auf acht Kreise reduzieren. So sollten sich benachbarte Kreise zusammenschließen und einen neuen Landkreis bilden. Von den sechs kreisfreien Städten sollten Erfurt, Jena, Gera und Weimar kreisfrei bleiben. Das Modell basierte auf dem Vorschaltgesetz, das die Grundlage für die Gebietsreform bildete.

Das Gesetz legte fest, dass Landkreise künftig mindestens 130.000 Einwohner und höchstens 250.000 Einwohner haben dürfen. Außerdem darf ein Landkreis eine Fläche von 3.000 Quadratkilometern nicht überschreiten. Kreisfreie Städte sollen mindestens 100.000 Einwohner haben - in Thüringen trifft dies nur auf Erfurt und Jena zu. Die kreisfreien Städte Weimar und Gera leisteten jedoch erfolgreich Widerstand gegen die Pläne des Innenministeriums, sodass Poppenhäger auch ihnen die Kreisfreiheit in Aussicht stellte.

Kreisangehörige Gemeinden sollten künftig mindestens 6.000 Einwohner haben. Da viele Gemeinden zu klein sind, müssen sie sich mit anderen Gemeinden zusammenschließen oder in Städte eingliedern lassen. Die Gemeinden Thüringens hatten zunächst Zeit, freiwillige Lösungen für eine Auflösung, einen Zusammenschluss oder eine Eingliederung zu finden. Sollte dies nicht geschehen, wollte das Land Vorgaben machen.

Aussenansicht des Thüringer Innenministeriums
Das Thüringer Innenministerium in Erfurt Bildrechte: imago/Steve Bauerschmidt

Warum scheiterte die Kreisreform?

Kritik gegen die Gebietsreform gab es von Beginn an. Besonders das Vorschaltgesetz war den Gegnern ein Dorn im Auge. So stellte sich die Opposition im Landtag aus CDU und AfD von Anfang an gegen das Gesetz. Widerstand kam auch vom Gemeinde- und Städtebund und von Bürgerzusammenschlüssen. Aber auch einige kommunale Politiker mit Parteibüchern der Regierungsfraktionen wie Weimars damaliger Oberbürgermeister Stefan Wolf (SPD) oder einige Landräte stellten sich gegen die Reform in ihrer geplanten Form. Am Ende der Debatte meldete auch der Grüne Koalitionspartner immer mehr Zweifel an.

Die Kritiker bemängelten, dass die Reform über die Köpfe der Bürger, Gemeinden und Landkreise hinweg entschieden werde. Durch die Vergrößerung von Kreisen und Gemeinden werde ihnen ein Teil ihrer regionalen Identität genommen. Außerdem müssten Menschen längere Wege zu Behörden in Kauf nehmen. Die Distanz zwischen Politikern und Bürgern vergrößere sich zudem, worunter die Bürgernähe leide. Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt war, dass eine Kreisgebietsreform gar keine Einsparungen erbringe.

Die CDU-Fraktion im Landtag legte gegen das Vorschaltgesetz Verfassungsbeschwerde ein, der das Verfassungsgericht in Weimar stattgab. Allerdings wurde nicht der Inhalt des Gesetzes für nichtig erklärt. Vielmehr wurde ein formeller Fehler im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren bemängelt: Als das Gesetz verabschiedet wurde, war das Protokoll einer Anhörung der kommunalen Spitzenverbände im Juni 2016 im Innenausschuss des Landtages noch nicht veröffentlicht worden. Dies, so sagte es das Verfassungsgericht, wäre aber zwingend notwendig gewesen. Den Abgeordneten müssten alle Informationen zur Verfügung stehen, die sie brauchen, um zu einer Entscheidung zu gelangen.

Die rot-rot-grünen Koalitionäre schoben die Reform daraufhin zunächst auf. Als sich immer mehr kritische Stimmen auch aus den eigenen Reihen zu Wort meldeten, stoppten sie die Kreisreform schließlich im Dezember 2017. Damit kippte ein zentrales Projekt, das im Koalitionsvertrag festgeschrieben war.

Wie ging es mit der Gebietsreform weiter?

Die Koalitionsparteien versicherten, dass es eine Zwangsreform auch nach 2019 nicht geben werde. Stattdessen bauten sie auf eine engere Zusammenarbeit benachbarter Landkreise und auf Freiwilligkeit. Diese könnten laut Regierungschef Bodo Ramelow (Linke) etwa einen gemeinsamen Amtstierarzt beschäftigen und dadurch unnötige Ausgaben für Parallelstrukturen einsparen. Zum 1. Juli 2021 wurde die Stadt Eisenach in den Wartburgkreis eingegliedert und verlor ihre Kreisfreiheit.

Zudem setzt Thüringen nun auf freiwillige Gemeindezusammenschlüsse. Gemeinden, die sich dazu entschließen, sollen vom Land finanziell gefördert werden - und zwar mit 200 Euro pro Einwohner der jeweiligen Gemeinden. Das erste Gesetz zur freiwilligen Neugliederung von Gemeinden trat im Juli 2018 in Kraft. 13 freiwillige Zusammenschlüsse von 49 Kommunen waren dabei berücksichtigt.

