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WeltbiodiversitätsratIPBES-Bericht: Artenschutz-Weckruf oder Papierflieger?

08. Juli 2022, 16:22 Uhr

Wie steht es um die Ressourcen der Natur? Zeigt sich bereits ein Umdenken oder machen wir weiter so, als warte auf uns bereits ein Ersatzplanet? Der Bericht des Weltbiodiversitätsrates IPBES beleuchtet die Baustellen der Menschheit.

Viele Tiere in freier Wildbahn und natürlich vorkommende Pflanzen sind für Milliarden Menschen Teil ihrer Lebensgrundlage. Allerdings sind allein eine Million Pflanzen- und Tierarten vom Aussterben bedroht, warnt der Weltbiodiversitätsrat IPBES in Bonn in seinem jüngsten Bericht über die nachhaltige Nutzung wildlebender Algen-, Tier-, Pilz- und Pflanzenarten. Das gefährdet indirekt auch die Menschen, die wildlebende Arten für Nahrung, Energie, Material, Medizin, Erholung und andere lebensnotwendige Dinge nutzen.

Wilde Arten: gefährdet, weil sie gute Geldquellen sind

Auch die Pflanzenvielfalt schrumpft Bildrechte: imago images/TT

Gerade Menschen in Entwicklungsregionen seien mangels Alternativen oft gezwungen, bereits gefährdete Arten weiter zu nutzen. "70 Prozent der Armen in der Welt sind direkt abhängig von wilden Arten", heißt es in dem Bericht. Die richtige Nutzung wilder Arten sei nicht nur für den globalen Süden extrem wichtig. "Vom Fisch auf dem Teller, über Medizin, Kosmetik, Dekoration und Erholung –der Gebrauch wilder Arten ist viel mehr verbreitet, als die meisten Leute meinen", sagt Mitautorin Marla Emery. Zudem sei die Nutzung wildlebender Arten eine wichtige Einkommensquelle für Millionen Menschen. Wilde Baumarten machten zwei Drittel der globalen Industrie mit Rundholz aus. Der Handel mit wilden Pflanzen, Algen und Pilzen sei eine Milliarden-Dollar-Industrie. Der Bericht führt fünf Nutzungsformen an: Fischen, Sammeln, Holzfällen, die Jagd und das Beobachten. In den meisten Fällen habe das Nutzen wildlebender Arten zugenommen, aber der Grad an Nachhaltigkeit sei dabei unterschiedlich. Beispielsweise in der Fischerei: Schätzungen zufolge sind etwa 34 Prozent der wilden Meeresfischbestände überfischt, 66 Prozent würden in biologisch nachhaltigem Ausmaß gefangen. Allerdings sei in Ländern mit wenig Arten-Management der Zustand der Bestände oft kaum bekannt.

Welche Rezepte für mehr Nachhaltigkeit nennt der Bericht?

Für viele Menschen geht es ums blanke Überleben im Heute, wenn sie auf die Ressourcen der Natur zurückgreifen. Bildrechte: IMAGO / Peter Schickert

Haben die Autoren des Nachhaltigkeitsberichts ein Rezept, wie sich die Arten und Bestände besser schützen ließen? Sie schlagen sichere Pachtrechte und gerechteren Zugang zu Land vor, zu Fischerei und Wäldern; weniger Armut könne die nachhaltige Nutzung wildlebender Arten begünstigen. Außerdem sollten Wissenschaft und indigene Völker voneinander lernen, auch das könne zu mehr Nachhaltigkeit im Umgang mit den Ressourcen führen. Mit Blick auf den Fischfang plädieren sie unter anderem für eine Verringerung des illegalen und nicht regulierten Fischens und das Abschaffen schädlicher Subventionen. Bei der Holzernte schlagen sie eine Zertifizierung und Bewirtschaftung der Wälder für verschiedene Zwecke vor sowie technische Neuerungen, wodurch weniger Abfall bei der Herstellung von Holzprodukten entstehe.

Reaktionen aus der Wissenschaft

Und was sagt man in der Welt der Wissenschaft in Deutschland zu dem Bericht, zahnloser Tiger oder voll auf die Zwölf? In der Wissenschaft ist man sich uneins über den IPBES-Bericht.

