Cover "Weltgeschichte der Flüsse"
Bildrechte: Siedler Verlag

Buchtipp der Woche Weltgeschichte der Flüsse. Wie mächtige Ströme Reiche schufen, Kulturen zerstörten und unsere Zivilisation prägen

26. Juni 2022, 15:00 Uhr

Flüsse sind die Adern der Welt, und sie waren die Voraussetzung für die Entwicklung von Siedlungen und Kulturen. MDR WISSEN-Redakteur Karsten Möbius hat eine Neuerscheinung über sie gelesen und dabei viel Neues, Spannendes wie Überraschendes, entdeckt. Hier beschreibt er, was ihn an diesem Buch fasziniert und warum er es empfiehlt.

Mann in dunkelblauem Hemd vor unscharfen Nadenbäumen, wenig Kopfhaare, schwarze Brille, sympathisch in die Kamera blickend
Bildrechte: MDR/Karsten Möbius

Ohne Flüsse keine Zivilisation

In diesem Buch geht um das Phänomen Fluss, in allen seinen Facetten. Um den Fluss als Wasserlieferant und Lebensspender, den Fluss als Hinrichtungsstätte, den Fluss als Grenze und als Verbindung zwischen Regionen, als Verkehrsader, den Fluss als Verteidigungslinie oder gar als Waffe. Es geht vor allem um die Frage, was wäre die Menschheit, die Erde, wenn es das Phänomen Fluss nicht gäbe? Es würde – so die These – die wichtigsten Städte der Welt nicht geben: London, Paris, Rom, Moskau, Kairo, New York, Shanghai oder Bagdad. Ansiedlungen an Flüssen waren wahre Magneten und führten zu den ersten großen Metropolen.

Durch die Nähe der Flüsse wurden berechenbare Ernten möglich. Es gab mehr zu essen als man brauchte, Verwaltung, Verteilung, Statistik, Politik, Philosophie und Wissenschaft wurden notwendig und möglich. Die ersten Ingenieure beschäftigen sich mit Bewässerungsanlagen und Bollwerken gegen Überschwemmungen. Das alles waren Dinge, die die Nähe von Flüssen mit sich brachte. Natürlich entführt uns dieses Buch auch in die Zeit der ersten Regenfälle auf unserem Planeten und damit in die Zeit, als Flüsse überhaupt erst entstanden.  

Smith, Laurence, Weltgeschichteder Flüsse - Schmelzender Eispanzer auf Grönland
Eine Weltkarte ohne Berge, Länder, Städte --- nur Flüsse
Diese Karte wirkt so wundervoll filigran, wie Kapillaren, wie der Fingerabdruck unserer Welt.
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Die Welt durch die "Flussbrille" betrachtet

Natürlich wissen wir, dass Flüsse als Grenzen dienen, zur Bildung von Metropolen führten und das alles. Aber welche Bedeutung Flüsse für die Weltgeschichte und die Menschheit spielen und gespielt haben, das lässt schon staunen. Das Buch sieht die Welt natürlich durch die "Flussbrille", aber die Argumentation, dass Statistik, Politik und Verwaltung durch den Einfluss der Flüsse befördert und entstanden sind, beeindruckt schon. Genauso, welche Rolle Flüsse bei der Entdeckung der Welt spielten und auch bei der Entstehung der USA, die es ohne die Landnahmen, den Landverkauf entlang von Flüssen wohl heute nicht gäbe.

Smith, Laurence, Weltgeschichteder Flüsse
Der Fluss als Waffe:
1938 leitete General Tschiang Kai-scheck den Gelben Fluß um, um den japanischen Vormarsch zu verhindern. Dabei kamen als Kollateralschaden auch 900.000 Chinesen ums Leben.
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Wissenschaftler und Kommunikator

Geschrieben hat das Buch Lawrence C. Smith – ein Amerikaner. Ein Geograph und Umweltforscher. Er ist ein preisgekrönter Wissenschaftler und Autor. Offensichtlich einer von der Kategorie, die ein Gespür dafür haben, wie man wichtige Dinge gut an die Menschen bringt. Er hat die US-Regierung in Fragen des Klimawandels beraten und arbeitete am Weltklimabericht 2007 mit. Smith forscht und lehrt in Los Angeles an der University of California.

