Bürgergutachten zu Gebietsreform in Thüringen Gut gedacht - aber schlecht gemacht

26. September 2016, 05:00 Uhr

"Bürgergutachten" gelten als probates Mittel gegen politischen Verdruss. Thüringen ist gerade dabei, diesen guten Ruf zu verspielen. Bis dahin, dass bei der Projekt-Vergabe offenbar gegen Gesetze verstoßen wurde.

Dem Thüringer Innenministerium droht mit dem angekündigten so genannten Bürgergutachten zur Gebietsreform eine Schlappe. Nach Informationen von MDR THÜRINGEN ist noch offen, ob die angestrebte Anzahl von berufstätigen Teilnehmern gefunden wird. Sie müssten für die geplanten Treffen eigenen Urlaub beantragen. Denn bisher hat das Bildungsministerium das Projekt noch nicht als Bildungsurlaub anerkannt.

Aktuell werden in Nord-, Ost- , Mittel- und Südwestthüringen insgesamt 96 Bürger gesucht, die ab Ende Oktober in den so genannten Planungszellen ihr Wissen, ihre Erfahrungen und Ideen einbringen sollen. Die potenziellen Teilnehmer ab 16 Jahre wurden per Zufallsgenerator unter den Einwohnern von kleineren Kommunen ausgewählt. Die ausgelosten Dörfer und kleineren Orte sind Schmölln, Kahla, Saalburg-Ebersdorf und Rückersdorf (Ostthüringen), Sondershausen, Sonnenstein, Schlotheim und Oberheldrungen (Nord), Sömmerda, Blankenhain, Tambach-Dietharz und Sonneborn (Mitte), sowie Sonneberg, Römhild, Kaltennordheim und Gompertshausen (Südwest).

Die Bürger sollen jeweils drei Tage gemeinsam diskutieren. Dafür gibt es neben freier Kost und Logis auch eine Aufwandsentschädigung aus der Landeskasse. Die Ergebnisse und Empfehlungen sollen Ende November im Bürgergutachten zusammengefasst werden. Als Übergabetermin des Gutachtens an die Landesregierung hat das Innenministerium jetzt als frühesten Termin Februar 2017 genannt. Das ist ein Monat später als ursprünglich anvisiert.

Bei Gemeindegrenzen Bürger nicht mehr gefragt

Nach MDR-Informationen wird das Gutachten allerdings inhaltlich deutlich abgespeckt. Die ausgewählten Bürger sollen sich auf die Verwaltungsstrukturen konzentrieren. Grund ist das so genannte Vorschaltgesetz, das im Juli vom Thüringer Landtag verabschiedet wurde und künftige Gemeindegrößen schon vorgibt. Die Ansichten der Bürger haben deshalb keinen Einfluss mehr. Das Innenministerium erklärte dazu auf Anfrage, bei den Treffen gehe es "um eine bürgerfreundliche Verwaltung im ländlichen Raum, die Daseinsvorsorge, das Ehrenamt und die Identität in den neuen Strukturen". Damit sieht das Ministerium nach eigenen Angaben auch Fragen der Gebietsreform erfasst.

Vergabe an renommiertes Institut verstößt gegen Richtlinien

Das Bürgergutachten wird vom Berliner Unternehmen "NEXUS Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung" organisiert und begleitet. Das Institut hat sich einen Namen gemacht unter anderem bei der Verwaltungs- und Gebietsreform in Rheinland-Pfalz im Jahr 2009. Nach Informationen von MDR THÜRINGEN wurde das Institut in der Woche vom 4. bis 8. Juli vom Innenministerium mit dem Projekt beauftragt, ohne dass es eine öffentliche Ausschreibung gab. Damit verstößt die Vergabe gegen gesetzliche Regelungen. Denn die Obergrenze für die freie Vergabe von Dienstleistungsaufträgen liegt bei 20.000 Euro, für eine so genannte beschränkte Ausschreibung bei 50.000 Euro. Innenminister Holger Poppenhäger hatte bereits im Frühjahr erklärt, für das Gutachten seien 150.000 Euro vorgesehen. Nach Angaben des Ministeriums wird dieser Betrag auch nicht überschritten.

