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Tausende Chemikalien stecken in unserem Alltag. Nur wie reagieren sie miteinander, welche Mischungen sind toxisch? Dazu gibt es kaum Forschung. Bildrechte: imago/photothek

ToxikologieChemie-Cocktail des Alltags: Sorgt er für verzögerte Sprachentwicklung?

14. März 2022, 11:21 Uhr

350.000 Chemikalien gibt es weltweit, in der EU sind 22.000 zum Verbrauch und zur Produktion zugelassen. Nur weiß niemand, wie die miteinander reagieren, wann daraus toxische Mischungen entstehen können. Forscher sagen, Mischungen erreichen sogar Föten und wirken sich auf die spätere Sprachentwicklung aus.

Ob im Hausstaub, in Tieren, im Ökosystem oder im menschlichen Körper und sogar in Neugeborenen: Chemie aus der Umwelt und dem Alltag steckt überall drin.

Zum Beispiel Flammschutzmittel, Pestizide, wasserabweisende Mittel, Weichmacher und Rückstände von hochgiftigen Chemikalien, die schon vor Jahrzehnten verboten wurden. 350.000 Chemikalien und technisch erstellte Zusammensetzungen sind einer Studie zufolge weltweit bekannt; in der EU sind 22.000 Chemikalien zugelassen, werden produziert und benutzt. Für den Kontakt mit Lebensmitteln sind 8.000 verschiedene Chemikalien zugelassen; und noch einmal 4.800 weitere Stoffe die für Pfannen, Wasser abweisende Freizeit-Bekleidung, bis hin zu Keksverpackungen benutzt werden.

Wissen Sie, wie Ihr Chemie-Cocktail in der Badewanne wirkt? Bildrechte: imago images/Panthermedia

Die Umwelt- und Verbraucherschutzorganisation Chem Trust mahnt: Weltweit sind mehr chemische Stoffe im Umlauf, als die Erde verkraften kann. Das bedrohe zum einen die Ökosysteme und entsprechend die Lebensgrundlage der Menschheit. Zum anderen sei von vielen Chemikalien noch gar nicht bekannt, wie sie im Zusammenspiel mit anderen Chemikalien weiter wirkten. In der Regel werden nämlich nur einzelne Chemikalien auf eine bedenkliche Höchstgrenze untersucht. Wie reagieren die Chemikalien im Badeschaum mit der Seife, dem Shampoo, der Haarspülung? Für Einzelbestandteile liegen Höchstgrenzen vor, nicht aber für die Mischung. Es fehlen systematische Erfassungen und Untersuchungen ihrer Metaboliten (so nennt man Stoffwechselprodukte, die z.B. entstehen, wenn mehrere Chemikalien zusammenkommen) und wie diese sich auf Mensch, Tier und Natur auswirken.  

Ist Wirkung von Chemie-Mischungen berechenbar?

Ninja Reineke, Head of Science und Vorstandsvorsitzende von Chem Trust Europe, fordert besser hinzuschauen: "Wenn wir Mensch und Umwelt angemessen schützen wollen, dürfen wir die Augen nicht länger davor verschließen, dass Chemikalien sich in ihren schädigenden Wirkungen verstärken können. Die Bewertung der Stoffgemische darf nicht wie bisher die Ausnahme sein, sie muss zur Regel werden." Zwar ist es unrealistisch, sämtliche chemisch denkbaren Kombinationen auf ihre Nebenwirkungen, bedenkliche Höchstwerte etc. tatsächlich zu untersuchen. ChemTrust plädiert deshalb für eine pragmatische Lösung, indem man nämlich einen Mischungsbewertungsfaktor (MAF) errechnet. Dafür wird das "sichere" Expositionsniveau, das für eine einzelne Chemikalie bestimmt wird, durch einen zusätzlichen Unsicherheitsfaktor, den Mischungsbewertungsfaktor geteilt. Diese Misch-Beurteilung sollte in die rechtlichen Vorgaben der EU für Chemikalienverwendung einfließen. Eine weitere Forderung: Die gefährlichsten Chemikalien sollten identifiziert und kontrolliert werden, und ihre Verwendung eingeschränkt. Dafür braucht es mehr Mittel für Biomonoitoring und Umweltüberwachungsprogramme. Für besonders hormonell wirksame Chemikalien brauche es schnellere Verwendungskontrollen und Regulierungsverfahren.

