Bilanz Rot-Rot-Grün und die Vergangenheit

11. Oktober 2019, 11:21 Uhr

Als Bodo Ramelow 2014 zum ersten linken Ministerpräsidenten gewählt wird, ist der Aufschrei groß. Wie ehrlich meint es die Linke mit der DDR-Aufarbeitung? Kann das Bündnis mit Grünen und SPD halten? Nach fünf Jahren ist Zeit für die Bilanz "Rot-Rot-Grün" in Thüringen.

Geht das Gespenst des Kommunismus wieder um in Thüringen? Dürfen die SED-Nachfolger in Deutschenland erstmals einen Ministerpräsident stellen? Zwar hat fast jeder dritte Thüringer Wähler bei der Linken sein Kreuz gemacht, trotzdem sagen Tausende Thüringer Nein und demonstrieren im Dezember 2014 gegen die Wahl von Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten und sein rot-rot-grünes Bündnis. Bürgerrechtler, Konservative und Sozialdemokraten stehen am Vorabend der Wahl mit Transparenten, Fahnen und Kerzen vereint vor dem Thüringer Landtag.

Der Geist von 1989 wird beschworen, auch wenn nicht alle R2G-Gegner - wie etwa die einstige Volksammer-Abgeordnete Marion Walsmann - vor 1989 zu den SED-Gegnern gehörten. Thüringer Professoren und Politiker haben einen "Gewissensappell" unterschrieben: "Die Linke drängt zur Macht. Sie will die totale gesellschaftliche Wende", warnen sie. Zu den Unterzeichnern gehört auch SPD-Urgestein Gerd Schuchardt. Träger des Landesverdienstordens melden sich per Zeitungsanzeige: "SED-Staat in der Mitte Deutschlands?" Und für Wolf Biermann ist klar: "Die fatale Liaison der SPD mit dieser reaktionären Partei Die Linken ist ein schändlicher Frevel gegenüber der eigenen Geschichte".

Bodo Ramelow - der erste Linke-Ministerpräsident Deutschlands

Ganz Deutschland blickt in diesen Stunden nach Thüringen. Der Freistaat ist gespalten. In den Wochen zuvor wurde die Koalition zwischen Linke, SPD und Grünen intensiv debattiert. Wie ehrlich meint es die Linke mit der DDR-Aufarbeitung? Und gelingt es den Juniorpartnern SPD und Grünen, die Linke einzuhegen? Wie glaubwürdig ist das Bündnis? Sind in der Linken-Fraktion nicht tatsächlich viele Funktionsträger der SED und der DDR: ehemalige SED-Funktionäre, ehemalige DDR-Offiziere, ehemalige SED-Journalisten? Sogar Ex-Stasi-Spitzel sitzen für die Partei im Landtag. Auch innerhalb der Linken ist das Bündnis nicht unumstritten. Sind die Erfurter Genossen der PDL, so nennen die linken Kritiker der Linken die "Partei die Linke", nicht vor dem Zeitgeist eingeknickt? Wird um der Macht Willen die eigene DDR-Geschichte verraten?

Am 5. Dezember ist es soweit. Der Koalitionsvertrag ist unterschrieben, die Wahl des Ministerpräsidenten steht auf der Tagesordnung des Landtagtages. "Skandal-Wahl in Thüringen" titelt am Morgen noch die "Bild"-Zeitung. Sie spricht von einem "Schicksalstag für Thüringen und Deutschland". Und: "Habt Ihr diese Toten schon vergessen?" fragt das Blatt SPD und Grüne. Dazu zeigt "Bild" die Porträts von sieben Grenztoten. Der vorabendliche Protest und die Zeitungen-Kampagne nützen nichts. Im zweiten Wahlgang wird Ramelow gewählt. Seine Regierung steht. Der Westdeutsche ist der erste Linke-Ministerpräsident Deutschlands.

Die Aufarbeitungsbeauftrage Babette Winter

Im Koalitionsvertrag steht: Die DDR war eine Diktatur und ein Unrechtsstaat. Dass das so im Koalitionsvertrag steht, ist nicht selbstverständlich. Für die meisten Linken-Genossen ist und bleibt der Begriff "Unrechtsstaat DDR" ein Kampfbegriff. All die Jahre seit der friedlichen Revolution ist es der PDS und der Linke schwer gefallen, die DDR als SED-Diktatur und als Unrechtsstaat zu bezeichnen. Auch nach vier Jahren Koalition hat sich da nicht viel geändert. Erst im August 2019 fragt Ramelow seine Kritiker: "Den Rechtsbegriff 'Unrechtsstaat' hat der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer für die Ausschwitz Prozesse geprägt. Wollen Sie das wirklich gleichsetzen?" Gleichwohl gibt Ramelow zu, dass in der DDR viel Unrecht geschehen sei.

Die Thüringer Staatskanzlei setzt eine Aufarbeitungsbeauftragte ein: Die SPD-Staatssekretärin Babette Winter. Die westdeutsche Chemikerin hat allerdings wenig Ahnung von der Materie. Anfang 2016 behauptet sie in einem Interview, dass der Inhalt der SED-Akten in den Thüringer Staatsarchiven noch nicht gehoben sei - obwohl seit Jahren Forscher damit arbeiten. Wenig später behauptet sie, dass die Diskriminierung von Christen im SED-Staat kein Schwerpunkt der Aufarbeitung sei - ihr seien nur sieben Fälle bekannt. Christen stellten keine herausgehobene Opfergruppe dar. Dies wird von den Kirchen heftig kritisiert.

