Eine Person sitzt auf dem Rasen inmitten eines Gartens und hält Ausschau. In den Händen hält sie einen Notizblock und Stift.
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Citizen Science – Bürger als Forscher Darum braucht die Wissenschaft Laien

14. September 2020, 11:42 Uhr

Die Geheimnisse des Universums untersuchen oder Wildtiere in ihrem freien Lebensraum beobachten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten daran, die Welt besser zu verstehen und sie ein Stück weit besser zu machen. Laien können ihnen dabei helfen, zum Beispiel in Citizen Science-Projekten.

Ein Acker in der Nähe von Köthen, der Weizen ist gerade erst geerntet worden und nur noch Stoppel ragen aus der Erde. MDR Wissen-Reporterin Daniela Schmidt stapft mit Tobias Reiners von der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung über den trockenen Boden. Die Reporterin versucht in einem Selbstversuch eine Woche lang so viel Wissen wie möglich zu schaffen. Mit dem Biologen Reiners ist sie auf der Suche nach Feldhamstern, genauer gesagt nach Feldhamsterbehausungen. "Die Löcher der Hamster sind bis zu zwei Meter tief und etwa 6 bis 7 Zentimeter breit", erklärt der Experte. "Manchmal findet man neben den Löchern auch Hamsterkot, der so aussieht wie kleine, schwarze Tictacs".

Junger Feldhamster (Cricetus cricetus) aufgerichtet in Wiese stehend.
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Kotsuche für die Wissenschaft. Im Projekt "Hamsterland" der Senckenberg Gesellschaft wollen Forschende und Laien die verbliebenen Feldhamster in Deutschland aufspüren. Feldhamster sind mittlerweile vom Aussterben bedroht, weil ihre Lebensräume – Steppen oder Äcker – schrumpfen oder landwirtschaftlich zu intensiv genutzt werden. Sie spielen aber im Gefüge der Arten eine wichtige Rolle: Sie lockern den Boden auf, halten ihn fruchtbar und sind Beutetiere für große und seltene Greifvögel wie den Rotmilan.

Die Masse macht's

Aktionen wie diese sind Teil von Citizen Science, also von Bürgerwissenschaften. Sie sind eine gute Möglichkeit für Laien und Interessierte, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei ihrer Arbeit zu unterstützen und so wissenschaftliches Handwerk zu erlernen – und genau die richtige Anlaufstelle für Daniela. In Deutschland bietet die Plattform "Bürger schaffen Wissen" rund 150 Projekte, bei denen Bürgerinnen und Bürger analog und digital mitforschen können – wie etwa auf den Feldern Deutschlands. Nach Stunden der Hamstersuche hat Reporterin Daniela eine Handvoll Feldhamsterbaue aufspüren können. Ohne die Freiwilligen sei Tobias Reiners aufgeschmissen, erklärt er: "Das Feld ist 20 Hektar groß und ich habe so eine Daumenregel: eine Person kann einen Hektar in einer Stunde absuchen. Wenn ich jetzt hier alleine dieses Feld ablaufen wollen würde, dann bräuchte ich dafür 20 Stunden und das hier ist ja nur ein einziges Feld. Wir müssen ja hunderte Felder abschauen und das können wir nur mit der entsprechenden Manpower und Womanpower".

Ein Mann liegt auf einem Acker und hat in den offenen Händen einen kleinen Feldhamster.
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Reiners und die Freiwilligen beobachten die Vorkommen der Hamster und sie sammeln Haarproben, mit denen Reiners die Hamstergene im Labor untersuchen kann. Daraus kann er die Größe des Genpools und den Zustand der Populationen ablesen. Bei dieser Datenauswertung im Labor können die Citizen Scientists nicht helfen, hier endet ihre Zuarbeit und die Bürgerwissenschaft kommt an ihre Grenzen. Aber die Freiwilligen aus Sachsen-Anhalt und anderen Bundesländern werden im Tierschutz aktiv: Sie zahlen den Landwirten, denen die Äcker gehören, Geld, damit diese Teile der Felder später oder gar nicht bewirtschaften und so die Hamster schützen.

Erkenntnisse und Wissen über die Welt – und sei es auch nur die Hamsterwelt – vermehren und die Lebensbedingungen von Tieren und vielleicht auch Menschen verbessern – so verfolgt dieses Forschungsprojekt die zwei großen Ziele der Wissenschaft: "Einmal kann man sagen, dass speziell seit der wissenschaftlichen Revolution das Erkenntnisinteresse immer verknüpft worden ist mit einem bestimmten Nutzen für den Menschen. Das bedeutet, dass man mit Hilfe der wissenschaftlichen Erkenntnisse das Leben der Menschen verbessern kann. Ein weiteres entscheidendes und wichtiges Ziel der Wissenschaft ist selbstverständlich, dass wir die Welt um uns herum verstehen und erklären wollen, ohne dass wir direkt einen konkreten Nutzen zur Verbesserung des Lebens haben", erklärt Markus Seidel, Mitarbeiter am Zentrum für Wissenschaftstheorie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.

