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SozialforschungSo werden Städte bezahlbar, grün und lebenswert

10. April 2019, 11:43 Uhr

76 Prozent der Menschen in Deutschland leben heute in Städten. Bis 2050 soll die Zahl laut UN-Prognosen auf 84 Prozent steigen. Wie schaffen wir es, die Städte lebenswert zu halten oder zu machen? Auch für die Wissenschaft eine Herausforderung. Doch Soziologen, Klimaforscher und Bürger haben Antworten. Mit klaren Forderungen an Politik und Stadtplaner.

Bezahlbare Wohnungen

Die Proteste Anfang April 2019 in ganz Deutschland haben gezeigt, dass der Druck groß ist und guter, bezahlbarer Wohnraum rar. Die Städte driften immer weiter auseinander. Zahlen aus der Sozialforschung bestätigen diese Entwicklung. Insbesondere im Osten Deutschlands gibt es schon jetzt in fast allen Großstädten eine ganz klare Trennung in arme und reiche Stadtviertel. Soziale Segregation heißt das in der Sprache der Wissenschaftler.

Ein Prozess, der im Osten in "einer unglaublichen Geschwindigkeit" nach der Wende ablief, sagt Soziologe Marcel Helbig. 1990 waren die Städte durch eine relativ gleiche Verteilung von sozialen Gruppen geprägt. "Bis 2005 haben wir den Westen quasi überholt", so Helbig, der Professor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ist. Ergebnis: Wer wenig verdient oder Geld vom Staat bekommt, bleibt im Neubau, einst die Hoffnung der Städte. Eine Einwohnerin von Erfurt-Nord beschreibt den Prozess so: Früher wohnten Putzfrau und Arzt Tür an Tür. Der Arzt zog weg ins schicke neue Eigenheim. Die Putzfrau blieb, wie so viele andere auch.

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Mehr kommunaler Wohnraum

Wie kann man das ändern? Braucht man dafür eine Enteignung von Großvermietern, wie sie etwa Grünen-Chef Robert Habeck in die Diskussion gebracht hat? Soziologe Helbig fordert durchaus ein staatliches Eingreifen für eine soziale Umverteilung. "Um das hinzubekommen, muss ich starke kommunale Wohnungsbau-Unternehmen haben, die sich auch in besseren Lagen Wohnbestand kaufen, bauen, wo ich dann über Belegungsrechte die Armen hineinbekomme."

Wie das funktionieren kann, zeigt Wien seit fast 100 Jahren. So lebten 2017 rund 60 Prozent der Wiener in einer geförderten oder Gemeindewohnung. Sozial gebundene Wohnungen werden mit Geld aus der Wohnbauförderung errichtet. Mit ihnen darf 35 Jahre lang keine Rendite erzielt werden, danach bleiben sie zudem dauerhaft sozial gebunden.

Grün gegen die Hitze

Lebenswerte Städte der Zukunft müssen sich auf den Klimawandel vorbereiten. Denn der ist die vermutlich größte Herausforderung des Jahrhunderts. Das geht nur, wenn wir die Bebauung konsequent ändern, empfiehlt eine aktuelle Studie aus den USA. Die Forderungen, die die Forscher der Boston University daher stellen, scheinen logisch und folgerichtig: Mehr Platz für Verdunstung, mehr Vegetation - zum Beispiel die Begrünung der Hausdächer -, mehr Bäume, Parks und Grünflächen. 

Einfach so weiterbauen wie bisher geht nicht, bestätigt Matthias Lerm, Stadtarchitekt in Jena. Frischluftschneisen müssen heute mitgeplant werden, um künftige Wohnflächen natürlich zu klimatisieren. Wiesen als grüner Ausgleichsraum sind wichtig und Tiefgaragen, um an der Oberfläche mehr Platz für Bäume zu schaffen. Auch in Sachsens Städten fehlt Grün, so Forscher des Leibniz-Instituts für ökologische Raumentwicklung. Die Konzepte sind da, so Wolfgang Wende, Leiter des Forschungsbereichs Wandel & Management und Landschaften. "Der Anpassung an den Klimawandel muss in der Realität Gewicht gegeben werden."

Dabei sind grüne Städte keine Idee von heute. 41.000 Schrebergärten in Leipzig, die Gartenstadt Dresden-Hellerau oder die Bauhaus-Wohnsiedlung "Zickzackhausen" in Bernburg zeigen seit über 100 Jahren, wie Land und Stadt zusammenfinden können.

Eigeninitiative für lebendige Städte

Ein lebenswertes Umfeld, das ist auch eine Aufgabe für die Menschen, die darin wohnen wollen. So sehen es immer mehr Einwohner und machen sich stark für ihr Viertel, ihre Stadt. Etwa im Stadtgartenprojekt "Bunte Beete" in Halles Neubauviertel Heide-Nord. Dort bewirtschaften die Anwohner gemeinsam eine Fläche von 2.000 Quadratmetern. Ähnliche Projekte gibt es auch in Leipzig, Dresden und anderen Städten.

Solche Initiativen sind nicht auf Grünflächen beschränkt. Denn zu einer lebenswerten Stadt gehören viele andere Faktoren. Engagement für mehr Zusammenhalt, für Kultur, für Bildung, wie es etwa Bürgerstiftungen in Jena, Chemnitz oder Magdeburg zeigen, sind genauso wichtig. Gerade dann, wenn die Herausforderung besonders groß ist.

Wie etwa in Dessau-Rosslau.  Die Stadt hat den höchsten Altersdurchschnitt in Deutschland. Fast jeder dritte Einwohner ist hier älter als 64 Jahre. Studenten nennen die Bauhaus-Stadt deshalb schon mal "Depressau".

"Ich denke in so einer besonderen Situation sollte man sehr mutig agieren. Man sollte ganz viel Experiment zulassen, weil das nur in so einer Situation möglich ist", entgegnet Brigitte Hartwig dann. Die Professorin für Kommunikationsdesign an der Hochschule Anhalt hat mit Studenten und Dessauern einen Verein gegründet, um ein altes Haus zu sanieren, für Treffen, Kultur, Kommunikation.

VorOrtHaus heißen das Projekt und der Verein. Denn sie stehen für: Wir unternehmen etwas. Hier. Für andere und uns. Für eine lebenswertere Stadt.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | 02. März 2019 | 18:00 Uhr