Thüringer Mediengeschichte Radio F.R.E.I. feiert Geburtstag: Ein Blick auf 30 Jahre Bürgermedien in Thüringen

06. Oktober 2020, 05:00 Uhr

Der Freie Rundfunk Erfurt International - kurz Radio F.R.E.I. - feiert am Dienstag seinen 30. Geburtstag. Die Geschichte des ehemaligen Piratenradios ist ein Beispiel für die kreative Anarchie in der Wendezeit.

Wer verstehen möchte, was den Charme von Bürgerradios ausmacht, muss sich nur die erste Minute anhören, die Radio F.R.E.I. am 6. Oktober 1990 gegen 16 Uhr auf 100,5 MHz in den Äther schickte: Als ein Jingle falsch abgespielt wird, sagt die Moderatorin bei offenem Mikrofon mehr zu sich selbst als zum Zuhörer, "Es klappt hier alles nicht so richtig mit der Technik", nur um die Situation mit einem selbstbewussten "Macht nichts!" doch noch irgendwie zu retten.

Bürgerradios werden von Amateuren betrieben, von Menschen also, die etwas aus Liebe machen und denen es nicht auf Perfektion ankommt. In Thüringen gibt es heute sechs Bürgerradios, die als offener Kanal oder Freies Radio ein Rundfunkprogramm ausstrahlen, das in ehrenamtlicher Arbeit von Hunderten Radioenthusiasten gemacht wird. Sie bieten eine Alternative zu privaten und öffentlich-rechtlichen Medienanbietern und verstehen sich selbst als dritte Säule der Medienlandschaft. In Thüringen ist diese dritte Säule im Vergleich zu anderen Bundesländern besonders stark und das hat maßgeblich mit Radio F.R.E.I. zu tun.

Das Radio als Sprachrohr in einer turbulenten Zeit

Die erste Sendung von Radio F.R.E.I. am 6. Oktober 1990 live aus dem Erfurter Interclub vor rund 200 Gästen war ein voller Erfolg und sie war ein Fanal. Kurz nach der Wiedervereinigung und wenige Tage vor der ersten Landtagswahl in Thüringen mischte sich plötzlich eine Gruppe junger Menschen als Schwarzfunker in die gesellschaftliche Debatte ein. Die Absichten dieser Radiorebellen beschrieb die ehemalige FDJ-Zeitung "Junge Welt" damals sehr treffend:

Wählen und Klappe halten, das kann’s nicht gewesen sein mit der Demokratie […] Man möchte sich weiter einmischen, einfach ständig dran bleiben am Geschehen, vielleicht mit einem eigenen Radio?

"Junge Welt" vom 12. Oktober 1990

"Wir glaubten damals daran, dass wir etwas verändern können", erinnert sich Steffen Müller, der damals einer dieser Rebellen war. Die neu erworbene Reisefreiheit nutzte der ehemalige NVA-Funker zusammen mit ein paar Freunden für eine Fahrt nach Südfrankreich. Ein Besuch beim freien Radio Zinzine in Limans öffnete den Freunden die Augen: ein eigenes Radio in Erfurt, das wär‘s! Müller, der damals gerade 23 war, stand ohnehin - wie fast alle Ostdeutschen - vor einer unsicheren Zukunft. Sein begonnenes Studium als Elektro-Ingenieur galt im Westen nichts, also hatte er Zeit, sich voll auf das Radioprojekt zu stürzen.

Wir waren eine Gruppe Idealisten, die die DDR kritisiert hatte und die auch die Wiedervereinigung infrage stellte. Wir haben das als einen Anschluss empfunden, weil nicht ernsthaft über eine neue Verfassung  verhandelt wurde - und im Radio konnten wir das sagen.

Steffen Müller

Ein Piratensender spielt Katz und Maus mit der Polizei

Nach den ersten erfolgreichen Sendungen waren die jungen Radiomacher motiviert weiterzumachen, auch wenn ihnen die Politik das Leben schwer machte. Die Gründung eines gemeinnützigen Vereins wurde vom Kreisgericht abgelehnt, weil sich das Gericht nicht vorstellen konnte, dass ein Radiosender keine wirtschaftlichen Interessen verfolgen könnte. Der Thüringer Medienrat verweigerte die Sendeerlaubnis und erklärte, dass es "spätestens in drei Jahren ein neues Mediengesetz geben würde und dann könnte man über ein Bürgerradio nachdenken" (TLZ vom 9. Oktober 1990).

