Sitka-Fichten
Uralte Riesen: Die Sitka-Fichte ist die größte Fichtenart der Welt. Bildrechte: imago/All Canada Photos

DNA-Unterschiede an bis zu 100.000 Stellen Uralte Fichten sind wahre Mutationswunder

11. Juli 2019, 16:04 Uhr

Wenn wir an Mutanten denken, kommen uns wahrscheinlich keine Bäume in den Sinn. Doch in vielen alten Bäumen treten gehäuft Mutationen auf. Kanadische Wissenschaftler haben nun gezeigt, dass sich bei bestimmten Fichten die DNA am Beginn des Stamms in bis zu 100.000 Stellen von der in der Stammkrone unterscheiden kann. Hinter dieser unglaublich hohen Mutationsrate könnte eine Überlebensstrategie stecken, mutmaßen die Kanadier. Ist ein Baum also doch nicht nur EIN Baum?

Riesengroß und unverwüstlich stehen die Sitka-Fichten (Picea sitchensis) schon seit mehreren hundert Jahren in den Wäldern im Herzen des Carmanah Valley auf Vancouver Island. Sie wirken ruhig, erhaben und vor allem unveränderlich. Aber... das ist ein Trugschluss.

Das Paradox der alten Bäume

Denn die Sitka-Fichte verändert sich ständig. Wie alle Bäume, die sehr alt werden, stehen sie vor einer evolutionären Herausforderung: Sie müssen sich nämlich fortwährend auf sich verändernde Umweltbedingungen einstellen. Und das, obwohl es Jahrzehnte bis Jahrhunderte dauert, bis eine neue Generation der Fichte herangewachsen ist. Pflanzen und andere Lebewesen, die nur eine sehr kurze Lebensdauer haben, müssten sich evolutionär betrachtet von Generation zu Generation leichter an Veränderungen anpassen können.

Tatsächlich ist es bei den alten Bäumen aber so, dass sie sich offenbar auch sehr gut an die jeweiligen Umweltbedingungen angepasst haben. Vincent Hanlon von der University of British Columbia in Vancouver spricht von einem Paradoxon.

Paradoxerweise sind Populationen langlebiger Bäume häufig sehr gut an lokale Klimaverhältnisse angepasst und entwickeln effektive Reaktionen auf Stressoren wie Schädlingsinsekten.

Vincent Hanlon, University of British Columbia

Das stellte Hanlon und seine Kollegen vor die Frage: Wie machen die das? Eine Möglichkeit: Auch in den Zellen der Bäume, die nicht der Fortpflanzung dienen, könnten sehr viele Mutationen stattgefunden haben. Normalerweise würde die Pflanze die Mutation als Anpassung an neue Lebensverhältnisse ja erst an ihre Nachkommen vererben müssen, die dann besser angepasst wachsen können. Ob an dieser Theorie etwas dran ist, untersuchten die Forstwissenschaftler an der Westküste von Vancouver Island.

Ein Mann mit roter Jacke hängt an einem Seil an einem rieisigen Baumstamm in einem dichten Wald.
Forstwissenschaftler bei der Arbeit: Für Proben aus den Baumkronen durften die Forscher keine Höhenangst haben. Bildrechte: TJ Watt / UBC

100.000 genetische Unterschiede

Die UBC-Forscher haben also 20 Sitka-Fichten genau untersucht. Dafür haben sie zum einen Rinde vom unteren Teil des Stammes der Riesen abgekratzt und zum anderen Nadeln aus der oberen Baumkrone gesammelt.

Die Bäume waren zwischen 220 und 500 Jahre alt und im Schnitt 76 Meter hoch.

Vincent Hanlon, University of British Columbia

Anschließend haben sie sich das Genom in den jeweiligen Proben ganz genau angeschaut. Die Analysen der DNA-Sequenzen zeigten Überraschendes: In ihrer DNA unterscheiden sich der untere und der oberste Teil des Baumes deutlich, schreiben die Forscher. Bei einer einzelnen Fichte habe es zwischen ganz oben und ganz unten bis zu 100.000 genetische Unterschiede gegeben. Jeder dieser Unterschiede stelle eine sogenannte somatische Mutation dar – sei also eher während des natürlichen Wachstums entstanden als während der Fortpflanzung.

Sitka-Fichte (Picea sitchensis) Die Sitka-Fichte (Picea sitchensis) ist die größte Art der Gattung Fichten. Sie ist in Nordamerika heimisch und kann mehrere hundert Jahre alt werden. Die Baumart wurde nach der Stadt Sitka in Alaska benannt und ist der offizielle Staatsbaum des US-Bundesstaats. Sitka-Fichten werden im Durchschnitt 50 bis 70 Meter hoch, der Stamm kann einen Durchmesser von bis zu 5 Metern erreichen.

Das entspricht der höchsten jemals für einen Eukaryoten – also von einem Lebewesen mit Zellkern(en) – berechneten Mutationsrate, schreiben die Forscher. Aufs Jahr berechnet seien das zwar nur wenige Mutationen, aber pro Generation eben sehr viele. Die Untersuchung haben die Kandadier im Fachmagazin "Evolution Letters" veröffentlicht.

Sitka-Fichte
Der Durchmesser des Sitka-Fichten-Stamms kann bis zu fünf Meter betragen. Bildrechte: imago images / Design Pics

Mutation als Überlebensstrategie?

Aber nützt der Fichte diese Menge an über die Jahre angesammelten Mutationen überhaupt? Bisher ist nämlich nur wenig darüber bekannt, wie häufig somatische Mutationen auftreten und ob bzw. wie sehr sie zur genetischen Varianz beitragen. Das müssten weitere Studien erst noch klären, meinen die Kanadier. Aber sie halten einen Nutzen für denkbar.

Die meisten Mutationen sind wahrscheinlich harmlos und einige vielleicht sogar schlecht. Andere Mutationen können jedoch genetische Vielfalt fördern, wenn sie auf die Nachkommen übertragen werden und tragen so im Laufe der Zeit zur Evolution und Anpassung bei.

Prof. Dr. Sally N. Aitken, University of British Columbia

Womöglich ist die dauerhafte Anpassung mithilfe von Mutationen also die Überlebensstrategie der uralten Bäume. Ihre Erforschung könnte neue Einblicke liefern. Denn Bäume können sich wegen ihrer langen Lebensspanne nicht so schnell weiterentwickeln wie beispielsweise Tiere, erklärt Forstwissenschaftlerin Aitken.

Aber trotzdem überlebten sie und seien äußerst erfolgreich. Es gebe oft Baumpopulationen, die sich gut an das lokale Klima anpassten und auf Belastungen wie Schädlinge oder Käfer reagierten. Und so stellt Aitken fest: "Unsere Studie zeigt einen genetischen Mechanismus auf, der den Pflanzen dabei helfen könnte."

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 08. Juli 2019 | 18:50 Uhr