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Bildrechte: Institut für gesellschaftl. Zusammenhalt

Geschichte der MigrationEinwanderung: Ist Deutschland das neue Amerika?

21. Mai 2019, 13:41 Uhr

Migration war immer. Wissen wir nicht damit umzugehen? Der Leipziger Historiker Professor Matthias Middell forscht darüber, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt in einer Einwanderungsgesellschaft funktioniert.

von Bettina Goldbach

Umbrüche, Veränderung, die Möglichkeit, jederzeit durch aktives Handeln die Dinge zu beeinflussen- das treibt den Historiker und Direktor des "Global and European Studies Institute" (GESI) der Universität Leipzig, Matthias Middell, an. "Ich finde es spannend, in solchen Umbruchszeiten zu leben, wie wir das gerade tun", sagt er. Die Faszination für die Französische Revolution war die Initialzündung seines Forscherlebens, jetzt sucht er mit seinem Team unter anderem nach Lösungen für die Probleme, die seit Beginn der Zuwanderung zahlreicher Migranten in 2015 das Land beschäftigen.

 Riesige Bevölkerungsverschiebungen

Wie schätzt er die Lage ein? Ist die Zuwanderung, die vor fast vier Jahren begann, historisch gesehen ein besonderer Moment? "Also die Geschichte von Migration in Deutschland, die geht immer mal auf und ab und dabei sind größere und kleiner Zahlen zu verzeichnen", sagt er. Allein, wenn man sich auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg konzentriert: Da habe es enorme Bevölkerungsverschiebungen zwischen Ost und West durch Vertreibung gegeben. Er erinnert aber auch an die Einwanderungswellen aus Italien, der Türkei und Jugoslawien in die Bundesrepublik in den Jahren ab 1955 oder an die Zuzüge von Menschen aus Mittel- und Südosteuropa in den 1990er Jahren.

Dennoch sieht er mehrere Besonderheiten in der jüngsten Zuwanderungsbewegung. Die Auffälligste: Deutschland als Zielland. "Deutschland ist gewissermaßen das neue Amerika geworden. Amerika galt für etwa 150 Jahre als das Traumland von Einwanderern und hat diesen Charakter eigentlich bis heute nicht verloren. Aber wir beobachten jetzt, dass Deutschland, das ja vorher lange Zeit ein eher negatives Image hatte, dass dieses Land auf einmal eine solche Attraktion bildet."

Wunsch und EU-Rechtswirklichkeit

Dem Wunsch vieler Migranten, nach Deutschland einreisen zu können, stand die rechtliche Situation gegenüber. Laut geltendem EU-Recht – Stichwort „Dublin III“ - sollte ein Zuwanderer dort bleiben, wo er zuerst europäischen Boden betreten hatte. Bliebe man dabei, wäre die Verteilung der Zuwanderung extrem ungleichgewichtig, und in Deutschland käme kaum jemand an. Auslöser der Zunahme von Migration Richtung Europa war die "enorme Destabilisierung der politischen und ökonomischen Verhältnisse" in vielen Ländern, die zu einem Bogen von Afghanistan über Westasien bis in den Norden Afrikas gehören.

Es fällt aber auf, dass sich seit 2016 die Zahlen wieder abgeschwächt haben, nicht zuletzt, weil die Ursachen bearbeitet werden, sagt der Historiker: Indem man sich in Europa um ein strikteres Grenzregime und eine gerechtere Verteilung der Zuwanderungen zum einen und um das Eindämmen der Krisenherde in Westasien und Nordafrika zum anderen kümmert.

Ist damit auch diese Migrationsbewegung zum Stillstand gekommen? Und – werden die Zuwanderer eher bleiben oder wieder gehen? Als Historiker tut sich Matthias Middell schwer mit Zukunftsprognosen. Dennoch wagt er eine Einschätzung:  "Das hängt jetzt eben sehr davon ab, was das eigentliche Wanderungsmotiv war ", meint er.  "Wenn es die Flucht vor unerträglichen Zuständen war und es zeichnet sich ab, dass diese unerträglichen Zustände beseitigt werden oder es vielleicht sogar durch Wiederaufbau attraktiv ist, in die Ursprungsregion zurückzukehren, dann wird man mit größeren Rückkehrbewegungen rechnen können."

