
Fortpflanzungsbarriere Europas Awaren blieben über 200 Jahre Ostasiaten
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19. Januar 2025, 05:00 Uhr
Das aus der Mongolei stammende Reitervolk der Awaren beherrschte im Frühmittelalter ein multiethnisches Großreich in Mittel- und Osteuropa. Dennoch blieben ihre direkten Nachkommen 200 Jahre lang genetisch Asiaten. Das zeigen neueste DNA-Analysen aus Österreich, an denen auch Leipziger Forscher mitgewirkt haben. Ein eindrückliches Beispiel für eine lange wirkende "Fortpflanzungsbarriere".
Obwohl die aus Ostasien stammenden Awaren zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert in Mittel- und Südosteuropa ein riesiges Vielvölker-Reich mit germanischen, slawischen und romanischen Untertanen beherrschten, pflanzten sie sich – zumindest in der westlichen Peripherie ihres Reiches – nur unter ihresgleichen fort. Darauf weisen umfassende Analysen der uralten Genome von 722 Menschen hin, die im 7. und 8. Jahrhundert auf zwei großen Friedhöfen südlich der heutigen österreichischen Hauptstadt Wien bestattet wurden.
Awaren und Europäer blieben getrennt
Ein internationales Forscherteam unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig fand heraus, dass die auf der Begräbnisstätte im heutigen Leobersdorf bestatteten Menschen auch 200 Jahre nach der awarischen Einwanderung (567 bis 568 n. Chr.) noch immer weitgehend ostasiatischen Typs waren. Die auf dem Friedhof im benachbarten Mödling beigesetzten Individuen wiesen hingegen eine lokale, europäische Abstammung auf. "Die genetischen Unterschiede zwischen diesen Gruppen waren sehr deutlich und bei den meisten Menschen an den Fundstätten konsistent", sagte die Leipziger Genetikerin und Studien-Erstautorin Ke Wang.
Die Forscher rekonstruierten für die untersuchten Individuen der beiden Standorte Stammbäume über sechs Generationen. Obwohl beide Stammbäume jeweils große Netzwerke entfernter Verwandtschaften sowie "patrilineare Muster mit weiblicher Exogamie" – also den Umzug der Frau in die Gesellschaft des Mannes – aufweisen, existierten keine stammbaumübergreifenden Blutsverwandtschaften zwischen den genetisch gesehen asiatischstämmigen Bewohnern von Leobersdorf und den europäischen Bewohnern von Mödling.
Heiraten über große Entfernungen
Diese über zahlreiche Generationen aufrechterhaltene "genetische Barriere", auch als Reproduktions- bzw. Fortpflanzungsbarriere bekannt, wurde nach Erkenntnis der Forscher durch die systematische Auswahl von Partnern mit ähnlicher Abstammung von anderen Orten im Awarenreich aufrechterhalten. Die ostasiatisch geprägten Bewohner von Leobersdorf hatten demnach mehr biologische Verbindungen zum Awaren-Kernland als zum Nachbarort Mödling. Letzteres wiederum stand mit einem anderen Ort im Wiener Becken mit europäischer Bevölkerung in enger Verbindung.
Die genetische Mobilität zwischen den verschiedenen Standorten war der Studie zufolge hauptsächlich auf die "weibliche Exogamie" zurückzuführen. Fast keine der in den Gräbern von Leobersdorf und Mödling gefundenen Mütter hatte lokale Vorfahren, sondern stammte aus einer anderen Region. Dies deutet nach Ansicht der Forscher auf unterschiedliche "Heiratsnetzwerke als Haupttreiber für die Aufrechterhaltung der genetischen Barriere" hin.
Vor Analyse keine Unterschiede
Nach Angaben des Historikers Walter Pohl von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der einer der leitenden Autoren der Studie war, hatte man vor der genetischen Analyse keine großen Unterschiede zwischen den Fundstätten in Leobersdorf und Mödling feststellen können. Die archäologischen Überreste der beiden Gemeinschaften und ihre Lebensweise waren demnach sehr ähnlich. "Die kulturelle Integration funktionierte offenbar trotz großer genetischer Unterschiede, und diese Menschen wurden offensichtlich auch als Awaren angesehen", sagte Pohl.
Wer waren die Awaren? Die Awaren waren ursprünglich ein ostasiatisches Volk, das in chinesischen Texten als "Rouran" bezeichnet wurde. Das ursprüngliche Awarenreich in der heutigen Mongolei wurde 552 n.Chr. durch die frühen Türken zerstört. Daraufhin wanderten zahlreiche Awaren und andere Steppenvölker nach Europa aus, wo sie sich zwischen 567 und 568 in der Pannonischen Tiefebene niederließen. Über mehr als 200 Jahre beherrschten die Awaren eine ethnisch und kulturell heterogene Bevölkerung in einem Gebiet, dass vom Osten des heutigen Österreichs bis in den Westen der Ukraine und von Tschechien bis Bulgarien reichte. Das Awarenreich wurde nach 800 durch die Franken Karls des Großen zerstört.
nature/idw (dn)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 30. Dezember 2024 | 21:45 Uhr