Gerechtigkeit Die ältesten Städte der Menschheit waren sozial meist ungleich – Archäologen rätseln: Warum?
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05. Mai 2025, 09:44 Uhr
Der stetig wachsende Abstand zwischen Arm und Reich gilt als Bedrohung unserer gegenwärtigen Gesellschaft, warnen vor allem Sozialwissenschaftler und Nachhaltigkeitsforscher. Doch Archäologen zeigen jetzt in einer großen Analyse: Die beständigsten Städte der Welt zeigen Hinweise auf große soziale Unterschiede. Warum scheinen Ungleichheit und Stabilität miteinander verbunden zu sein?
Der Mensch ist ein Gerechtigkeitstier. Nicht nur Kinder wollen am liebsten alles fair und gleichmäßig aufgeteilt haben. Auch Erwachsene finden große Unterschiede zumindest begründungsbedürftig – quer durch alle möglichen Kulturen und Gesellschaftsformen. Große soziale Ungleichheit gilt als Sprengstoff, an dem Gesellschaften zerbrechen können und aus Sicht der UN stellt sie ein zentrales Hindernis für Nachhaltigkeit dar. Archäologen beschäftigen sich deshalb aktuell sehr stark mit der Frage, wie das eigentlich früher war: Wie ungleich waren frühere Gesellschaften und wie lange hatten sie Bestand?
Zahlreiche Ausgrabungsstätten überall auf der Welt zeigen zunächst: Eine gewisse Ungleichheit ist fast allen größeren Siedlungen zu eigen. Denn die Größen der Häuser unterscheiden sich und oft auch deren Ausstattung: Viele schlichte Gebäude stehen wenigen großen und repräsentativen Bauten gegenüber. Und wo mehrere Städte in einem Netzwerk verbunden sind, gibt es größere Städte mit Prunk in der Mitte des Netzes und kleinere, schlichtere Siedlungen am Rand.
Aleppo und Damaskus: 6.000 Jahre alte Städte waren und sind sozial ungleich
Betrachtet man die unterschiedlichen Ausstattungen von Häusern als Ausdruck davon, dass deren frühere Bewohner offenbar unterschiedlich wohlhabend waren, dann stellt sich schnell die Frage, warum einige der ältesten Städte der Welt solche Unterschiede zugelassen haben? Wie können bis zu sechstausend Jahre alte Siedlungen wie Damaskus, Aleppo, Jerusalem oder Erbil so lange überdauern, wenn doch große Ungleichheit so oft als ungerecht empfunden wird?
Mehr noch: Nach der Auswertung von Daten aus hunderten Ausgrabungsstätten weltweit kommt ein Team internationaler Archäologen um Daniel Lawrence von der University of Durham in England zum Ergebnis, dass es einen zwar schwachen, aber signifikanten Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Überlebensdauer von Siedlungen gibt. Ungleiche Gesellschaften scheinen länger zu bestehen.
Führt soziale Ungleichheit zu Stabilität? Forscher skeptisch
Für die Studie in der aktuellen Ausgabe der Proceedings of the National American Society of Sciences (PNAS) hatten Lawrence und Kollegen ein globales Datenset ausgewertet, das Informationen zu mehr als 1.000 Ausgrabungsstätten enthält, die über 10.000 Jahre Menschheitsgeschichte repräsentieren. Dabei zeigte sich: Je größer die Netzwerke waren, in die eine einzelne Siedlung eingebunden war, desto stärker der Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Stabilität.
Ist Ungleichheit also der Grund für Stabilität? "Wir glauben nicht, dass das der Fall ist. Ungleichheit führt nicht zu größerer Stabilität und auch umgekehrt hat ein längeres Bestehen auch nicht automatisch mehr Ungleichheit zum Ergebnis", sagt Lawrence. "Sondern: Ungleichheit und Beständigkeit treten zusammen auf, weil es ein drittes Phänomen gibt." Die Hypothese der Forscher: Komplexität entscheidet. "Es geht um die Fähigkeit, in einem großen Maßstab verschiedene Güter zu bewegen und die Gesellschaft auf größere und komplexere Weise zu organisieren."
In der Mitte der Netzwerke gibt es mehr Zugriff auf Wohlstand
In komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaften muss nur noch ein Teil der Menschen Lebensmittel produzieren. Andere können sich um die Gesundheit der Menschen kümmern, Verteidigung organisieren oder den Austausch lebenswichtiger Güter vorantreiben. Komplexe Netzwerke entstehen und diese Netze haben eine entscheidende Eigenschaft: Menschen sind unterschiedlich gut vernetzt. Das ist die Theorie hinter einer anderen aktuellen Studie, die Christopher Carleton, Patrick Roberts und Kollegen am Max-Planck-Institut für Geoanthropologie in Jena mit archäologischen Daten unternommen haben.
Das Jenaer Team konzentrierte sich auf große Städte und besonders repräsentative Gebäude und Denkmäler darin. Solche Monumente gelten für die Forscher als Ausdruck des Wohlstands einer Elite. Wie gelingt es wenigen Menschen, mehr Reichtum anzuhäufen als der breiten Masse? "Wir glauben, dass die Elite einfach besser vernetzt ist, einen besseren Zugang zu den Ressourcen hat und sich deshalb effektiver versorgen kann. Der Zugang zum Wohlstand ist ungleich."