Prof. Dr. Matthias Glaubrecht: Wir führen Krieg gegen die Erde

Dr. Matthias Glaubrecht ist Professor für Biodiversität an der Uni Hamburg. Der Bericht zeige, dass die Menschheit einen Krieg gegen die Natur führe, Tier- und Pflanzenbestände der Erde plündere als hätte sie einen zweiten Planeten in der Hinterhand. Der Fokus liege auf zwei Punkten, den desaströsen Waldverlusten in tropischen Regenwäldern, sowie auf der Nutzung von Tieren durch Jagd, Wilderei sowie Fischerei. Beides gefährde die Biodiversität, da die Nutzung überwiegend nicht nachhaltig erfolge. Glaubrecht liest im IPBES- Bericht aber auch Wege, wie man Wälder, Wildtiere an Land, Fische und andere aquatische Arten nachhaltig nutzen könne. Wie oder was kann der Bericht auf der Artenschutzkonferenz bewirken? Glaubrecht meint: Der Bericht könne helfen, einen möglichst umfangreichen Flächenschutz zu formulieren, damit bis zum Jahr 2030 wenigstens 30 Prozent der Oberfläche der Erde in naturnahem Zustand erhalten werden.

Dr. Rainer Froese: Der Bericht ändert nichts, nur politisches Handeln

Werden Fischarten und Bestände dezimiert, können sie ihre Aufgabe im Ökosystem nicht mehr erfüllen. Bildrechte: IMAGO / Nature Picture Library

Dr. Rainer Froese vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel (GEOMAR) ist die Kernbotschaft des Berichts zu allgemein gehalten. Kein Aufruf zu dringend benötigten Aktionen, wie die Beendigung der Übernutzung der Fischbestände, sondern "nur Gutfühl-Weisheiten". Sein Fazit: Der Bericht wird nichts am Zustand der europäischen Fischbestände ändern. Obwohl die Zahlen bekannt seien, wären die meisten Fischbestände in den europäischen Gewässern durch Überfischung zu stark geschrumpft, um ihre Rolle im Ökosystem erfüllen zu können und um dauerhaft hohe Fangmengen zu unterstützen: Froese fordert: "Wir brauchen nicht mehr Berichte, wir brauchen politisches Handeln."

Prof. Dr. Michael Köhl: Bericht muss kritischer hinterfragen

Für Prof. Dr. Michael Köhl, Spezialist für Weltforstwirtschaft am Institut für Holzwissenschaften der Uni Hamburg, zeigt der IPBES-bericht vor allem das Spannungsfeld zwischen dem Schutz der Biodiversität und der Waldnutzung. Zur Bekämpfung der nicht-nachhaltigen Holznutzung werden verschiedene Lösungsansätze aufgezeigt, wie Bewirtschaftungspläne, die auf der Basis einer Erhebung der Wälder aufgestellt werden, oder gering-invasive Nutzungseingriffe. Der Bericht fokussiert sich seiner Einschätzung nach auf Tropenwälder und geht nur am Rande auf die Unterschiede zwischen der Holzernte in Naturwäldern und in Wirtschaftswäldern ein. Er bemängelt dass die legalen Nutzungsregelungen, welche die zu entnehmende Holzmenge und den Zeitraum zwischen zwei Interventionen festlegen, nicht kritisch hinterfragt werden: Es sei sinnvoller, das Volumen der vom Bestand zu entnehmenden Holzmasse festzulegen und nicht nur die Holzmasse, die aus dem Wald entfernt wird.

Dr. Stefan Prost: Die Menschheit muss umdenken

Dr. Stefan Prost, Wissenschaftler am Department für Verhaltens- und Kognitionsbiologie der Uni Wien, lobt am IPBES-Bericht vor allem, dass er die lokale Bevölkerung und indigene Völker im Blick hat: Zum einen was Informationsaustausch zwischen Wissenschaft und Entscheidungsträgern und -trägerinnen angehe, aber auch zur Erarbeitung von Richtlinien und Überwachung von Tier- und Pflanzenpopulationen. Allerdings mahnt Wissenschaftler Prost an: Es brauche ein zentrales Umdenken, dass wir als Menschen Teil der Natur sind und diese nicht primär zu unserem Erhalt und unserer Unterhaltung diene.

Links/Studien

dpa/SMC/lfw

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