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Die Lähmungserscheinungen bei an AFM erkrankten Kindern ähneln denen bei Polio. Bildrechte: Colourbox.de

Akute schlaffe MyelitisCorona-Hygieneregeln zeigen Auslöser seltener Kinderkrankheit

15. März 2021, 11:29 Uhr

Eine seltene Kinderkrankheit stellt die Medizin vor ein Rätsel: die akute schlaffe Myelitis (AFM). Bei betroffenen Kindern treten Lähmungserscheinungen auf, die denen von Polio (Kinderlähmung) ähneln. Doch die Ursache für AFM ist noch immer nicht ganz klar – in Verdacht stehen aber bestimmte Enteroviren. Ausgerechnet ein anderes Virus hilft nun dabei, herauszufinden, ob das stimmt. Denn die Hygienemaßnahmen gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 liefern der Wissenschaft neue Hinweise.

Es klingt wie die Rückkehr von Polio: Kinder, die an akuter schlaffer Myelitis erkranken, leiden an Muskelschwäche und es kommt zu Lähmungen in Armen und Beinen. Manche Kinder können nicht mehr selbstständig atmen und einige sterben sogar daran. Viele Kinder, die sich wieder etwas von AFM erholen konnten, behalten bleibende Lähmungen. Vor allem in den USA ist diese seltene Kinderkrankheit in den vergangen Jahren etwas häufiger aufgetreten, aber auch in Europa gab es schon einige Fälle.

Lähmungen wie bei Polio

Die akute schlaffe Myelitis (acute flaccid myelitis, AFM) beginnt mit typischen Erkältungssymptomen wie Husten, Schnupfen und Fieber. Die Lähmungserscheinungen beginnen dann plötzlich. Außerdem tritt die Krankheit etwa alle zwei Jahre in einer Welle von Juni bis November auf. Deshalb vermuteten Medizinerinnen und Mediziner schon länger einen Virusinfekt als Krankheitsursache. Doch es ist kompliziert.

Gegen Polio gibt es seit Jahrzehnten eine Impfung. Bildrechte: imago/epd

Fachleute – darunter etwa auch der US-amerikanische Immunologe Dr. Anthony Fauci – glauben, dass die Lähmungen eine polioähnliche Erkrankung sind. Diese gefürchtete Kinderlähmung wurde durch das Poliovirus ausgelöst – ein Virus aus der Gruppe der Enteroviren. Seit in den 1950er-Jahren ein Impfstoff dagegen entwickelt wurde, verschwand die Krankheit nahezu weltweit, hierzulande gilt das Virus als ausgerottet.

Da die Lähmungssymptome in Armen und Beinen denen bei Polio ähneln, geriet erneut ein Enterovirus unter Verdacht: D68. Es ähnelt dem Poliovirus im Aufbau und es ist bekannt, dass es für Atemwegserkrankungen und neurologische Schäden sorgen kann. Hat es sich also zu einem noch gefährlicheren Virus weiterentwickelt?

Die Suche nach dem Virus

Der Fakt, dass die Zahl der kursierenden Enteroviren D68 und die Inzidenz von AFM korrelieren, scheint dafür zu sprechen. Und auch in Stuhlproben oder dem Rachen der betroffenen Kinder ist es schon nachgewiesen worden. Doch es gibt Zweifel: Denn im Hirnwasser – der Zerebrospinalflüssigkeit – ließ es sich nicht nachweisen.

Mit typischen Erkältungssymptomen beginnt es, später folgen die Lähmungen. Bildrechte: imago images / Shotshop

Aber wenn der Erreger im zentralen Nervensystem nicht zu finden ist, wie kann es dann zur Erkrankung kommen? Möglich wäre zum Beispiel, dass die Viren nur kurzzeitig vor dem Auftreten der Symptome im Gehirn aktiv sind. Ein Forschungsteam aus den USA hat deshalb schon vor zwei Jahren das Hirnwasser erkrankter Kinder auf Antikörper gegen die Oberflächenproteine der Enteroviren untersucht. Der Versuch eines indirekten Nachweises also, der zeigen soll, ob die Viren zuvor da gewesen sind. Und tatsächlich: Bei 70 Prozent der AMF-Kinder war das der Fall, bei der Kontrollgruppe nur bei sieben Prozent. Ein weiterer Hinweis darauf, dass das Enterovirus D68 hier eine Rolle spielt.

Ausbleibende Infektionen liefern Hinweis

Einen weiteren Beleg dafür liefert nun die Corona-Pandemie. Denn ein Nebeneffekt der geltenden strengen Hygiene-Maßnahmen sind Daten für die Forschung über andere Erkrankungen wie AFM. Ein Forschungsteam um den Evolutionsbiologen Sang Woo Park von der Princeton University zeigt das jetzt in einer Untersuchung, die im Fachmagazin Science Translational Medicine publiziert wurde.

Die Karte zeigt die Schwerpunkte des Enterovirus D68-Vorkommens in den USA von 2014 - 2019, die der Algorithmus berechnet hat. Bildrechte: S.W. Park et al., Science Translational Medicine (2021)

In der epidemiologischen Studie hat das Team eigentlich die Ausbreitung und Dynamik des Enterovirus D68 in den USA zwischen 2014 und 2019 analysiert. Ihr Ziel war herauszufinden, ob es wirklich einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Virus und AFM gab. Tatsächlich konnten sie auch zeigen, dass es bei hohem Enterovirus-Vorkommen auch mehr Fälle von AFM gegeben hat. Allerdings deute die Analyse daraufhin, dass es keinen festen Zwei-Jahres-Zyklus gibt. Eigentlich hätte es vergangenes Jahr unter normalen epidemiologischen Bedingungen zu einem AFM-Ausbruch kommen können. Dass es nicht dazu gekommen ist, führen die Forschenden auf die Hygienemaßnahmen in der Corona-Pandemie zurück. Denn die Hygienemaßnahmen, die gegen SARS-CoV-2 schützen – Abstand halten, Maske tragen und Händewaschen – bewahren Kinder auch vor der Ansteckung mit dem Enterovirus D68, das ebenfalls über die Atemwege aufgenommen wird. Und so stellt das Team fest, dass die wenigen AFM-Erkrankungen direkt auf Social Distancing und Hygiene zurückzuführen seien.

Für die Medizin ist es wichtig, möglichst bald ganz sicher zu sein, was die Kinderkrankheit auslöst. Denn bisher lassen sich nur die Symptome behandeln – etwa mit antiviralen Medikamenten oder Antibiotika. Eine Heilung ist bisher nicht möglich.

(kie)

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