Cover "Weltgeschichte der Flüsse"
Bildrechte: Siedler Verlag

Die Daten zum Buch Laurence C. Smith: Weltgeschichte der Flüsse. Wie mächtige Ströme Reiche schufen, Kulturen zerstörten und unsere Zivilisation prägen. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder. Siedler Verlag 2022, 448 Seiten, 26 Euro, ISBN 978-3-8275-0155-4

Geschichte. Gesellschaft. Geographie. Krimi.

Es ist ein Sachbuch – eindeutig mit Unterhaltungswert. Es gibt Abschnitte, von denen kann man gar nicht genug bekommen. Beispielsweise die Geschichte des Alten Ägyptens, die untrennbar mit den Hochwassern des Nils verbunden war; Wohlstand und Aufstände lassen sich an den Hoch- und Niedrigwassern dieses Flusses festmachen. Die ersten erhaltenen Aufzeichnungen der Menschheit sind Pegelstände des Nils. Oder die Entstehung der USA, die unter anderem durch einen Kauf der Landfläche entlang des Mississippi entstanden ist. Und weil man nicht wusste, wie der Fluss verläuft, erkannte man später erst, dass man einen halben Kontinent erworben hatte (3,2 Millionen Quadratkilometer).

Es ist ein Krimi, ein Geschichts- und Gesellschaftsroman und es ist Geographie-Lektüre in einem.

Smith, Laurence, Weltgeschichteder Flüsse
Der Louisiana-Kauf von 1803, bei dem man, ohne es zu wissen, die Hälfte der heutigen USA kaufte. Bildrechte: Siedler Verlag

Flüsse mit anderen Augen sehen

Wie so oft nach solcher Lektüre sieht man den Gegenstand der Betrachtung mit anderen Augen. An einem Fluss sitzend, werde ich künftig daran denken, dass Flüsse uns den Überfluss brachten, die Ingenieurskunst und vielleicht sogar die Politik. Dass wir damals begannen, Flüsse zu bändigen und heute versuchen, ihnen eher wieder freien Lauf zu lassen, weil wir wissen, wie wichtig gut funktionierende Flüsse und Biotope sind. Ich werde auch immer daran denken, dass in der französischen Revolution spezielle Lastkähne gebaut wurden, um Menschen darin in der Loire zu ertränken und dass es auf der Welt 219 Länderpaare gibt, die durch Flüsse miteinander verbunden oder durch Flüsse voneinander getrennt sind.

Einen letzten Gedanken hätte ich beinahe vergessen – nämlich, dass Flüsse auch immer wieder daran erinnern, wie wichtig Wasser ist. Der einzige Rohstoff, der durch nichts anderes zu ersetzen ist. Es geht um Kriege um Wasser, die der Welt drohen. Schon jetzt – schreibt Smith – liefert eine Websuche zum Thema jede Menge Ergebnisse.

Buchseite
links oben: Schmelzender Eispanzer auf Grönland Bildrechte: Siedler Verlag
Mann in dunkelblauem Hemd vor unscharfen Nadenbäumen, wenig Kopfhaare, schwarze Brille, sympathisch in die Kamera blickend
Bildrechte: MDR/Karsten Möbius

Der Rezensent Karsten Möbius ist Wissenschaftsjournalist mit Leib und Seele. Er produziert bei MDR WISSEN u.a. den Podcast "Die großen Fragen in 10 Minuten". Er gibt nicht eher Ruhe, bevor er nicht in einem Details die grundsätzliche Bedeutung, in einer neuen Erkenntnis die spannende Geschichte entdeckt hat. Man merkt ihm an, dass ihm die Entdeckung der Welt jeden Tag wieder richtig Spaß macht.

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