Evamarie Hey-Hawkins
Bildrechte: Liane Watzel

Porträt Sachsens berühmteste Chemikerin: Evamarie Hey-Hawkins

29. August 2021, 06:00 Uhr

Was für die einen in der Schule die Triade des Grauens war, ist für andere das Lebenselixier schlechthin: Chemie, Mathe, Physik. So wie für Evamarie Hey-Hawkins, die seit 1993 zu anorganischer Chemie an der Universität Leipzig forscht. Und Liane Watzel, die für MDR WISSEN im Gespräch mit der Forscherin nur fast in den Sog der anorganischen Chemie gerät.

"Ich bin Eva", sagt Professorin Dr. Evamarie Hey-Hawkins, als wir im MDR-Gebäude einen Kollegen treffen, der sich angesichts eines unbekannten Gesichts fröhlich als "Hallo, ich bin der Matthias!" präsentiert. Hey-Hawkins, etwa 1,65 Meter groß, lange, schwere dunkle Haare, kariertes Baumfäller-Hemd, bequeme Sandalen. Vielleicht hat sie in ihrer Jugend mal zu Led Zeppelin, Steppenwolf oder Jimi Hendrix‘ Gitarrenriffs gerockt. Den Versuch einer akkuraten Vorstellung "Professorin Evamarie Hey-Hawkins" wedelt die Wissenschaftlerin weg wie eine lästige Fliege, "Ach, nein, bitte nicht." Titel, Auszeichnungen, schön, wenn man sie hat, aber deswegen macht Hey-Hawkins nicht das, was sie seit Jahrzehnten macht: anorganische Chemie erforschen.

Hey-Hawkins und die Auszeichnungen

Tatsächlich dämmert es der Stadt Leipzig erst 2019, dass eine Forscherin ihrer Universität international berühmt ist für ihre Arbeit - und ehrte sie mit dem Leipziger Wissenschaftspreis. 2017 hatte Sachsen sie mit dem Verdienstorden des Freistaats ausgezeichnet, 2018 wurde sie als erste Professorin Leipzigs in die Europäische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Und im Sommer 2021 nun also der Karl-Ziegler-Preis der Karl-Ziegler-Stiftung, die 1993 als unselbstständige Stiftung bei der Gesellschaft Deutscher Chemiker eingerichtet wurde. Und nein, die Genderfrage lassen wir an der Stelle souverän links liegen, obwohl Hey-Hawkins die erste Frau ist, die den hochdotierten Preis bekommt und ihn auch nicht mit einer anderen ausgezeichneten Persönlichkeit teilen muss, wie das ja oft der Fall ist, wenn Frauen Auszeichnungen bekommen, wie 2020 zum Beispiel beim Leipziger Wissenschaftspreis. "Preise gut und schön, aber am Ende sind die alle auch nur mit meinem Team an der Uni möglich", sagt die Forscherin, die selbst kaum noch im Labor steht, wie sie bedauernd einräumt, weil sie statt dessen Forschungsarbeiten koordiniert, Promovierende betreut und in allerlei internationalen Gremien engagiert ist.

Hey-Hawkins und die Bücher mit sieben Siegeln

Aber wer ist Hey-Hawkins? Sie hat zwei Bücher mit herausgegeben wie "Boron-Based Compounds: Potential and Emerging Applications in Medicine" oder "Smart Inorganic Polymers: Synthesis, Properties and Emerging Applications in Materials and Life Sciences." Die Liste ihrer Veröffentlichungen ist lang, die ihrer Patente ebenso. Allein die Titel und Beschreibungen klingen für Chemie-Ferne nach Büchern mit sieben Siegeln.

Aber es ist vermutlich ok, an der Stelle nur Bahnhof zu verstehen. Auf die Frage nach Hey-Hawkins konkretem Forschungsfeld (bitte für Laien erklärt), holt die Wissenschaftlerin aus und versucht mich Schritt für Schritt einzuwickeln in die wunderbare Welt der Organophosphorchemie, mit biologisch aktiven Bor- und Übergangsmetallverbindungen oder heterometallischen Übergangsmetallkomplexen und Katalyse.

"Wir sitzen quasi wie ein Architekt am Reißbrett, überlegen uns, wie sollte dieses Molekül aussehen, damit es zum Beispiel eine bestimmte Funktion hat. In den Grundlagen der Chemie lernt man: Wie kann ich Bindungen zwischen Elementen herstellen, wie kann ich Bindungen brechen? Und mit diesem Wissen kann man sich ein Molekül, das eine bestimmte Funktion haben sollte, vorstellen... " Guter Versuch.

Ich verliere trotzdem den Faden zwischen Molekülen, Neutronen, Boratomen, Synthesen, Katalysen und Neutronenquellen. Hey-Hawkins hat eine angenehme, warme Stimme, ich könnte ihr stundenlang zuhören, wie sie so die Schönheit der Anorganik vor mir auffächert, immer im Blickkontakt, abschätzend, ob ich ihr folgen kann oder nicht. Allein, ich kriege nur einen Zipfel zu fassen und erahne die Faszination der Materie. Chemie im Alltag, Chemie in der Medizin, spannende Ansätze gegen Krebszellen.