Vielleicht hätte sich Winter bei der Landeszentrale für politische Bildung, die ebenfalls in der Staatskanzlei angesiedelt ist, informieren sollen? Der Staatskanzleiminister muss schließlich öffentlich zurückrudern. Ohnehin fragt man sich, was die Aufarbeitungsbeauftragte, die in der Staatskanzlei angesiedelt ist, vom Landesbeauftragen, der beim Landtag angesiedelt ist, unterscheidet. Zielgruppen und Aufgabenfelder sind ziemlich identisch. Viele offizielle Kontakte zwischen Winter dem einstigen Landesbeauftragten Christian Dietrich soll es nicht gegeben haben.

Aufarbeitung des "Unrechtsstaats DDR"

Die Staatskanzlei startet medienwirksam zwei sehr spezielle Aufarbeitungsprojekte: In beiden Fällen geht es um ungeklärte Todesfälle zu DDR-Zeiten: Wurde der DDR-Dissident Matthias Domaschk in der Stasi-Haft umgebracht? Oder beging er Selbstmord? Und wie kam der DDR-Grenzer Hans-Jürgen Neuber zu Tode? Ein Selbstmord? Oder steckt mehr hinter dem Todesfall? Natürlich sind Ermittlungen nach einem ungeklärten Todesfall wichtig, vor allem für die Angehörigen. Letztendlich können zu beiden Fällen keine Ergebnisse vorgelegt werden, die den bisherigen Wissenstand erschüttern. Die Verantwortlichen von damals leben nicht mehr oder schweigen weiter. Für Ramelow steht aber fest: "Das Ergebnis der Arbeitsgruppe ‚Tod von Matthias Domaschk‘ ist ein Beispiel für die konsequente Aufarbeitung der Alltagsdiktatur der DDR durch die Regierungskoalition".

Stele für den vor 30 Jahren in Stasi-Haft gestorbenen Matthias Domaschk an seinem Ehrengrab auf dem Nordfriedhof in Jena (Thüringen) am 09.04.2011.
Stele für den vor 30 Jahren in Stasi-Haft gestorbenen Matthias Domaschk. Bildrechte: imago/epd

Allerdings ist zu fragen, ob die beiden Fälle nicht eher Symbolpolitik als systematische Aufarbeitung der "Alltagsdiktatur" sind. Tatsächlich täuschen die beiden Einzelfälle über eines hinweg: Sollten sich Schuldige für einen Mord oder Totschlag finden, dann sind es ehemalige Stasi-Mitarbeiter oder DDR-Grenzer. Auf die SED aber fällt kein Schatten. Es sind also für die skeptische Linke unverfängliche Fälle. Eine systematische Aufarbeitung der Rolle der SED in den Thüringer Bezirken, ihre Vernetzung mit der Staatssicherheit und der Volkspolizei, ihre Rolle im Blockparteiensystem, ihre Kaderpolitik in Schulen, Universitäten, Betrieben, die Rolle der SED im Justizsystem - all diese heiklen Fragen arbeitet die Linke bzw. die Aufarbeitungsbeauftragte nicht auf. Die Partei entzieht sich damit ihrer Geschichte und ihrer Verantwortung. Gerade am Beispiel der Repressalien gegen Christen in der DDR könnte sehr deutlich werden, welche Rolle SED-treue Lehrer, Funktionäre, Journalisten und Politiker im DDR-Alltag gespielt haben - unabhängig von der Staatssicherheit.

Gleichwohl hat sich die Landesregierung in vielfältiger Weise mit dem Thema Aufarbeitung und Opferhilfe auseinandersetzt und regelmäßig dazu Berichte vorgelegt. Unter anderem startete Thüringen Bundesratsinitiativen, um die soziale Lager von einst politisch Verfolgten zu verbessern. Unteranderem drängte der Freistaat auf eine Entfristung des SEd-Unrechtsbereinigungsgesetzes.

CDU lässt Parteigeschichte aufarbeiten

Dagegen geht die CDU einen anderen Weg bei der Aufarbeitung. Sie lässt von einem externen Forscher ihre Partei-Geschichte zwischen Kriegsende und Wiedervereinigung aufarbeiten. Hier geht es wirklich um Parteigeschichte, um Strukturen und Funktionen der Partei in einer Diktatur. Die vollständige Studie lässt dann aber stellenweise doch zu wünschen übrig. Auf teilweiser schmaler Quellenbasis werden heikle Punkte umschifft und gerade die Verstrickung von CDU-Funktionären mit der Staatssicherheit nicht tatsächlich aufgearbeitet. Hier hat die CDU zwar einen hohen Anspruch an sich selbst erhoben, aber letztendlich nicht vollständig eingelöst.

Fazit: Regierung und Opposition bewerten den Stand der Aufarbeitung in Thüringen völlig unterschiedlich. Die vereinbarte Weiterbildung der Lehrer zum Thema SED-Unrecht läuft erst jetzt allmählich an, gibt die Linke zu. Aber wichtige Rehabilitierungsgesetze seien entfristet worden. Dagegen wirft die CDU der Linken vor, sich weiter aus der Verantwortung für SED-Unrecht zu stehlen. Kurzum: Bodo Ramelow hat das Thema SED-Unrecht geschickt genutzt und ist es pragmatisch angegangen. Untätigkeit kann seiner Regierung nicht vorgeworfen werden. Unverfängliche Projekte wurden angegangen - die heiklen Fragen wurden gleichzeitig ausgeklammert. Die eigene Parteibasis wurde nicht vor den Kopf gestoßen Aber der "SED-Staat" ist auch nicht zurückgekehrt.

Quelle: MDR THÜRINGEN

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