3. Juni 2020 in Weimar
Martin Kohlstedt lebt und arbeitet in Weimar. Bildrechte: MDR / Andreas Kehrer

Thüringer Musikradar Martin Kohlstedt: Der musikalische Astronaut aus dem Eichsfeld

21. Juni 2020, 05:00 Uhr

Martin Kohlstedt hat ein Kunststück vollbracht. Mit seiner Instrumentalmusik begeistert der Pianist ein breites Publikum zwischen Hochkultur und Clubszene. Er bringt die Klassik in Hinterhofclubs und elektronische Musik in die renommiertesten Konzerthäuser des Landes.

Im Dezember 2017, wenige Tage vor Weihnachten, steht ein bis in die Zehenspitzen angespannter junger Mann hinter einem roten Vorhang. Eine Bühnenuhr läuft runter. Noch dreißig Sekunden. Der Raum hinter der Bühne ist abgedunkelt. Für diese dreißig Sekunden ist Martin Kohlstedt mit sich und seiner Nervosität allein.

Dann geht der Vorhang und wie fremdgesteuert setzen sich seine Füße in Bewegung. Jeder Schritt hallt durch den großen Saal der Elbphilharmonie – jenes Hamburger Konzerthaus, das so gebaut ist, dass jeder Ton und jedes Geräusch unverfälscht und pur wirken kann.

Elbphilharmonie Hamburg - Decke im Großen Saal
Der Große Saal der Elbphilharmonie: von der Decke hängt der mondrunde Klangreflektor. Bildrechte: Michael Zapf

Als Kohlstedt ins Licht tritt, schwillt Applaus auf den Zuschauerterrassen an. Die Knie werden ihm weich, doch irgendwie schafft er es in die Mitte des Saals, unter den großen Klangreflektor, der wie ein künstlicher Mond über der Bühne schwebt. Dort ist die rettende Insel; ein Klavier, ein Keyboard, die Synthesizer und ein kleiner Drehstuhl. Etwas hölzern verbeugt er sich, dann setzt er sich ans Klavier und der Saal wird ganz und gar still.

Klassik trifft Moderne

Heute ist Martin Kohlstedt einer der herausragenden Musiker Thüringens, der als Pianist Tourneen und internationale Konzerte spielt. Das Feuilleton feiert den 32-Jährigen als den Komponisten, der die Klassik in die Moderne übersetzt. In seinen Instrumentalstücken fließt das Klavier mit elektronischen Sounds ineinander. Musikkritiker verorten ihn deshalb in den Genres "Neoklassik" oder "Klassikrave". Er selbst sagt, ihm gehe es um die Reibung zwischen dem organischen und dem artifiziellen Klang.  

Kohlstedt macht Musik, die von der herkömmlichen Pop- und Rockmusik so weit entfernt ist, wie die Erde vom Mond. Er schreibt keine radiokompatiblen Dreiminuten-Lieder. Er komponiert Themen, die diffuse Stimmungen beschreiben. Rund 30 dieser Melodie-Themen hat Kohlstedt zu "Modulen" ausgearbeitet. Bei Konzerten setzt er die Module wie Legosteine zu einem Klanggebäude zusammen. Jedes Thema wird beständig neu interpretiert, es verändert sich mit jedem Auftritt. Weil die Themen nie abgeschlossen sind, bekommen sie auch keine Titel, sondern Codes. Auf dem Plattencover seines letzten Albums "Ströme", welches er gemeinsam mit dem Leipziger Gewandhaus-Chor aufgenommen hat, heißen die Themen zum Beispiel "TARLEH" oder "KSYCHA". Was das bedeutet, muss jeder Hörer mit sich selbst ausmachen, denn darum geht es:

Es ist Instrumentalmusik und das ist etwas anderes, als wenn jemand über das Leben und die Liebe singt, man die Texte gut findet und sich damit identifizieren kann. In meiner Musik kommen die Leute mit sich selbst in Kontakt. Sie nutzen sie als Spiegel.

Martin Kohlstedt

3. Juni 2020 in Weimar
Versunken in die Musik: Martin Kohlstedt in seiner Weimarer Wohnung am Klavier. Bildrechte: MDR / Andreas Kehrer

Kindheit im Eichsfeld

Kohlstedt wächst in der 3.200-Seelen-Gemeinde Breitenworbis im Eichsfeld auf. Ein kleiner Soziokosmos in dem eine ländliche Bodenständigkeit, mit ostdeutscher Arbeitsethik und erzkatholischem Glauben verschmelzen. Leistung und Tradition sind Werte, die hier etwas gelten. Musik hingegen ist nur ein Beiwerk: Singen in der Kirche, Gitarre am Lagerfeuer oder Flöte spielen vor dem Weihnachtsbaum.

Gerade im leistungsgeprägten Eichsfeld ist Musiker sein, so was wie Astronaut zu sein. Lieber was Vernünftiges machen - das kriegt man eingetrichtert; von Großeltern, Tanten, Onkeln und der ganzen Familie.