Die Vergabe selbst nannte das Ministerium rechtens. Es seien sechs Anbieter um ein Angebot gebeten worden. NEXUS habe das wirtschaftlichste Gebot abgegeben. Nach dem Vergabegesetz haben öffentliche Ausschreibungen aber grundsätzlich Vorrang. Nach dem Willen des Gesetzgebers dürfen sie nur in wenigen Ausnahmefällen umgangen werden. Als Grund akzeptiert wird beispielsweise eine besondere Dringlichkeit. Die darf aber nicht dadurch entstehen, weil der Auftraggeber in Verzug gerät, sondern beispielsweise Gefahr im Verzug ist.

Reaktion Das Thüringer Innenministerium wirft dem MDR THÜRINGEN inzwischen vor, bei der Frage nach der Vergabe des Auftrages falsch berichtet zu haben und verweist auf die Thüringer Verwaltungsvorschrift zur Vergabe öffentlicher Aufträge und hier auf Absatz 7: Darin heißt es:

"Für  die Vergabe  von  freiberuflichen  Leistungen (z.B.  Architekten und  Ingenieurleistungen  findet aufgrund der Festlegungen des § 1 Abs. 2 ThürVgG (Beschränkung auf Anwendbarkeit der VOB  und  VOL) das Thüringer  Vergabegesetz im  Unterschwellenbereich keine Anwendung. Sie können  daher  grundsätzlich freihändig  vergeben  werden wobei die haushaltsrechtlichen Vorgaben zu beachten sind (siehe insbesondere § 55 ThürLHO) Es wird jedoch  empfohlen, in  Anlehnung an  die Bestimmungen  der  Vergabeordnung  für freiberufliche Leistungen (VOF) einen Leistungswettbewerb mit mindestens drei Bewerbern durchzuführen."

MDR THÜRINGEN hat im Rahmen seiner Recherchen das Innenministerium schriftlich angefragt, mit welcher Ausnahme die freihändige Vergabe des Projekts begründet wird. Die Antwort des Innenministeriums lautete am 9. September wie folgt: "Die Vergabe des Auftrags für das Bürgergutachten beruht auf den einschlägigen Vergaberegelungen und stellt keine Ausnahme dar."

Die Auslegung der Vergabegesetze füllt nach MDR-Kenntnisstand Regale. So lange nicht klar ist, was das Ministerium für ein erfolgreiches Bürgergutachten von den Anbietern solcher Projekte gefordert hat, lässt sich nicht sagen, ob es sich um eine selbständige oder wissenschaftliche Leistung gehandelt hat.  Eine hilfreiche Orientierung dabei sind nach MDR-Kenntnisstand beispielsweise die CPV-Codes der EU-Kommission. Für die getroffene Auswahl hatte das Ministerium durchaus gute Gründe. Wie bereits berichtet, hatte Nexus das wirtschaftlichste Angebot gemacht.

Hintergrund: Wie war das damals in Rheinland-Pfalz? Die rheinland-pfälzische Regierung ließ die Bürger 2009 beim Bürgergutachten auch über die Gebietsreform beraten. Die dortigen Bürger hatten bei ihrem Treffen einen Tag mehr zur Verfügung. Zum damaligen Ergebnis sagte der Sprecher des Rheinland-pfälzischen Innenministeriums Joachim Winkler MDR THÜRINGEN: "Die Planungszellen und das Bürgergutachten haben dem Land einige konstruktive Vorschläge für die anschließende konzeptionelle Ausgestaltung der Kommunal- und Verwaltungsreform gebracht." Das Ziel sei es damals auch gewesen, aus demografischen und wirtschaftlichen Gründen Verwaltungsgemeinschaften zusammenzulegen; das Land wollte dabei aber nicht allein nach Einwohnerzahlen gehen, sondern auch Flächengrößen, gewachsene Strukturen, regionale Besonderheiten und auch Traditionen berücksichtigen.

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