Zuwanderung als Lösung

Ob das allerdings wünschenswert sei, ist eine andere Frage. Denn Deutschland hat – wie viele europäische Länder – zwei Probleme, die nur durch Zuwanderung gelöst werden können: Den Fachkräftemangel und die demografische Entwicklung des Landes, die geprägt sei durch immer mehr Menschen, die das Arbeitsleben hinter sich haben, und immer weniger Menschen, die im arbeitsfähigen Alter sind. Dieser "demografische Baum " - wie er es nennt – bedürfe der Reparatur.

Aber wie? "Ich weiß ehrlichgesagt nicht ganz, wo die Menschen herkommen sollen, die dafür benötigt werden, weil andere Regionen in Europa durchaus dasselbe demografische Problem aufweisen. Das aber bedeutet, dass die Zahl der Zuwanderer, die wir aus demografischen und ökonomischen Gründen bräuchten, kaum mit einer allzu restriktiven Politik erreichen werden."

Was bedeutet: Ja, zunächst mal sei Deutschland ein Zielland der Migranten aus den nicht-europäischen Krisengebieten gewesen, aber irgendwas scheint in dem Prozess noch zu haken. Professor Middell kennt auch den wunden Punkt: "Zuwanderung ist nicht etwas, was gewissermaßen ohne Preis und ohne Anstrengung zu haben ist." Das Bildungssystem müsse geöffnet werden, die eigene Kultur überprüft werden. Was ist essentiell und was kann zur Verhandlung gestellt werden? Und es würde sich die Frage stellen, wie mehrsprachig die Gesellschaft sein wolle.

Gibt es den "idealen" Zuwanderer?

Ohne Fleiß kein Preis? Vermutlich – folgt man dem Leipziger Historiker. "Es gibt den Traum davon, dass das unabwendbare Bedürfnis nach Zuwanderung beantwortet wird durch den idealen Zuwanderer, der alle Voraussetzungen mitbringt und sofort problemlos den Platz in unserer Gesellschaft einnimmt, den wir ihm oder ihr zuweisen." Tja. Eben ein Traum. Der vom idealen Zuwanderer. Oder, wie Professor Middell sagt: "vermutlich eher unwahrscheinlich ", dass ausschließlich solche Menschen einreisen.

Deshalb sei die Frage jetzt: Wieviel Zuwanderung wir uns kulturell zumuten können und wollen. Und dann sei die Frage nicht: Wieviel brauchen wir? Sondern: Wieviel akzeptieren wir? "Und dafür kann Politik werben, davor kann Politik auch Angst machen. Politik kann Infrastrukturen bereitstellen, damit diese Integration schneller gelingt und unproblematischer gelingt, aber sie kann das nicht alleine, sondern sie braucht das Mittun der Zivilgesellschaft in all ihren Facetten", folgert der Wissenschaftler.

Gute Mauern, schlechte Mauern?

Dieses "Mittun" ist allgegenwärtig, aber oftmals auffälliger und lauter in Erscheinung treten Abgrenzung und Fremdenfeindlichkeit. Hitzige Debatten, bemerkenswerte Wahlergebnisse. Was sagt ein Experte gesellschaftlicher Umbrüche dazu? Erstmal, dass jeder Umbruch anders ist. Es mag Regelhaftigkeiten in solchen Umbrüchen geben, aber durchweg gilt, dass der Ausgang solcher Krisen immer offen ist. Es hängt immer davon ab, wie sich die Kräfte verteilen und ob sich alle für ihre Sicht auf die Dinge auch in gleicher Weise engagieren. Die jüngere Geschichte gibt uns allerdings einen gewissen Schlüssel. Der Umgang mit Migration musste lange nicht ausreichend eingeübt werden:  "Die gegenwärtige Sorge vor der Einwanderung wird gespeist durch die lange Phase der extremen Kontrolle über Migration in Europa."

Das haben Menschen in anderen Weltteilen ganz anders erlebt. In der Zeit des Kalten Krieges versperrten Mauern, streng kontrollierte Grenzen sowie Regelungen per Gesetz die Wege. "Und jetzt gibt es Leute, die erinnern diese Mauer in einer Weise 'sowas soll nie wieder passieren' und es gibt Leute, die erinnern diese Mauer in dem Sinne, dass sie sagen: 'Wunderbar. Sowas hätten wir gerne wieder! Jedenfalls die damit einhergehende Kontrolle.' So wirkt dann die Vergangenheit in unsere Gegenwart: Wir entscheiden, ob wir Mauern gut- oder schlechtfinden", verweist Middell auf einen der wichtigsten Streitpunkte, wenn es gegenwärtig um Zuwanderung geht.

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | Wissen aktuell | 26. Mai 2019 | 11:17 Uhr