Martin Kohlstedt

Kohlstedt kommt schon früh mit Musik in Berührung. Sein Vater und sein Bruder spielen Gitarre und er probiert sich gern am Piano im Wohnzimmer aus, während die Mutter daneben am Bügeleisen die Wäsche fertig macht. Er klimpert herum, sucht Melodien und wiederholt diese fast meditativ. Am Piano kommt er zur Ruhe.

    

Weimarer Bauhaus und Erfurter Zughafen

Mit dreizehn Jahren wechselt Martin Kohlstedt an die Musikschule in Leinefelde, wo er nach fünf Jahren als Autodidakt am Piano, zum ersten Mal auch eine theoretische Musikausbildung erhält. Am Jazzpiano macht er seinen Oberstufenabschluss und geht nach Weimar, um an der Bauhaus Universität Medienkunst zu studieren. Ausgerechnet Weimar möchte man sagen - die Stadt, die wie keine andere Klassik und Moderne zusammenbringt und dadurch sinnbildlich für Kohlstedts Musik steht.

Neben seinem Studium widmet sich Kohlstedt in Weimar wechselnden musikalischen Projekten. Bald wird der Zughafen in Erfurt auf das Hip Hop-Projekt "The Awesome Soundsytem" aufmerksam und lädt Martin samt Band ein, Teil der Musikerkommune zu werden. In diesem musikalischen Umfeld probiert er sich aus und experimentiert mit Stilen. Immer wieder zieht es ihn aber zum klassischen Klavier zurück.

Bald stellen sich auch Erfolge ein: Mit Filmmusiken verdient er das erste Geld und träumt von einem Leben als Musiker. Als "erster Eigenversuch" produziert er 2012 das Album "Tag", das die Initialzündung seiner Solokarriere ist. Zum Leidwesen seiner Familie bricht er das Studium ab, um voll und ganz in die Musik einzutauchen. Mit Freunden gründet er das Label "Edition Kohlstedt", über das er seine Musik selbst vertreibt. Von da an gibt es für nur noch eine Richtung: weiter, immer weiter.

Im Tunnel  

Kohlstedts Musik zieht die Menschen in den Bann - auch weil sie live ein Erlebnis ist. Zwischen Piano, Keyboard, Synthesizern und Loopmaschinen spielt er sich regelmäßig in Rauschzustände. Der Mund steht ihm offen und mit jedem Ton verändert sich sein Gesichtsausdruck. Seine Hände schweifen suchend umher, sie sind überall und nirgends zugleich, gerade noch sitzt er zusammengesunken in inniger Umarmung der Tasten, schon springt er auf, um für den nächsten Ton, stehend den richtigen Anschlag zu finden.  

Kohlstedt begibt sich mit jedem Konzert in einen Tunnel. Maximale Konzentration auf die Gefühle, die ihnen durchströmen und denen er einen musikalischen Ausdruck verleiht. Manche beschreiben seine Auftritte als Improvisationskunst, doch Kohlstedt nennt es „intuitives Laufenlassen am Klavier“.  

Die Hände können die Dinge allein machen. […] Sobald ich in die Instrumente eintauche, wird alles nebensächlich und ich werde wieder zum Kind, das früher am Klavier spielte, während Mutti nebenher gebügelt hat.

Martin Kohlstedt

Hamburger Elbphilharmonie, 2017

Endlich am Klavier fällt die Anspannung von ihm ab. Der Konzertsaals der Elbphilharmonie verschwindet hinter den Instrumenten. Dann schlägt eine elektrische Bassdrum in die absolute Stille. Eine Klaviermelodie tänzelt suchend durch den Raum, dann setzt ein Beat ein, über dem sich ein elektronischer Klangteppich ausbreitet, ehe das Klavier das Geschehen an sich reißt und den Sound in immer höhere Sphären trägt. Unter dem künstlichen Mond, der eigentlich ein Klangreflektor ist, sitzt der Eichsfelder Astronaut Martin Kohlstedt.

In der ausverkauften Elbphilharmonie ist im Dezember 2017 auch seine gesamte Familie zu Gast: Geschwister, Onkel, Tanten, sogar die Großeltern. Sie alle sind aus dem Eichsfeld angereist und haben in diesem atemberaubenden Hamburger Konzerthaus Platz genommen, um ihren Martin zu sehen. Die von Fernsehsendern begleitete Show wird zu einem Triumphzug, der auch die letzten Zweifler in der Familie Kohlstedt überzeugt: Musiker - das ist scheinbar doch ein richtiger Beruf.

In der Elbphilharmonie haben es alle begriffen. Aber mein Opa kam nach dem Auftritt zu mir und sagte: „Martin, das ist alles schön und gut, aber kreativ bleiben, das ist das Schwierige!"

Martin Kohlstedt

Quelle: MDR THÜRINGEN/ask

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