WISSEN-NEWS Gender-Formulierungen betreffen in Presseartikeln weniger als ein Prozent der Wörter

10. Oktober 2024, 11:00 Uhr

Zu lang, zu kompliziert, zu unleserlich – wie viel verlieren Texte durch genderinklusive Sprache? Das untersuchten Sprachwissenschaftler aus Mannheim in einer korpuslinguistischen Studie.

Die Fragen zu genderinklusiver Sprache sind in Deutschland zum Kulturkampf geraten. Diskussionen darüber werden stark und leidenschaftlich in der Gesellschaft diskutiert. Kritiker monieren oft, durch genderinklusives Deutsch würden Texte zu lang und kompliziert. Zudem sei es schwieriger, Deutsch zu lernen. Stimmt das? Dieser Frage gingen Wissenschaftler des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim in einer Studie nach. Dafür untersuchten sie, inwieweit deutschsprachige Pressetexte für eine gendergerechte Sprache umgeschrieben werden müssten. Die Forschungsmethode war die sogenannte Korpuslinguistik. Sie untersucht Sprache über große, meist digitalisierte Sammlungen von natürlich gesprochenen und geschriebenen Texten.

Kann Gendern ein Hindernis sein?

Das Ergebnis: Im Durchschnitt sind weniger als ein Prozent der Wörter in den untersuchten Texten von genderinklusiver Sprache betroffen. "Dieser geringe Anteil wirft die Frage auf, ob genderinklusive Sprache ein wesentliches Hindernis für das Verstehen und Erlernen der deutschen Sprache darstellen kann", sagte Professorin Carolin Müller-Spitzer, Leiterin der Studie. Zudem müsse man berücksichtigen, dass die Interpretation von generischen Maskulina auch nicht immer eindeutig sei.

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Manuelle Analyse betroffener Wörter

Für ihre Studie analysierten die Forschenden die Pressetexte manuell, um jene Teile zu identifizieren, die geändert werden müssten. Dabei bezogen sie alle Wörter ein, die betroffen sein könnten – nicht nur Nomen wie "Politiker“, sondern auch alle anderen relevanten sprachlichen Elemente wie Artikel, Adjektive oder Pronomen. "Nicht alle Änderungen hin zu einer genderinklusiven Formulierung führen zu einem längeren oder komplexeren Text", erklärte Ko-Autorin Samira Ochs. "Einige Wörter wie Lehrer könnten im Deutschen gut durch den Ausdruck 'Lehrkraft' neutralisiert werden."

Bezogen auf Personen müsste jedes zehnte Wort geändert werden

Allerdings: "Betrachtet man nur jene Wörter, die sich direkt auf Personen beziehen wie Studenten oder Mitarbeiter müsste etwa jedes zehnte Wort verändert werden, um einen genderinklusiven Schreibstil zu verfolgen", sagte Ko-Autorin Samira Ochs. Dann hieße es Studierende oder Belegschaft. "Betrachtet man jedoch alle Wörter, muss nur etwa jedes hundertste Wort umformuliert werden."

DPA erwähnt 80 Prozent Männer, Brigitte 60 Prozent Frauen

Zudem zeigt die Studie, wie viele Männer, Frauen oder queere Personen in den Texten erwähnt werden. Ein Ergebnis: in den analysierten Texten der Deutschen Presse Agentur (DPA) werden zu 80 Prozent Männer erwähnt, bei der Brigitte hingegen zu 60 Prozent Frauen, queere Personen kommen in der Textbasis der Studie nicht vor.

Weitere Studien notwendig

Die Autoren betonen, dass genderinklusive Sprache weiter empirisch untersucht werden muss. "Wie immer bei datengestützter Forschung können wir ein empirisch fundiertes Puzzleteil hinzufügen, das aber natürlich nicht alle Fragen beantworten kann", sagte Müller-Spitzer. Im Gegenteil: Die Beschreibung und der Vergleich der Komplexität von sprachlichen Elementen sei ein schwieriges Unterfangen. In Zukunft müssten auch tief verschachtelte Sätze und zusammengesetzte Wörter (Komposita) untersucht werden. Zudem müssten weitere Textsorten neben den Pressetexten untersucht werden.

Das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) Das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim ist die gemeinsam vom Bund und allen Bundesländern getragene zentrale wissenschaftliche Einrichtung zur Dokumentation und Erforschung der deutschen Sprache in Gegenwart und neuerer Geschichte. Es gehört zu den über 90 Forschungs- und Serviceeinrichtungen der Leibniz-Gemeinschaft.

kt/idw

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 09. Oktober 2025 | 15:40 Uhr

64 Kommentare

Schnickschnack vor 3 Wochen

Zitat: "Als sie sich jedoch über den Jungen beugen, sagt jemand vom Chirurgenteam mit erschrockener Stimme: „Ich kann nicht operieren – das ist mein Sohn.“
In der Tat, das ist schon sehr holperig: Hier wird unvermittelt der Bezugsmodus auf eine konkrete Person gewechselt.
Das ist nun wirklich oft genug und von verschiedenen Seiten kritisiert worden. Es scheint nicht von Interesse zu sein.

Ludolfino vor 4 Wochen

Richtig an ihrer Antwort ist, dass sich Sprache beständig ändert, je nach den praktischen Erfordernissen, auf die die Sprecher sprachlich (grammatisch wie semantisch) reagieren müssen. Da das generische Maskulinum Frauen nicht etwa nur "mitmeint", sondern genderneutral verwendet - also generisch - alle Geschlechter meint (auch Männer sind also nur "mitgemeint" und alle sonstigen Geschlechter), wird sich die Frage des Gendern in der Tat von allein lösen.
Das genderneutrale Maskulinum ist bereits die grammatische Antwort auf das praktische sprachliche Problem, alle gemeinten Individuen einer Gruppe mit geringstem sprachlichen Aufwand anzusprechen. Alltagssprachlich weiß man jedenfalls, wer alles als Kunde, Bürger oder Einwohner angesprochen werden soll.

Ludolfino vor 4 Wochen

"Falsche Verwendung des generischen Maskulinums" meint an dieser Stelle, dass kein kompetenter Sprecher des Deutschen versuchen würde, das Geschlecht des Arztes in der Geschichte zu verschleiern. Es sei denn, er will genau das. Die ganze Geschichte ist mithin ein Taschenspielertrick feministischer Linguistik, deren Assoziationstests in Meinekes Buch "Studien zum genderneutralen Maskulinum", 2023 übrigens wissenschaftlich gründlich dekonstruiert werden.

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