Chemiemix im Mutterleib

Dass das tatsächlich nötig ist, verdeutlicht eine Studie von Forscherinnen und Forscher aus Leipzig, Karlstad in Schweden, aus Mailand und Stockholm. Sie haben die Nebenwirkungen von zwanzig chemischen Stoffen und ihren Metaboliten untersucht und analysiert, wie diese Stoffwechselprodukte die kindliche Entwicklung beeinflussen. Dabei hatten sie die sensible Gehirnreifung von Ungeborenen während der Schwangerschaft im Blick. Die Analyse aus epidemiologischen Daten und molekularbiologischen Experimenten zeigt: 54 Prozent der Kinder einer epidemiologischen Kohorte waren schon vor der Geburt bedenklichen Mengen von Chemikaliengemischen ausgesetzt. Und das hatte Folgen, sagen die Forscher. Der Chemiecocktail, dem die Ungeborenen noch im Uterus ausgesetzt waren, soll bei 2,5 Jahre alten Kindern zu einem 3,3 mal höheren Risiko einer verzögerten Sprachentwicklung geführt haben.

Verzögerte Sprachentwicklung durch den Chemiecocktail?

Wie haben sie das untersucht und festgestellt? Erst identifizierten sie potenziell gesundheitsgefährdende Chemikalien-Mischungen. Dann untersuchten sie Blut- und Urinproben von Schwangeren aus der zehnten Schwangerschaftswoche. Untersucht wurden Proben von Frauen, deren Kinder mit zweieihalb Jahren Sprachentwicklungsstörungen zeigten.

Dies und das aus dem Alltag landet im Mund von kleinen Kindern. Bildrechte: imago/Science Photo Library

Dazu wurden 15 sogenannte endokrine Disruptoren (EDC), also hormonaktive, chemische Substanzen, die schon in Kleinstvorkommen der Gesundheit schaden, und ihre Mischungen identifiziert. Danach untersuchten die Forschenden an Gehirnorganoiden aus menschlichen Stammzellen und in Tierversuchen, ab welchen Grenzwerten der EDC-Mix schädlich wirkt. Dabei fanden sie Grenzwerte, bei denen sich der EDC-Mix auf die Aktivität von Genen des Hormonhaushaltes auswirkt, sowie auf Gene, die mit Autismus assoziiert sind. Untersuchungen mit Kaulquappen und Zebrafischen zeigten Auswirkungen auf die Schilddrüsenfunktion und die neurologische Entwicklung der Versuchstiere. Der Abgleich dieser Grenzwerte mit den Daten der Urin- und Blutproben zeigte, dass viele Kinder der Kohorte einer potenziell toxischen Gemischmenge in der Schwangerschaft und damit einem höheren Risiko einer Entwicklungsstörung ausgesetzt waren. Diese Ergebnisse zeigen für die Forschenden klar, dass es eine Risikobewertung von Chemikalien-Gemischen geben muss.

Gemischte Stimmen aus der Forschung

Allerdings ist diese Studie in der Fachwelt umstritten. Dr. Thomas Hartung von der Johns-Hopkins-Universität in den USA lobt den methodischen Ansatz: "Mit dem traditionellen Zugang – das heißt, die Einzelstoffe in teuren und langwierigen Tierversuchen zu klassifizieren –, Grenzwerte festzulegen und danach die Bücher zuzumachen, werden wir da auch kaum weiterkommen." Er lobt den Ansatz der Studienautoren: "Mit der verzögerten Sprachentwicklung haben die Autoren ein gut messbares Kernsymptom des Autismus gewählt. Sie fokussieren zudem auf einen sehr plausiblen, aber bisher kaum erfassten Mechanismus: Die Störung von Schilddrüsen-Hormonen durch Chemikalien. Sie bringen Licht in mögliche Ursachen für die enorme Zunahme von Autismus-assoziierten Störungen. Chapeau!"

Weniger euphorisch wertet Professor Dr. Marcel Leist von der Universität Konstanz den Ansatz. Aber die Grenzwertbestimmung für den Chemikalienmix der Studie sei quantitativ nicht ausreichend. Es sei nicht klar, ob der beobachtete Effekt auf das Gemisch oder auf einzelne Komponenten zurückzuführen sei. Für ihn ist die Feststellung, 54 Prozent der Kinder aus der untersuchten Kohorte sei potenziell gefährdenden Mengen an EDCs ausgesetzt, nicht nachvollziehbar. Die Studie könne keine quantitativen Aussagen über menschliche Gefährdung machen. Aber: Auch für ihn weist die Studie auf einen Missstand hin, dass die Wirkung von Chemikalien-Cocktails nicht ausreichend untersucht werden.

(lfw)

Links/Studien

Die im Fachmagazin Science veröffentlichte Studie "From cohorts to molecules: Adverse impacts of endocrine disrupting mixtures" können Sie hier im Original nachlesen.

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