Was wir lesen

Das Buchcover zeigt den nackten, durchtrainierten Oberkörper eines bärtigen Mannes, auf den das Zeichen für Radioaktivität projiziert ist. Das ganze Bild ist in rot eingefärbt.
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Wissen, was wir lesen Ist Männlichkeit toxisch? Große Fragen des 21. Jahrhunderts

06. Januar 2021, 08:04 Uhr

"Die überaus polarisierende Titelfrage trifft in diesem Buch auf eine beeindruckend informierte, ausgewogen sachliche Auseinandersetzung, die zu keinem Zeitpunkt polemisch oder verkürzt daherkommt", findet MDR WISSEN-Redakteur Daniel Schlechter. Er stellt ein Buch vor, das das Wissen zudem auch in einem innovativen Format vermittelt.

Daniel Schlechter
Bildrechte: Tobias Thiergen

Worum geht es?

Die Titelfrage bringt es auf den Punkt: "Ist Männlichkeit toxisch?" Oder etwas konkreter formuliert: Ist unser traditionelles Bild von männlichem Verhalten schädlich oder sogar gefährlich? Wer jetzt schon mit den Augen rollt, sollte ganz besonders dran bleiben, denn bei ganz sachlicher Auseinandersetzung mit dem Thema wird deutlich: Dass diese Frage überhaupt so stark polarisiert, ist Teil des Problems, ganz egal, von welcher Seite man es betrachtet.

Wer schon einmal unter toxischer Männlichkeit leiden musste, reagiert auf die Titelfrage wahrscheinlich mit Zustimmung und Interesse. Wer das noch nicht erleben musste oder vielleicht sogar wissentlich oder unwissentlich von toxischer Männlichkeit profitiert (was übrigens nicht nur Männer sind), reagiert nicht selten mit Ablehnung oder sogar Spott. Die Antwort auf die Frage liegt im Graubereich dazwischen – wofür sie am Ende aber überraschend klar ausfällt.

Die Doppelseite zeigt links unten drei Kinoplakate mit den "starken Helden" Sylvester Stallone, Arnold Schwarzenegger und Jean-Claude Van Damme, rechts oben zwei junge Männer in Macho-Posen
Männlichkeit = Gewalt? Bildrechte: DK Verlag

Doch worum geht es bei dieser Frage eigentlich? Was ist Männlichkeit überhaupt und ab wann wird sie toxisch? Um sich diesen beiden Kernfragen zu nähern, baut der Autor sein Buch in vier Teile auf: 1. Die Entwicklung des Männlichkeitsbegriffs. 2. Die Macht, Schaden anzurichten. 3. Männer und zwischenmenschliche Beziehungen. 4. Männlichkeit im Umbruch. Interessant ist diese Erörterung schon ab der historischen Herleitung im ersten Kapitel - richtig spannend wird sie danach.

Wie schafft es das Buch, mich zu fesseln?

Die überaus polarisierende Titelfrage trifft in diesem Buch auf eine beeindruckend informierte, ausgewogen sachliche Auseinandersetzung, die zu keinem Zeitpunkt polemisch oder verkürzt daherkommt. Schon das erste Kapitel, in dem die historischen Hintergründe der vielen positiven und negativen Attribute, die wir der Männlichkeit zuschreiben, beschrieben werden, ist als angenehm verdichtete Geschichte unserer Zivilisation sehr lesenswert.

Wirklich fesselnd wird das Buch im zweiten Kapitel, in dem der Autor analysiert, wie die Männlichkeitsattribute eine Eigendynamik hin zum Extremen entfalten, was vor allem daher kommt, dass Männlichkeit zumindest in der westlichen Welt immer auf eine gewisse Form von Macht hinausläuft. Dieses Innehaben der gesellschaftlichen Vormachtstellung schreibt wiederum Dominanz vor und verbietet die Unsicherheit, die mit jeder Neuverhandlung der Männlichkeit einherginge.