Das zweite Gesetz trat Anfang 2019 in Kraft und betraf über 260 Gemeinden. Dabei zeigte sich Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) nachsichtig. Denn zahlreiche Kommunen erreichten nicht die angepeilte Mindestgröße von 6.000 Einwohnern. Die dritte Runde wurde vom Landtag im September 2019 beschlossen. Gemeindeneugliederungen traten zum 31. Dezember 2019, 1. Dezember 2020 sowie zum 1. Januar 2021 in Kraft. Weitere Gemeindeneugliederungen sind zum 1. Januar 2023 geplant.

Um was geht es bei der Funktionalreform und Verwaltungsreform?

Neben der Neugliederung von Gebieten plante die Landesregierung weitere Reformen. Zum einen sollten einige staatliche Aufgaben vom Land auf die Kommunen übertragen werden, um kreisfreie Städte und Landeskreise zu stärken. Ende 2016 verabschiedete der Landtag zunächst ein Grundsätzegesetz, auf Basis dessen geklärt werden sollte, welche Aufgaben künftig am besten vom Land oder von den Kommunen erledigt werden.

Zum anderen sollte die Verwaltung neu strukturiert werden. Rot-Rot-Grün strebte dazu einen zweistufigen Aufbau der Verwaltung mit Wegfall der Mittelbehörden an. Ende Dezember 2018 beschloss der Landtag das Verwaltungsreformgesetz, das Landesbehörden neu sortiert. Erklärtes Ziel: nicht nur Geld und Stellen einsparen, sondern die Verwaltung auch fit für die Zukunft und Digitalisierung machen.

Unterhalb des Umweltministeriums entstand aus mehreren Behörden das Landesamt für Umwelt, Bergbau und Naturschutz. Im Bereich des Infrastrukturministeriums entstanden drei neue Landesämter - unter anderem für den ländlichen Raum sowie für Bau und Verkehr. Dafür sollten 13 Behörden, Einrichtungen und Landesbetriebe aufgelöst werden. Unterhalb des Finanzministeriums gibt es ein neues Landesamt für Finanzen. Die Landesfinanzdirektion als Mittelbehörde wurde aufgelöst.

Wie ist ein Gebietsübertritt in Deutschland geregelt?

Gedankenspiel: Könnte ein Thüringer Landkreis eigentlich in ein anderes Bundesland wechseln? In Südthüringen gibt es immer wieder vereinzelt Stimmen, wie im Falle Sonnebergs, nach Bayern wechseln zu wollen. Die "Neugliederung des Bundesgebiets" ist in Artikel 29 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland geregelt. "Daraus ergeben sich drei Optionen für den Wechsel eines ganzen Kreises", erklärt der Staatsrechtler Professor Matthias Ruffert, der an der Universität Jena lehrt und Mitglied des Thüringer Verfassungsgerichtshofes ist.

Option 1, die in Absatz 7 festgeschrieben ist, scheide von vornherein aus, so Ruffert: Ein Staatsvertrag zwischen Thüringen und dem jeweiligen Nachbarland, der durch ein Bundesgesetz flankiert wird, das im Bundestag verabschiedet und vom Bundesrat bestätigt wird. Der Grund: Diese Variante ohne eine direkte Beteiligung der Wähler in beiden Ländern gilt nur für Gebiete mit weniger als 50.000 Einwohnern. Sowohl der Landkreis Eichsfeld als auch die Kreise Sonneberg und Hildburghausen sind derzeit deutlich einwohnerstärker.

Bleiben nur zwei Varianten, die jeweils Volksentscheide erfordern: Entweder erlässt der Bundestag ein Gesetz, das in den betroffenen Ländern jeweils zur Abstimmung gestellt wird. Ein Viertel der Wahlberechtigten zum Bundestag müsste abstimmen, damit das Referendum gültig ist - und vereinfacht gesprochen die Mehrheit für einen Gebietswechsel stimmen, damit der Kreis "rübermachen" kann.

Die andere Variante mit Volkes Stimme: Die betroffenen Landesregierungen schließen einen Staatsvertrag, bringen diesen in ihre Landtage ein - und lassen darüber auch noch den Bundestag abstimmen. "Der Bundestag dürfte darauf warten, sich damit zu befassen", frotzelt Staatsrechtler Ruffert.

Für den unwahrscheinlichen Fall, dass der Staatsvertrag all diese Hindernisse überwindet, sehen die Mütter und Väter des Grundgesetzes wiederum einen Volksentscheid vor. Immerhin lassen sie dafür eine Beschränkung auf die betroffenen Gebiete zu, sprich Landkreise. Es gilt wieder: Ein Viertel der Wahlberechtigten muss sich zur Urne bewegen, die Mehrheit zustimmen. Übrigens: Professor Ruffert glaubt, dass keine dieser Varianten jemals umgesetzt wird: "Wir haben wirklich andere Probleme."