Friedliche oder gefährliche Nachbarschaft? Ungleichheit könnte von Umgebung abhängen
Warum war dieser ungleiche Reichtum einiger weniger für die Gesellschaften über lange Zeit akzeptabel? Dazu haben die beiden Forschungsteams unterschiedliche Ideen. Zum einen mache der insgesamt wachsende Wohlstand Gesellschaften attraktiv. "Siedlungen werden stabiler, weil es mehr Güter gibt, die zirkulieren", sagt Christopher Carleton. Solange alle profitieren, ist es demnach weniger tragisch, wenn Einzelne mehr Ressourcen bei sich anhäufen. Hinzu kommt: Ungleich ist nicht die Stadt als Ganzes. Sondern es gibt meistens gesellschaftliche Klassen, die in Wohnviertel zusammenleben. Und dort sei die Gleichheit meist sehr hoch.
Ein anderer Faktor ist möglicherweise die Umgebung. "Wenn es viel fruchtbares Land im Umfeld der Stadt gibt und keine Feinde existieren, können die Menschen einfach gehen, wenn es ihnen nicht mehr gefällt und Herrscher müssen freundlicher zu ihnen sein", argumentiert Daniel Lawrence. Wenn dagegen eine unfreundliche Nachbarschaft das Ausweichen schwieriger mache, könnten Herrscher leichter steile Hierarchien durchsetzen und sich eine breitere Elite leisten. Doch deren Wachstum ist auch nicht unbegrenzt. Ab einem bestimmten Punkt wachsen Großstädte wie Rom zwar weiter, der zur Schau gestellte Prunk im Zentrum nimmt aber nicht weiter zu. "Wir glauben, es gibt eine Sättigung, wo die Elite einfach nicht mehr Verbindungen eingehen kann." In der Vergangenheit gab es also möglicherweise ein natürliches Limit, wie reich jemand werden konnte.
Soziale Gleichheit und Stabilität: Auch das haben Menschen bereits erreicht
Dass der Zusammenhang in den Daten zwischen Ungleichheit und Stabilität aber nur schwach ist, zeigt aus Sicht der Forscher noch etwas anderes: Es gibt auch Gegenbeispiele, die sich genau umgekehrt verhalten. "Das erlebt man in der Archäologie häufig, denn die Menschheit ist diese verrückte Spezies, die alles Mögliche auf jede erdenkliche Art unternimmt", sagt Lawrence und lacht. "In der Südtürkei etwa sehen wir einige unglaublich langlebige Siedlungen, wo sich der Grundriss der Gebäude überhaupt nicht ändert. Sie sind alle sehr gleich und sie werden über Tausende von Jahren bewohnt. Wir vermuten, dass es dort eine starke Kultur der sozialen Gleichheit gab, die das Aufkommen von Königen oder Reichen verhindert hat." Ungleichheit ist also keine Voraussetzung für Beständigkeit.
Christopher Carleton sieht in diesen Abweichungen einen wichtigen Denkanstoß: "Die wirklich wichtige Frage ist vielleicht nicht: Ist soziale Ungleichheit unvermeidbar. Sondern: Wie können wir Ungleichheit herauf- oder herunterregeln, um zu den Ergebnissen zu gelangen, die wir haben möchten?"
Links/Studien
- Lawrence et.al.(2025): Housing inequality and settlement persistence are associated across the archaeological record, PNAS
- Carleton, Roberts et.al. (2025): Parallel scaling of elite wealth in ancient Roman and modern cities with implications for understanding urban inequality, Nature Cities
- Green et.al.(2025): Kuznets’ tides: An archaeological perspective on the long-term dynamics of sustainable development, PNAS
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 01. Mai 2025 | 11:15 Uhr
MDR-Team vor 2 Wochen
Wir stellen hier lediglich Nachfragen, weil uns Lücken in den Aussagen auffallen. Kritisch nachzufragen, wo wir Widersprüche sehen, nennt man Journalismus. Die Antworten, die so sichtbar werden, kann jede Leserin/ kann jeder Leser nutzen, um sich eine eigene Meinung zu bilden. So entsteht Demokratie.
Das scheinen Sie aber anders zu sehen und da haben wir Fragen: Was genau an dieser Moderation empfinden Sie denn als unverhältnismäßig? In wie fern üben wir Macht aus? Können Sie erklären, was Sie unter Tyrannei verstehen?
MDR-Team vor 2 Wochen
@Gisi5
Es sind mit Sicherheit nicht alle Menschen "von Gier und Habsucht" besessen, auch wenn natürlich die Vermehrung des eigenen Vermögens zu den Triebfedern der menschlichen Natur gehört. Und auf die soziale Ungleichheit in früheren Zeiten hinzuweisen, hat nichts mit der Vorbereitung auf den Kommunismus zu tun.
LG, das MDR-WISSEN-Team
Gisi5 vor 2 Wochen
Kaum zu glauben, schon der Titel lässt mich bitter aufstoßen.
Es wird niemals eine Gerechtigkeit geben. Der Mensch ist von Gier und Habsucht besessen. Und jeder ist so, einer mehr, der andere weniger.
Es gab und gibt leider immer noch diese Unterschiede. Schauen wir doch unsere heutigen Slams an. Ist das besser?
Nicht wirklich.
Aber es scheint mir, dass man hier nur Vorbereitungen treffen möchte, Vorbereitungen für eine Welt nach dem Kapitalismus. Dem Kommunismus. Ich war in Staatsbürgerkunde nicht so gut, weil mein inneres Ich immer etwas anderes wahrnahm als uns erzählt wurde, so wie jetzt eben auch. Aber diesen Satz unseres Lehrers werde ich nie im Leben vergessen " Um Kommunismus ist jeder gleich, niemand braucht Geld, man nimmt das was man braucht. "Die Menschen sind dann so, dass sie auch nie mehr nehmen als sie brauchen", bekam ich zur Antwort. Aber wer regelt, was jeder braucht?
Bestimmt wieder die, die annahmeweise mehr brauchen als dann ein Kommunist.