Wissen schaffen von der Couch aus

Gemütlich von der Couch aus geht es in die Untiefen des Universums: im Citizen Science-Projekt Radio Zoo Galaxy muss Daniela Fotos von Himmelkörpern auswerten. "Da geht es um die Identifizierung und Zuordnung von Himmelsquellen, die man in Radiowellen sieht. Himmelsquellen senden auch Radiowellen aus, wie die Radiowellen, die wir vom Rundfunk oder von Handys kennen", erzählt Marcus Brüggen, Professor für Astronomie an der Sternwarte der Uni Hamburg und deutscher Koordinator für Radio Zoo Galaxy. Reporterin Daniela sieht auf einer Website einen Himmelskörper nach dem nächsten und muss die gelben Radiowellen den richtigen Quellen zuordnen.

ALMA-Radioaufnahme der Wolfe-Scheibe. Das Licht dieser frühen Scheibengalaxie stammt aus einer Zeit, als das Universum nur ein Zehntel seines heutigen Alters hatte
Radioaufnahme einer sehr, sehr alten Galaxie. Bildrechte: ALMA (ESO/NAOJ/NRAO), M. Neeleman; NRAO/AUI/NSF, S. Dagnello

Sie ist ein kleiner Teil eines extrem aufwändigen wissenschaftlichen Prozesses: Die Bilder der Himmelskörper stammen von einem Teleskop auf La Palma, dem größten Teleskop Europas, und Daniela wird mit ihrer Suche zur Amateur-Radioastronomin. Rund zehntausend Freiwillige haben sich laut Marcus Brüggen bereits bei der intergalaktischen Suche beteiligt. Bei der genauen Zuordnung steche der Mensch den Computer noch aus, erklärt der Astronom: "Das ist ja auch eine etwas ermüdende Tätigkeit und solche wiederkehrende Tätigkeiten lässt man natürlich gerne Maschinen übernehmen. Und da haben wir auch experimentiert damit, Algorithmen zu entwickeln und haben da keine besonders guten Erfahrungen gemacht. Da sind unsere menschlichen Gehirne noch so gut, Muster zu erkennen, Muster zu bewerten und Gemeinsamkeiten zu sehen am Himmel. Das nutzen wir in diesem Citizen Science Project und bitten Laien, die keinerlei Vorwissen haben müssen, in Astronomie oder Physik zu helfen."

Prof. Dr. Marcus Brüggen
Bildrechte: Marcus Brüggen

Reporterin Daniela kann dem Universum bei seiner Entwicklung zuschauen und den Experten helfen, die Rätsel um alte Galaxien und schwarze Löcher aufzudecken, sagt Marcus Brüggen: "Eine der Fragen, die die Leute antreibt ist, dass diese massiven schwarzen Löcher ein bisschen abstrus sind. Die sind so schwer, die haben teilweise eine Milliarde Sonnenmassen und es ist ein physikalisches Mysterium, wie die so schnell wachsen können. Manchmal denkt man, ein schwarzes Loch das zieht einfach alles an und verschluckt einfach alles und wächst dann wie ein kosmisches Monster oder so ein kosmischer Staubsauger. Das stimmt aber nicht. Und das untersuchen wir mit den Radiowellen. Das geht bis zu den allerersten Radiowellen, die man so sieht und die gab es, als das Universum weniger als eine Milliarde Jahre alt war."

Daten von Laien haben Qualität

Die Projekte seien lehrreich und unterhaltsam für die Teilnehmenden und für die Wissenschaftler mehr als nur ein Feigenblatt, erklärt Nicola Moczek vom Museum für Naturkunde Berlin. Sie betreut gemeinsam mit dem Verein Wissenschaft im Dialog die Plattform "Bürger schaffen Wissen".

Eine Frau schaut in die Kamera
Dr. Nicola Moczek betreut die Plattform Bürger schaffen Wissen Bildrechte: Hwa Ja-Götz

Die "Profi-Wissenschaftler" schätzten auch die Qualität der Daten der "Amateurwissenschaftler": "Gerade in der letzten Zeit haben sich relativ viele Studien damit beschäftigt, wie gut die Datenqualität von Bürgerinnen und Bürgern und die gleichen Daten von Wissenschaftlern sind: Da zeigt sich doch, dass die Citizen Science Projekte diesem Vergleich sehr gut standhalten können und oft damit punkten, dass viele viele Menschen die gleichen Daten bewerten und sammeln und dadurch zum Beispie eine größere Sicherheit kommt. Das heißt, dass wir dann mit gesicherten Referenzdaten viel besser vergleichen können, also generell auch die Plausibilität sehr stark geprüft wird". Wissenschaftlich aktiv werden Menschen aus allen Altersgruppen: Zehn Prozent der Teilnehmenden sind Kinder, den Rest machen Jugendliche, Erwachsene und Senioren gleichermaßen aus, so Nicola Moczek.

