Corona Immunserum
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Heilmittel gegen Covid-19 Corona-Immunplasma-Therapie: Antikörper? In die Körper!

24. August 2020, 09:40 Uhr

Milliarden von Euro, Dollar oder Yuan werden weltweit gerade in Forschungen an Impfstoffen und Heilmitteln gegen das neue Coronavirus investiert. Doch so paradox es klingt. Ein über 100 Jahre alter Behandlungsansatz scheint vorübergehend der erfolgversprechendste zu sein: Die Immunserum-Therapie. Jetzt hat die US-Regierung per Notfall-Genehmigung den Einsatz erlaubt. In Mitteldeutschland gibt es schon seit den Frühjahr Forschungen dazu.

Es ist geradezu paradox: In Zeiten der Coronakrise, wo die Entwicklung potentieller Impfstoffe in einem bisher nicht für möglich gehaltenen Tempo voranschreitet und weltweit mit Hochdruck an neuen Medikamenten geforscht wird, scheint ein alter Behandlungsansatz zumindest vorübergehend der erfolgversprechendste zu sein: Die Immunserum-Therapie. Das Prinzip ist so einfach wie genial: Wer von einer Viruserkrankung genesen ist, hat Antikörper gegen das Virus gebildet. Diese Antikörper können aufbereitet und anderen Patienten, die noch an dem Virus leiden, verabreicht werden und so ihre Heilungschancen verbessern.

Die Therapie wurde schon bei vielen Pandemien angewandt, von der Spanischen Grippe (1918-1920) über SARS (2002-2003) bis hin zu Ebola (2014-2016). Und auch heute ist sie wieder aktuell und gilt als Brückentechnologie, deren großer Vorteil der schnelle Einsatz ist. Denn eines ist sicher: Selbst in diesen rasanten Zeiten brauchen Schutzimpfungen und Medikamente zur Passivimmunisierung Monate oder Jahre in der Entwicklung. Zwar bietet die Serum-Therapie nur einen kurzfristiger Schutz von wenigen Monaten und muss bei Bedarf wiederholt werden. Angesichts der massiven Herausforderungen, vor die Corona die Menschen stellt, ist das aber das kleinste Problem. Ein viel größeres ist dagegen die Frage, ob die Serumtherapie bei Covid-19 überhaupt wirkt?

Was uns die Geschichte sagt – und worüber sie schweigt

Dass die Passivimpfung mit Serum auch bei Covid-19 erfolgreich sein könnte, wird zwar gemeinhin angenommen und die Methode aktuell auch vielfach gepriesen, wissenschaftlich fundierte Erfahrungen gibt es aber noch nicht. Deshalb müssen alle, die aktuell an der Serumtherapie für Covid-19-Patienten forschen, ihre Planungen in Analogie zu jenen Arbeiten gestalten, die bei früheren Viruserkrankungen durchgeführt wurden. Zugute kommt den Forschern dabei die Erkenntnis, dass der Einsatz von Immunserum bereits bei anderen Pandemien gewirkt hat und sowohl in der Spanischen Grippe als auch bei SARS, MERS und Ebola erfolgreich eingesetzt worden ist. Allerdings ist das mit den Erfolgen so eine Sache, denn längst nicht alle Erfolge waren so groß oder sicher, wie gemeinhin gedacht.

Das beginnt bereits bei der Spanischen Grippe. 2006 haben Forscher die vorhandenen Daten aus der Zeit der Spanischen Grippe genauer analysiert. Sie wollten herausfinden, ob die Gabe des Serums damals tatsächlich gewirkt hat. Das Ergebnis: Zwar konnte die Serum-Therapie die Sterblichkeitsrate im Schnitt um 21 Prozent senken, statistisch signifikant war der Rückgang jedoch nur bei drei von acht Studien. Allerdings war die Aussagekraft selbst bei diesen gering, da nur bei einer eine Kontrollgruppe existierte.

Aber auch Studien aus dem 21. Jahrhundert sind bezüglich der Effekte der Serum-Therapie eher zurückhaltend. Bei Ebola war die Gabe von Immunserum laut einer Studie aus dem Jahr 2016 "nicht mit einem signifikanten Anstieg der Überlebenschancen verbunden." Und eine Untersuchung mit SARS-Patienten aus Hongkong fand 2003 heraus, dass die Sterblichkeitsrate der Patienten, die Immunserum bekamen, bei 12,5 Prozent lag. Bei einer allgemeinen Mortalitätsrate von 17 Prozent  eher ein mäßiger Unterschied. Was jedoch bei alten wie neuen Untersuchungen auffällt: Je später die Patienten das Immunserum erhielten, desto geringer waren die Erfolgschancen der Therapie. Eine Meta-Analyse von 32 SARS-Studien, die 2005 veröffentlicht wurde, konnte diesen Befund bestätigen und in diesem Zusammenhang auch einen signifikanten Rückgang der Sterblichkeitsraten feststellen.