Für die Radiorebellen waren drei Jahre Warten keine Option. "Es war uns damals egal, was wir senden, es ging nur darum, dass wir senden. Eine Antenne aufs Dach und schwarz gesendet - so war das damals", erinnert sich Steffen Müller. Es war die wilde Zeit von Radio F.R.E.I.: ohne Lizenz, ohne festes Studio und in ständiger Gefahr aufzufliegen. Die Polizei fuhr mit dem Peil-Wagen durch die Straßen und versuchte, den Sender zu orten, während treue Hörer anriefen und die Radiopiraten warnten. Ein Katz- und Maus-Spiel, das im Frühjahr 1991 ein jähes Ende fand: Bei einer Razzia beschlagnahmte die Polizei das Equipment und nahm mehrere Radiomacher fest. Dann war Funkstille.

Lobbyarbeit und die Geburtsstunde der Bürgermedien

"Das Problem von Radio F.R.E.I. war damals das Thüringer Landesmediengesetz von 1991", erinnert sich Jochen Fasco, der seit 2007 Direktor der Thüringer Landesmedienanstalt ist und den Werdegang der Bürgermedien in Thüringen begleitet hat. "Das Mediengesetz hatte Thüringen nämlich von Hessen übernommen und das war sehr restriktiv."

Auch das war eine Folge der eiligen Wiedervereinigung: Weil die neuen Bundesländer schnell neue Verfassungen und Gesetzestexte brauchten, die mit den Bundesgesetzen kompatibel waren, behalfen sich die zuständigen Behörden mit "copy & paste". Es musste so schnell gehen, dass "im ersten Entwurf des Thüringer Landesmediengesetzes noch an einigen Stellen das Wort 'Hessen' gestanden haben soll", berichtet Fasco, der selbst erst 1993 nach Thüringen kam und diese Anekdote nur vom Hörensagen kennt.

Bei Radio F.R.E.I. blieb in dieser Zeit ein harter Kern der Radiomacher unnachgiebig. Statt weiter schwarz zu senden, überlegten sie sich eine neue Strategie: die Politik zu nerven, bis sie nachgeben würden. Sie verlegten eine kleine Lokalzeitung, den "F.R.E.I.Brief", organisierten Veranstaltungen und bearbeiteten mit ihrer Forderung nach einem Bürgerradio die Politiker. Mit Erfolg: 1996 wurde ein neues Thüringer Mediengesetz beschlossen, das Bürgermedien in ganz Thüringen möglich machte. Radio Frei ging wieder auf Sendung. Zugleich war es die Geburtsstunde der Offenen Kanäle in Gera (heute Medienbildungszentrum), Jena (OkJ) und Erfurt (Funkwerk, heute Medienbildungszentrum) sowie des freien Radios in Weimar (Radio Lotte).  Später folgten die Offenen Kanäle im Eichsfeld (bis 2015), in Saalfeld-Rudolstadt (Radio SRB), Eisenach (Wartburgradio) und Nordhausen (heute Radio Enno).   

Die besondere Medienlandschaft im Freistaat, wird geprägt von einigen Tausend Radiomachern und da gehören die von Radio Frei besonders erwähnt, weil sie ganz früh dabei waren und weil sie hartnäckig und unbequem waren.

Jochen Fasco Direktor der Thüringer Landesmedienanstalt

Erstes Studio. Frau im Studio vor Mikrofon.
1999: Studio in der Magdeburger Allee. Bildrechte: MDR/Radio F.R.E.I.

Die Gesellschaftliche Bedeutung von Bürgermedien

Heute beneiden andere Bundesländer Thüringen um seine Bürgermedien. Offene Kanäle gibt es in Bayern, Baden Württemberg und Sachsen zum Beispiel gar keine mehr und freie Radios sehnen sich bundesweit nach einer Ausstattung und Geschäftsräumen wie sie Radio F.R.E.I. vorweisen kann. Finanziert werden die Bürgermedien in Thüringen übrigens über die Rundfunkgebühren. Jedes Bürgerradio in Thüringen erhält eine jährliche Förderung von rund 120.000 Euro von der Thüringer Landesmedienanstalt. Diese übernimmt auch die Kosten für die Ukw-Frequenzen, die sich jährlich auf 115.000 Euro belaufen.

