Arm und Reich Soziale Spaltung in ostdeutschen Großstädten am heftigsten

15. April 2019, 11:49 Uhr

Zu DDR-Zeiten wohnten Studierte und Arbeiter oder Alte und Junge in den Großstädten dicht beieinander. Heute jedoch ist die soziale Spaltung nirgendwo in Deutschland größer als in Halle oder Erfurt.

Noch zu DDR Zeiten waren Städte wie Halle, Leipzig oder Erfurt sozial durchmischt. Akademiker wohnten in den gleichen Vierteln wie Arbeiter, Alte neben Jungen und Familien Tür an Tür mit Alleinstehenden. Großwohnsiedlungen mit Plattenbauten wie Halle-Neustadt oder Leipzig-Grünau waren attraktiv, da die Wohnungen hier im Gegensatz zum Altbau mit Zentralheizungen ausgestattet waren.

Doch spätestens in der zweiten Hälfte der 1990er war mit diesem Nebeneinander Schluss. Heute sind viele Großstädte Ostdeutschland sozial wesentlich gespaltener, als gleich große Städte im Westen. Zu diesem Ergebnis kommen die Soziologen Marcel Helbig und Stefanie Jähnen in ihrer 2018 veröffentlichten Studie zur sozialen Architektur deutsche Städte. In Mitteldeutschland gibt es dabei nur wenige Ausnahmen, wie Magdeburg oder Dresden.

Erfurt sozial tief gespalten

Die Forscher nutzten für Ihre Untersuchung den sogenannten Segregationsindex. Segregation bedeutet Teilung. Der Index zeigt für bestimmte soziale Gruppen wie die Empfänger von Arbeitslosengeld II ("Hartz-IV") an, wie stark sie sich im Stadtgebiet in bestimmten Gegenden ballen. Ein Indexwert von 35 Prozent bedeutet, 35 Prozent dieser Gruppe müsste in andere Stadtteile umziehen, damit sich die Gruppe insgesamt gleichmäßig über das Stadtgebiet verteilen würde.

2014, dem jüngsten Jahr, für das den Forschern genügend Daten vorlangen, konzentrierten sich in Erfurt 38,9 Prozent der Sozialhilfeempfänger auf wenige Stadtteile, in Halle 35,4 Prozent. Im bundesweiten Durschnitt waren es hingegen nur 26,6 Prozent. Was also war in den neuen Bundesländern nach der Wende passiert, dass sich die Spaltung so schnell und hart vollzogen hat? Und warum gibt es Gegenbeispiele wie Magdeburg 22,8 Prozent oder Dresden, wo nur 25,5 Prozent der Sozialhilfeempfänger räumlich konzentriert leben?

Zerstörte Städte heute besser durchmischt

Für die Unterschiede innerhalb Mitteldeutschlands sind nach Ansicht der Forscher zunächst die unterschiedlichen Zerstörungsgrade der Städte verantwortlich. Ausgerechnet besonders stark zerstörte Städte wie Magdeburg, wo zu Kriegsende die Hälfte aller Wohnungen in Trümmern lag, oder Dresden, wo es immerhin 40 Prozent waren, schlugen danach städtebauliche Richtungen ein, die bis heute für mehr soziale Durchmischung sorgen.

In Dresden und Magdeburg wurden viele neue Wohnungen bereits in den 1950ern und frühen 60ern gebaut, auf konventionelle Weise. Spätere Plattenbauten entstanden zudem häufig auch in der Nähe zur Innenstadt, da es in den beiden Elbestädten noch viele Brachen im Zentrum gab.

In Leipzig, Halle oder Erfurt hingegen entstanden Plattenbauten vor allem in neuen Großwohnsiedlungen wie Grünau, Neustadt oder am Roten Berg. 1990 lebten ein Viertel aller DDR-Bürger in solchen Großwohnsiedlungen. In der alten BRD waren es dagegen nur zwei Prozent.

Rasende Spaltung ab Mitte der 1990er

Während diese Siedlungen zu DDR Zeiten bei allen Schichten begehrt waren, änderte sich das nach der Wiedervereinigung. Zunächst gerieten Quartiere wie Halle-Neustadt in Schieflage, die für die Arbeiter großer Kombinate wie Leuna errichtet worden waren. Mit dem Beginn der Massenarbeitslosigkeit verloren dort zahlreiche Bewohner ihre Arbeitsstellen. Junge, gut ausgebildete Menschen zogen den Arbeitsplätzen hinterher in die westlichen Bundesländer.

Hinzu kam ab Mitte der 1990er der Wegzug zahlreicher Familien mit guten Einkommen, die sich nun ein neues Einfamilienhaus außerhalb der Stadt leisten konnten. Als schließlich auch noch viele Altbauquartiere flächendeckend saniert wurden, entstanden attraktive, Innenstadtnahe Wohngegenden. Viele, die es sich leisten konnten, zogen aus den Siedlungen aus. Ärmere Altbaubewohner hingegen mussten nach der Sanierung oft in den Plattenbau umziehen, auch, weil Kommunen Wohngeldempfänger nun vorzugsweise dort einquartierten, da diese Gegenden günstiger waren.

Besonders heftig ist inzwischen die Armut von Kindern und Jugendlichen. Familien mit wenig Einkommen leben auf noch weniger Stadtvierteln verteilt.

Drängendes Problem der kommenden Jahrzehnte.

Die Forscher gehen nicht davon aus, dass sich die geringere Attraktivität der Großwohnsiedlungen langfristig ausgleicht. Dadurch verstärkt sich das Problem, dass sich in diesen Gegenden soziale Probleme konzentrieren, die sich gegenseitig verschärfen. "Ob diese Prozesse umkehrbar sind und gegebenenfalls mit welchem Aufwand, werden die drängenden Fragen für die soziale Architektur der ostdeutschen Städte im Laufe der nächsten Jahrzehnte sein", so das Fazit von Helbig und Jähnen.

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Der Samstagmorgen | 15. September 2018 | 05:30 Uhr