SARS-CoV-2: Neues Virus – alte Geschichte?

Für die Corona-Pandemie stehen die Untersuchungen noch ganz am Anfang. Erste Studien mit Immunserum aus China sind zwar erfolgversprechend, müssen aber aufgrund der geringen Datenlage mit Vorsicht genossen werden. In einer der chinesischen Studien erhielten zehn schwerkranke Patienten je 200 ml Serum. Der Therapieansatz erwies sich als erfolgreich. Der Gesundheitszustand der Patienten verbesserte sich binnen weniger Tage deutlich. Nebenwirkungen waren nicht feststellbar. In der anderen Studie bekamen fünf schwer an Covid-19 Erkrankte je 400 ml Immunserum verabreicht, woraufhin die Viruslast deutlich zurückging und sich der Zustand der Patienten erheblich verbesserte.

Da an den Studien jedoch nur insgesamt fünfzehn Patienten beteiligt waren, ist die Datenbasis zu gering, um daraus allgemeine Schlüsse zu ziehen. Auch gab es keine Kontrollgruppe, mit der die Wirkung der Serumtherapie hätte verglichen werden können. Zudem erhielten die Patienten noch andere antivirale Behandlungen, die – wie andere Forscher anmerkten – ebenfalls zur Gesundung beigetragen haben dürften. Um die konkrete Wirksamkeit der Serumtherapie bei Covid-19-Patienten zu testen, bedarf es daher weiterer und vor allem wissenschaftlich gut abgesicherter Studien. Genau hier setzen das deutsche CAPSID-Programm und weitere Forschungsprojekte an.

Corona Immunserum
Weltweit wird mit dem Plasma von Covid-19-Genesenen gearbeitet - hier ein Spender in Thailand. Bildrechte: imago images/ZUMA Wire

Konzertierte Aktion: Die CAPSID-Studie in Deutschland

Corona ist die Zeit spontaner Initiativen. Das gilt nicht nur für soziale Hilfsprojekte, sondern auch für medizinische Studien. Auch bei der CAPSID-Studie ist das so. Es ist die erste klinische Studie in Deutschland, die auf wissenschaftlicher Basis die Wirksamkeit von Immunserum bei Covid-19-Erkrankten testet. CAPSID ist eine randomisierte, prospektive, offene klinische Studie.

Randomisiert heißt, dass die die Teilnehmenden nach dem Zufallsprinzip in eine Behandlungs- und eine Kontrollgruppe geteilt werden. Prospektiv, also vorausschauend, bedeutet, dass die Forscher ihre Hypothese ("Die Gabe von Immunserum ist hilfreich.") überprüfen wollen. Offen ist die Studie deshalb, weil sowohl die Forscher als auch die Patienten wissen, wer mit dem Serum behandelt wird und wer nicht. Generell gilt laut Studienprotokoll: Alle Studienteilnehmer bekommen die bestmögliche Behandlung nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Die Behandlungsgruppe erhält zusätzlich aber noch das Immunserum.

Insgesamt können 106 Personen an der Studie teilnehmen, wovon 53 der Behandlungsgruppe und 53 der Kontrollgruppe (= Nichtbehandlungsgruppe) zugeordnet werden. Die Zahl selbst wurde von Statistikern der Universität Ulm ermittelt. Wie Studienleiter Erhard Seifried mitteilte, erlaubt es diese Größe, signifikante therapeutische Ergebnisunterschiede zwischen den beiden Gruppen festzustellen. Seifried und seine Kollegen waren dabei von der Annahme ausgegangen, dass sich das Therapieziel zwischen der Behandlungs- und der Kontrollgruppe um 30 Prozent unterscheidet. Wobei das Therapieziel doppelt definiert ist: Verlängerung des Überlebens der Patienten einerseits und der Wegfall der Kriterien für eine schwere Erkrankung andererseits.