Einer Studie der Landesmedienanstalt zufolge haben die Thüringer Bürgerradios eine potenzielle Hörerschaft von etwa 380.000 Menschen, von denen jeder zehnte die Programme fast täglich einschaltet. Wichtiger als die Einschaltquoten ist jedoch der Wert der Radios als Ort der Begegnung und Teilhabe. Bürgermedien sind zugangsoffen, sie vermitteln neben lokalen Informationen Medienkompetenz und bieten vielen Menschen die Möglichkeit, sich mit einer eigenen Radiosendung selbst zu verwirklichen. Für Jochen Fasco wirken sie weit in die Stadtgesellschaft hinein: "Jede Kommune, die ein Bürgerradio hat, darf sich glücklich schätzen, es sind Edelsteine der Demokratie."

Ist Radio Frei links?

Marie Baumann weiß sehr genau, was Jochen Fasco damit meint. Die 34-Jährige ist seit 2003 bei Radio F.R.E.I. aktiv. Als Programmkoordinatorin ist sie hauptamtlich für den Verein tätig und moderiert nebenher verschiedene Sendungen. Für sie ist Radio F.R.E.I. eine Alternative und Ergänzung zu anderen Medien, denn hier kämen Menschen zu Wort, die es in andere Medien nicht schaffen würden. Hier gibt es Redaktionen für Kinder, für Senioren, eine Frauenredaktion, eine Studentenredaktion, eine Sendung von Russlanddeutschen oder auch ein Magazin von und für Geflüchtete, das gerade erst mit dem "Leuchturm 2020"-Preis für sein herausragendes Engagement ausgezeichnet wurde.

Im Vergleich zu seiner Anfangszeit als Piratensender hat es Radio Frei weit gebracht. Heute sendet der Lokalsender auf einer Vollfrequenz, hat an seinem Stammsitz nahe der Krämerbrücke mehrere Studios und Veranstaltungsräume und hat sich eine feste Struktur mit mehr als 170 ehrenamtlichen Programmmachern aufgebaut. Das Radio versteht sich als ein Sprachrohr für demokratische und humanistische Werte. Der Lokale Aktionsplan gegen Rechts ist in den Räumen von Radio F.R.E.I. angesiedelt, das Radio beteiligt sich an Gegendemos, wenn Rechtsextremisten in Erfurt marschieren und im Programm wird großer Wert auf diskriminierungsfreie Sprache gelegt. Ist Radio Frei also ein linkes Radio?

Ich würde nicht sagen, dass es ein linkes Radio ist, sondern ein emanzipatives und kritisches Radio. Wenn links bedeutet, dass wir Rassisten hier nicht reinlassen, wenn das heißt, wir sind links - ja dann auf jeden Fall. Ich empfinde das aber nicht als links, sondern als demokratischen Grundkonsens.

Marie Baumann

"Ein Leben ohne das Radio kann ich mir nicht vorstellen"

Marie Baumann (34) und Steffen Müller (53) haben bereits mehr als ihr halbes Leben dem Bürgerradio gewidmet und haben nicht vor, etwas daran zu ändern. "Ich habe hier meine ganze Erwachsenenzeit verbracht. Radio Frei hat mich geprägt und ein Leben ohne das Radio kann ich mir nicht vorstellen", sagt Baumann.

Steffen Müller nickt zustimmend: "Wenn ich das jetzt alles so Revue passieren lasse - die letzten 30 Jahre - dann bin ich schon stolz darauf.  Wir haben uns damals mit viel Idealismus einen medialen Raum erobert und sind heute ein Radio, das zumindest für die Stadt eine große Bedeutung hat."

Transparenzhinweis der Redaktion: Autor Andreas Kehrer ist freier Mitarbeiter bei MDR THÜRINGEN und seit 2014 in unregelmäßigen Abständen als ehrenamtlicher Programmgestalter bei Radio Frei tätig.

Quelle: MDR THÜRINGEN

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 06. Oktober 2020 | 05:00 Uhr

1 Kommentar

Stefan Der am 06.10.2020

Danke, dass es euch gibt! Ich höre täglich Radio Lotte (Weimar) und wenn ich in Erfurt unterwegs bin, natürlich F.R.E.I.
Ohne euch wäre es viel langweiliger im Äther.

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