Wissen, was wir lesen Tierspuren Europas. Spuren und Zeichen bestimmen und interpretieren.
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MDR WISSEN-Autorin Inka Zimmermann wagt eine unkonventionelle Trendprognose: Fährtenlesen ist der perfekte Zeitvertreib für den Corona-Winter. Sie empfiehlt ein Buch, in dem vielleicht alles steht, was die Menschheit darüber weiß. Und sie warnt: "Wer zu lange in diesem Buch blättert, wird vom akuten Drang gepackt, sich selbst einmal in die Spur zu begeben und in wasserfester Hose durch den Morast zu kriechen."

Eine Enzyklopädie des Fährtenlesens
816 Seiten mit 950 Aufnahmen und Zeichnungen – von allen Tierspuren, die in Europa potenziell zu finden sind, dazu eine umfangreiche Anleitung, wie diese Spuren gedeutet werden können. Dieses Buch ist in seiner Vollständigkeit wohl kaum zu schlagen! Ein extrem umfangreiches Nachschlagewerk – quasi eine Enzyklopädie im altmodischen Sinne. Eine, die Sie auch lesen können, wenn das Internet zwei Wochen nicht funktioniert, denn: Hier finden Sie wirklich alles, was Sie zum Thema Fährtenlesen wissen wollen. Zusätzliches Googeln ist garantiert nicht nötig!
Sortiert sind die "Tierspuren Europas" nach ihren biologischen Klassen: Säugetiere, Vögel, Amphibien und Reptilien sowie Insekten. Vier Jahre lang hat Autor Joscha Grolms dafür Tierspuren fotografiert und Daten erhoben. Von mehr als 25.000 Aufnahmen schaffte es nur ein Bruchteil in dieses Buch.
Die meisten Tierspuren sind sogar in Originalgröße abgedruckt – sofern diese nicht das Format des Buches sprengte. Und weil Fährtenlesen weit über Fußabdrücke hinausgeht, gibt es zu all diesen Spuren noch: Fotos von Kothaufen, Beutetieren, Verbiss-Spuren und vieles mehr.
Fährtenleser sind Profiler
Was im Wald beim Fährtenlesen passiert, ist mindestens so spannend wie der Sonntagabend-Tatort, denn: Fährtenleserinnen und -leser arbeiten akribisch wie ein Kriminal-Profiler, der eine frische Leiche gefunden hat. Die Fußspuren der Tiere – der Profi spricht von "Trittsiegeln" – sind der wichtigste Anhaltspunkt, um ein Tier zu identifizieren. Diese Spuren werden dokumentiert, via Kamera oder Zeichnung. Und dann wird ermittelt: Was ist hier passiert? Wie ging es dem Tier? Wo ist das Tier jetzt?
Um dieses Fragen zu beantworten, setzen Fährtenlesende all ihre Sinne ein: Ist die Spur noch ganz frisch oder schon angetrocknet? Welche Geräusche lassen sich wahrnehmen? Und was kann man riechen? Als gestresste Großstadtbewohnerin finde ich die Vorstellung geradezu romantisch, auf der Pirsch nach einem seltenen Wildtier schnuppernd einen Haufen Dung zu umrunden. "Mit wachsendem Bewusstsein dessen, was wirklich in der Natur geschieht, beginnen wir, unzählige Dinge zu erfassen und zu begreifen, die wir bisher nicht einmal wahrgenommen haben", wird an dieser Stelle der BBC-Naturfilmer Hugh Falkus zitiert.
Grundkurs Fährtenlesen von einem Profi-Fährtenleser
Buchautor Joscha Grolms ist Co-Leiter einer Wildnisschule und bietet Lehrgänge zum Fährtenlesen an. In Deutschland gilt er als einer der führenden Experten zum Thema. Sein Buch wirkt darum vielleicht ein wenig wie das Lehrbuch zum Grundkurs Fährtenlesen: Faktenreich, gut erklärt und unfassbar detailliert. Dieses Buch wiegt über zwei Kilogramm! Laien und Laiinnen könnten vom Umfang des Werkes ein wenig erschlagen werden. Aber wer ein gewisses Grundinteresse am Thema mitbringt, wird an "Tierspuren Europas" seine helle Freude haben.
Begeben Sie sich auf die Suche!
Fährtenlesen ist ein komplexes Metier. Gut, dass in diesem Fall einfache, aber verständliche Erklärgrafiken zum Verständnis beitragen. So lässt sich der Unterschied zwischen "Hoppeln" und "Parallelsprung" auf einen Blick erfassen. Extrem niedliche, formatfüllende Tierfotos lockern das Buch weiter auf. Und beruhigen zwischendurch die Nerven, denn: Wer Wildtiere finden will, muss auch ihre Beutetiere kennen. Auch die sind in diesem Buch abgebildet – und teilweise ziemlich übel zugerichtet, nachdem das entsprechende Jagdtier sie schon einmal im Mund hatte.
Dass Autor Joscha Grolms für das Thema brennt, steht außer Frage.
Und Vorsicht: Wer zu lange in diesem Buch blättert, wird vom akuten Drang gepackt, sich selbst einmal in die Spur zu begeben und in wasserfester Hose durch den Morast zu kriechen. Immer auf der Suche nach scheuen Wildtieren.
Ist dieser Wunsch einmal gefasst, liefert "Tierspuren Europas" alle weiteren Schritte:
- Suchen Sie sich ein Revier und machen Sie es zu Ihrem Fährtenleserevier!
- Erstellen Sie eine Artenliste mit allen Tieren, die Sie dort finden können.
- Konzentrieren Sie sich auf Ihre Lieblingstierart und erstellen Sie ein Journal: Was machen die Tiere so im Wald? Werden Sie zum Stalker!
Was bleibt hängen?
Wer Wildtiere anhand ihrer Spuren finden will, braucht Ausdauer. Joscha Grolms vermittelt auf leidenschaftliche Weise, warum es sich dennoch lohnt, beispielsweise stundenlang in der polnischen Einöde auf ein paar Wisente zu lauern. Kälte, Matsch, Langeweile – alles vergessen beim Anblick der majestätischen Tiere!
Und selbst wer sich dann doch gegen die Pirsch im Wald und für die Gemütlichkeit auf der Couch entscheidet, kann mit diesem Buch viel Neues lernen, denn: Diese Enzyklopädie der Spuren ist zugleich auch eine Enzyklopädie der Tiere. Selten wurden alle Tierarten Europas derart umfassend vorgestellt. Und inspirierend ist "Tierspuren Europas" auf jeden Fall. Sie können sich alternativ also auch eine kuschelige Decke schnappen, die Augen schließen und nach der Lektüre davon träumen, einer aufregenden Fährte durch den Wald zu folgen. Im Sinne des Autors wäre das sicher nicht – aber Sie lernen trotzdem viel, versprochen!
Die Rezensentin
MDR WISSEN-Autorin Inka Zimmermann hat sich in einen Förster verliebt. Seitdem sind stundenlange Waldspaziergänge quasi obligatorisch. Und das spannendste am Wald sind ja wohl immer noch die Tiere! Rehe, Waschbären oder einen Waldkauz entdecken – jedes Mal ein Highlight.
Vielleicht finden derartige Begegnungen künftig häufiger statt, denn: Wer die Spuren der Tiere lesen kann, der kann sie auch finden. Oder hat zumindest einen unterhaltsamen Zeitvertreib für besagte lange Spaziergänge.
Hier bei MDR WISSEN geht Inka Zimmermann nun öfter auf die Pirsch – nach guten Büchern!