Chemie, Mathe, Physik: Triade des Glücks oder des Grauens?

Unwillkürlich bedauere ich, dass mein Verhältnis zur Chemie nachhaltig getrübt ist, spätestens seit mein Lehrer Herr K. den Grundkurs Chemie in Klassenstufe 11 mit den Worten eröffnete: "Ich sag 's gleich, die Mädchen haben die Vier!" Hey-Hawkins schüttelt den Kopf: "War bei mir anders. Mathe, Physik, Chemie, das war immer meins. Zwar hat immer nur mein drei Jahre älterer Bruder die coolen Physikbaukästen gekriegt, aber der hat mich da immer rangelassen." Physik, Chemie, Mathematik, für die einen die Triade des Grauens, für Hey-Hawkins der Stoff, der seit Jahrzehnten ihren Puls beschleunigt. "Ich wollte immer wissen, was wie womit zusammenhängt und warum", sagt die Forscherin. Da, wo sie aufwuchs, in einem Dorf in den alten Bundesländern, war in den 70er-Jahren der Lebensweg eines Mädchens so vorhersehbar wie eine chemische Kettenreaktion: Schule, Ausbildung, Familie. Nur eben, dass Hey-Hawkins schon als junge Frau vom Weg abweicht, auch wenn ihre alleinerziehende Mutter ihr die Klassiker der "Mädchen-Sozialisation" für Wohlsituierte, nämlich Reiten und Klavierspielen, durch erhebliche persönliche Opfer ermöglicht.

Der Zündfunke, der Hey-Hawkins mit der Anorganik verschweißt

Auf Hey-Hawkins' Abitur, natürlich mit naturwissenschaftlichem Profil und als eines von vier Mädchen in dem Zweig, folgte ein Molekül aufs andere, Teilchen, Synapsen, Reaktionen, die in nichts Anderes münden konnten als in ein Leben als Wissenschaftlerin.

Erst das Chemie-Studium in Marburg. Dass die anorganische Chemie Hey-Hawkins Lebenselixier werden sollte - auch eine Art chemischer Reaktion. Der entscheidende Zündfunke dabei ist ein Experiment im ersten Semester, das Chemiker Prof. Dr. Kurt Dehnicke in einer Einführungsvorlesung zeigte, mit Jod, Aluminium und Wasser: Flammen, Hitze, lila Rauch und das Endprodukt, ein poröses, klumpiges Material namens Aluminiumtriiodid (wer sich nicht erinnert, hat den Chemiesaal als Ort der Demütigung und Niederlage erfolgreich verdrängt).

Studenten sitzen im Hörsaal
Ob es zündet in der Vorlesung liegt auch an der didaktischen Leistung der Lehrenden Bildrechte: IMAGO / Sven Ellger

Im Gespräch mit Hey-Hawkins jedenfalls nicke ich wissend, vermutlich mit dem gleichen glasig-interessierten Blick, den ich mir für den Chemieunterricht zugelegt hatte. "Wenn es überhaupt einen Moment gibt, in dem die Anorganische Chemie für mich persönlich geworden ist, dann jedenfalls da," sagt Wissenschaftlerin Hey-Hawkins rückblickend. "Als der Mann da vorne stand und uns erklärt hat, wie wichtig und wie toll Chemie ist, das Experimentieren, wieviel Spaß das macht, das war der Moment."

Rauchende Vorlesung als Einstieg in Forschungskarriere

Dieser Dehnicke ist es auch, der Hey-Hawkins später eine universitäre Laufbahn vorschlagen wird. Wann dem Chemiker selbst klar war, welch brillanten Kopf er mit Hey-Hawkins vor sich hatte, lässt sich heute nicht mehr sagen. Dehnicke, der selbst in Leipzig studierte, der zu Bortrifluorid promoviert hatte und mit der Ehrendoktorwürde der Uni Leipzig geehrt wurde, ist inzwischen verstorben.

Das zündende Experiment in dessen Vorlesung setzte für Hey-Hawkins jedenfalls eine Kettenreaktion in Gang. Eine Universitätskarriere wie im Bilderbuch, mit Stationen in Deutschland, England, China, Frankreich, der Türkei, Australien, Neeseeland, anfangs zu Studien-, später zu Forschungszwecken und schließlich als Gastprofessorin. 1993 dockt Hey-Hawkins in Leipzig an, eine Professur für Anorganische Chemie verbandelt sie für Jahrzehnte mit der Stadt an der Pleiße, auch wenn sie selbst lieber auf dem Land wohnt, einem kleinen Nest östlich von Leipzig.