Aktuell sei die Plattform aber noch schwerpunktmäßig auf naturwissenschaftliche Forschung ausgerichtet: Aus der Politikwissenschaft, der Philosphie oder den Literaturwissenschaften beispielsweise gebe es keine einzigen Projekte.

Vom Bildschirm aus in den Urwald

Daniela Schmidt interessiert sich bei ihrem Selbstversuch zu Citizen Science noch für ihre nächsten Verwandten: Im Projekt Chimp and See muss sie Videomaterial aus Kamerafallen auswerten und tierisches Verhalten bewerten: Sie bekommt Videoschnipsel à 15 Sekunden, in Farbe und schwarz-weiß, und muss schauen, ob da Tiere darauf sind oder nicht, idealerweise Schimpansen.

Wissen

Ein wildlebender Schimpanse 4 min
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"Die ganz große Frage, die uns antreibt, ist: wie entsteht Vielfalt bei Schimpansen auf unterschiedlichsten Ebenen biologischer Organisation? Wie organisieren sich unterschiedliche demografische oder soziale Systeme? Wie kommt es, dass bestimmte Schimpansenpopulationen viele Handwerke benutzen und andere gar nicht? Und dafür brauchen diese Informationen", erzählt Hjalmar Kühl vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.

Ein Mann mit Kappi sitzt auf einer Parkbank
Bildrechte: MDR

Die Affen machen sich allerdings rar: Nach Stunden des Videoanklickens hat Daniela noch keinen namensgebenden Schimpansen gesichtet. So sei das eben, sagt der Experte: "Wir müssen sehr viele Daten aufnehmen, bevor wir mal eine Aufnahme von einem Schimpansen bekommen. Von 600.000 Videos à eine Minute sind etwa 20.000 Schimpansen-Videos dabei". Die Forscher wollen nicht nur wissen, ob und wie viele Affen unterwegs sind, in späteren Phasen sollen die Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler auch Alter, Geschlecht oder Verhaltensweisen bestimmen können. "Auch die Citizen Scientists machen Lernprozesse durch, wir haben sehr engagierte Leute, die zu Experten werden."

Wissenschaft soll raus aus dem Elfenbeinturm

Forscherinnen und Forscher bei ihrer Arbeit unterstützen, das soll nicht nur die eigene Erkenntnislust stillen und Spaß machen, sondern auch die Kluft zwischen Experten und Amateuren überwinden, erklärt der Wissenschaftstheoretiker Markus Seidel: "Ebenso wie der Bürger sich im politischen Bereich dadurch auszeichnet, dass er am politischen Entscheidungsprozess aktiv und mündig teilnimmt also politisch partizipiert, so scheint mir die Idee bei der Bürgerwissenschaft zu sein, dass die Bürgerwissenschaftlerin auch aktiv und mündig am Wissenschaftsprozess teilnimmt und partizipiert.

Ein Mann schaut in die Kamera
Bildrechte: Sebastian Stachorra/ZfW

Der Hintergrund ist, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse gerade durch die Professionalisierung von Wissenschaft oftmals abseits der Öffentlichkeit stattfinden, also in Laboren, die nicht öffentlich zugänglich sind – was ja auch Gründe hat, dass das so ist – und trotzdem die Ergebnisse aber politisch einflussreich sein können. Denken Sie da an die Coronadiskussion: die Erkenntnisse von Christian Drosten und seiner Gruppe werden selbstverständlich in seinem Labor hergestellt und werden dann auch veröffentlicht, aber niemand geht in dieses Labor rein und überprüft das. Trotzdem sind die Ergebnisse politisch extrem einflussreich." Wer Bürgerinnen und Bürger aktiv und auf Augenhöhe ins Forschungsgeschehen einbinde, erhöhe das Vertrauen der Gesellschaft in die Wissenschaften, so ein Leitgedanke von Citizen Science.

Die Vielzahl der Bürgerwissenschaften ist auch Ausdruck eines stetig wachsenden Forschungsbetriebes: Der wissenschaftliche Output verdoppelt sich alle neun Jahre und die Daten über die Welt, den Menschen und auch die Feldhamster werden immer mehr.

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