Eine Doppelseite aus dem Buch. Die beiden Bilder zeigen eine Wickeltasche mit der Optik eines Werkzeugkastens und einen Kinderwagen mit Elementen eines großen Autos.
Männer und ihre Kinder Bildrechte: DK Verlag

Dieses Dilemma wird bereits im zweiten Kapitel unter dem überaus treffenden Titel "Die Macht, Schaden anzurichten" deutlich - im ersten Moment erscheint diese Macht vielleicht wie eine positive Ermächtigung. Bei der genaueren Analyse wird klar, wie überfordernd diese Macht für jedes Individuum sein kann, wenn es seine Persönlichkeit, seine Vorlieben, Interessen und zwischenmenschlichen Beziehungen entfalten möchte.

Wer hat's geschrieben?

Andrew Smiler, der als Psychotherapeut mit heranwachsenden Jungen, erwachsenen Männern und deren Angehörigen arbeitet. In seiner klinischen Praxis kümmert er sich dabei vor allem um Patienten mit Ängsten, ADHS und Problemen mit Sexualität und Beziehungen. Er war zudem Vorsitzender der Society for the Psychological Study of Men und ist Autor des preisgekrönten Buches Dating and Sex: A Guide for the 21st Century Teen Boy.

Das Buchcover zeigt den nackten, durchtrainierten Oberkörper eines bärtigen Mannes, auf den das Zeichen für Radioaktivität projiziert ist. Das ganze Bild ist in rot eingefärbt.
Bildrechte: © DK Verlag

Die Daten zum Buch Matthew Taylor (Hrsg.), Andrew Smiler: "Ist Männlichkeit toxisch? Große Fragen des 21. Jahrhunderts". DK Verlag 2020, 144 Seiten, 12,95 €, ISBN 978-3-8310-4011-7

Wie ist es geschrieben?

Das Buch hat eine sehr innovative Form, denn es ist eher wie ein illustriertes Magazin aufgebaut als wie ein klassisches Buch mit Blocksatz und vereinzelten Abbildungen. Nicht nur ist das Buch sehr lebhaft und reichhaltig bebildert, es ist vor allen Dingen sehr intelligent gesetzt, denn der Text ist in kleine Abschnitte von großer, mittlerer und kleiner Schriftgröße geclustert.

Die Doppelseite zeigt links unten ein Gemälde mit dem Suizid des 17-jährigen Dichters Thomas Chatterton und rechts oben zwei Fotografien von Soldaten aus dem amerikanischen Bürgerkrieg in engem Hautkontakt mit ihren besten Freunden.
Männer in der Romantik Bildrechte: DK Verlag

Diese Clusterung der Texte macht es möglich, dass Buch unterschiedlich schnell zu lesen und sich je nach Zeit und Interesse eher kompakter oder eher tiefgründiger mit dem Thema auseinanderzusetzen. Wer wenig Zeit hat, kann nur die großen Textblöcke lesen, wer mehr Zeit hat, liest auch die kleineren mit - die Texte sind so geschrieben, dass sie auf beide Arten schlüssig sind.

Was bleibt hängen?

Ohne den vielfältigen Erkenntnissen aus dem Buch, vor allem aus den hinteren Kapiteln, vorwegzugreifen, bleiben vor allem zwei Dinge hängen:

Die Männlichkeit und was wir darunter verstehen, hat sich alles andere als linear zu dem entwickelt, was sie heute ist.

Daniel Schlechter

Sie hat sich immer in einem erstaunlich abwechslungsreichen Wandel befunden, zu dem auch gehört, dass Männer schon viel früher unsicher, emotional, sensibel und empfindsam sein durften, als wir heute denken.

Zweitens, und das ist wahrscheinlich die wichtigste Erkenntnis, zeigt dieses Buch, dass Männer mitnichten die Verlierer einer weiter voranschreitenden Geschlechtergerechtigkeit wären, im Gegenteil: Wenn sich die Macht und alle mit ihr einhergehenden Rechte und Pflichten in unserer Gesellschaft gleichmäßiger auf alle Menschen verteilen, dann ist auch den Männern eine große Last von den Schultern genommen, ohne die sie sich viel besser entfalten können als bisher.

Mann in schwarzer Lederjacke
Daniel Schlechter Bildrechte: Tobias Thiergen

Der Rezensent Redakteur für Dokus und YouTube. Denkt immer in Bildern und steht trotzdem auf die Themen am Rande unserer Vorstellungskraft, ob nun ganz groß im Universum oder ganz klein in der Nanotechnologie.

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