Das Gute an der Ungeduld

Mehr als 80 Promotionen hat die Wissenschaftlerin seither begleitet und Generationen wissenschaftlichen Nachwuchses geprägt. Auch das ein regelrecht logischer Teil dieses stringenten Lebensweges: Wissen schaffen, Wissen weitergeben. "Im Labor stehe ich nur noch sehr selten", räumt die Wissenschaftlerin ein, Bedauern klingt mit. Ihr Alltag heute? Jeder Tag anders, Sitzungen, Treffen mit Promovierenden zu deren Arbeiten, Begutachtungen von Forschungsarbeiten, dazu die Mitgliedschaft in Fachorganisationen, Studiengesellschaften, Begutachtung von Publikationen und Anträgen.

Ein vielseitiger Alltag, für den es viel Geduld braucht, egal, ob es um Forschung und Forschungsziele geht, die einzelnen Arbeitsschritte mit Experimenten, deren Ergebnisse immer neue Fragen aufwerfen, oder um die Begleitung von Nachwuchs in der Wissenschaft. Wobei Geduld das ist, was Hey-Hawkins eher fehlt, wie sie selbst sagt: "Fragen Sie mal meine Mitarbeitenden..." Ob das ein Manko ist? Eher eine Frage des Blickwinkels: "Ungeduld ist ja auch eine Triebkraft. Wir lösen ein Problem, oder wir machen eine Entdeckung. Und mit dieser Entdeckung oder diesem Problem kommen wieder neue Fragen, neue Erkenntnisse. Das ist das Tolle an der Sache, dass wir eigentlich die ganze Zeit Neues dazulernen."

Studentin der Fachrichtung Anorganische Chemie bei einer Sichtprobe eines Filtrates an der Technischen Universitaet in Chemnitz
Studentin der Fachrichtung Anorganische Chemie bei einer Sichtprobe eines Filtrates an der Technischen Universitaet in Chemnitz Bildrechte: imago/photothek

Das ist das eine, was Hey Hawkins begeistert. Das andere: "Es kommen diese jungen Menschen und fangen an, Chemie zu studieren und stellen fest: Das ist Mathematik, das ist Physik, das ist auch eine ganze Reihe anderer Fächer. Das ist viel Theorie. Das ist viel Verstehen, nicht nur auswendig lernen, Zusammenhänge begreifen, Zusammenhänge erfassen, viel im Labor arbeiten." Die Hälfte der Ausbildung sei praktisches Arbeiten im Labor, also Handwerk, sagt Hey-Hawkins. Nicht nur Verbindungen herzustellen, sondern auch mit Chemikalien umzugehen. Vielen sei gar nicht klar, wieviel Präsenzzeit ein Chemiestudium verlange. Wobei sich eben genau da herausstellt, ob der Funke zündet, zwischen den jungen Leuten im Hörsaal oder Labor, und denjenigen, die ihnen die Materie nahebringen oder nicht. Aber vielleicht auch schon früher, in den Mitmachlabors, die die Uni anbietet, oder wenn die BELL, (Besondere Lernleistung in Stufe 11, Anm.d.Red.) an der Uni angedockt wird. Mit einem klaren Ziel: "Wir versuchen die jungen Leute früh für Chemie zu begeistern."

Was macht der Hai auf der Homepage der Anorganik?

Beim Stichwort Anorganik hat man vermutlich eher Formeln, Darstellungen von Molekülen, Mikroskopen oder Reagenzgläser vor Augen. Bleibt die Frage: Was macht der kleine Hai auf der Homepage der Professorin, der einen kleinen Fisch verfolgt? Tatsächlich eine Anspielung auf ihren Namen, der wie "Hai" gesprochen wird, sagt Hey-Hawkins. "Die ersten Promovierenden, die ich hatte, haben sich auch die Haie genannt. Manche hatten sich mal einen Hai aufs T-Shirt gedruckt. Und dann hat mal jemand diesen Hai für die Webseite programmiert." Manche hätten den Raubfisch mit dem offenen Maul auch gern inhaltlich genutzt, als Kritik-Plattform. Wobei Hey-Hawkins offen lässt, wer da aus Studierendensicht wen veschlingen wollte oder sollte. Der kleine Hai schwimmt allerdings nur noch bis 2023, dann geht Hey-Hawkins in Ruhestand.

Welche der Fische, die sie ins Meer der anorganischen Chemie begleitet hat, große und kleine Haie werden, wird sich zeigen, spätestens dann, wenn ihr wissenschaftlicher Nachwuchs bei Preisverleihungen auf Hey-Hawkins Lehrveranstaltungen als den zündenden Funken für den Sprung in die Anorganische Chemie verweist. Dann ist ihr das geglückt, wofür auch der kleine Hai auf ihrer Webseite sorgt: für Neugier, für Aufmerksamkeit, für Fragen: "Ich will Leute neugierig machen auf das, was wir tun, und das, was Chemie ist. Und insofern, denke ich, ist er auch ein schönes Symbol dafür."

1 Kommentar

Anni22 am 29.08.2021

Super Wissenschaftlerin. Solche Leute brauchen viel mehr. Mehr Naturwissenschaft und weniger "Laberfächer", so kann man Fortschritt gestalten!