Den Anstoß für CAPSID gab – neben Seifried, der das Frankfurter Institut für Transfusionsmedizin leitet – der Ulmer Transfusionsmediziner Hubert Schrezenmeier, der auch das Studienprotokoll erstellte. Durch den gemeinsamen DRK-Blutspendedienst Nord-Ost kamen weitere Institute hinzu, und mittlerweile sind fast zwanzig Universitäten und Forschungseinrichtungen aus dem gesamten Bundesgebiet in dem Programm involviert. In Sachsen sind die Uniklinik Dresden (Institut für Experimentelle Transfusionsmedizin) sowie die Uniklinik Leipzig (Institut für Transfusionsmedizin) beteiligt. Die dortige Herstellungsleiterin Elvira Edel teilte MDR Wissen mit, dass bereits zahlreiche ehemalige Covid-19-Erkrankte ihre Mitarbeit angeboten hätten. Jetzt werde in Zusammenarbeit mit der Corona-Ambulanz des Uniklinikums nach geeigneten Spendern gesucht. Voraussichtlich Ende April, so Edel, werde man diese gefunden haben und könne dann das weitere Vorgehen bezüglich der Immun-Therapie planen.

Innerhalb einer Woche: Ausnahmegenehmigung für schnellen Studienstart

Damit die CAPSID-Studie überhaupt durchgeführt werden kann, bedurfte es einer entsprechenden Ausnahmegenehmigung. Was sonst Monate dauert, war diesmal binnen einer Woche getan. Ende März gab das in Deutschland für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel zuständige Paul-Ehrlich-Institut grünes Licht. Bezahlt wird die Studie vom Bundesgesundheitsministerium. Wie viel Geld in das CAPSID-Programm fließt, wollte das Ministerium allerdings nicht sagen. Laut Studienleiter Seifried seien die Mittel aber "mehr oder weniger fest" zugesagt, der schriftliche Bescheid stehe allerdings noch aus. Dennoch, so Seifried, werde schon jetzt an vielen Standorten damit begonnen, nach Spendern zu suchen, da die Zeit dränge. Denn erst wenn das Plasma entnommen, medizinisch geprüft, für die Transfusion aufbereitet und die Spender nochmals befragt worden sind, können die Transfusionen beginnen. Laut Seifried sei damit nicht vor Mitte Mai zu rechnen.

Ein Portrait von Prof. Dr. Torsten Tonn
Prof. Dr. Torsten Tonn forscht am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden. Bildrechte: DRK-Blutspendedienst Nord-Ost

Da nicht alle Patienten so lange warten können, geht man an der Uniklinik Dresden unter der Leitung von Prof. Torsten Tonn einen zweiten Weg. Damit auch Patienten, die nicht in das notwendigerweise enge Raster der Studie passen, Immunserum erhalten, haben das Institut für Transfusionsmedizin des DRK Blutspendedienstes und die Dresdner Uniklinik bei der Landesdirektion Sachsen eine Ausnahmegenehmigung beantragt. Dies wurde inzwischen erteilt und gilt bis Ende 2020. Damit kann das dringend benötigte Immun-Plasma auch außerhalb der Studie hergestellt und an Patienten erprobt werden, ohne dass dabei der Ablauf und die Ergebnisse von CAPSID beeinträchtigt werden. Bereits in wenigen Tagen können in Dresden die ersten Spenden entnommen und unmittelbar danach Transfusionen an Covid-19-Patienten durchgeführt werden.

In Erlangen wird bereits mit Immunserum behandelt

Am Uniklinikum Erlangen ist man bereits so weit. Die dortige transfusionsmedizinische Abteilung um Prof. Hackstein nimmt zwar auch an CAPSID teil, hat aber ebenfalls ein separates Programm gestartet. Um das möglichst schnell auf die Beine zu stellen, hatten die Forscher direkt mit den Behörden in Oberfranken verhandelt. Mit Erfolg: Bereits Anfang April bekam die Erlanger Einrichtung als eine der ersten in Deutschland die Erlaubnis, Immunserum zur Behandlung schwerkranker Covid-19-Patienten zu produzieren. Seitdem, so der Leiter der Transfusionsmedizin, Prof. Hackstein, habe sich die Arbeit grundlegend verändert, da viele Mitarbeiter mit der Herstellung des Covid-19-Immunplasmas sowie dazugehörigen Laboruntersuchungen beschäftigt seien.

Dass die praktische Arbeit so schnell beginnen konnte, liegt an §79 des Arzneimittelgesetzes, der Ausnahmeermächtigungen in Krisenzeiten regelt. In Erlangen konnten dadurch bereits am 15. April die ersten Behandlungen mit dem Immunserum beginnen. Auch umliegende Kliniken sollen mit dem Immunplasma aus Erlangen versorgt werden. Allerdings, so Prof. Hackstein, gibt es aktuell einen großen Mangel an Plasma. Das liegt aber nicht an mangelnder Spendenbereitschaft, sondern daran, das längst nicht jeder Spender als Serumsgeber für Covid-19-Patienten geeignet ist. Hinzu kommt der Umstand, dass die Antikörper aufwendig gereinigt werden müssen – eine Tatsache, die manche Forscher am praktischen Nutzen der Therapie zweifeln lässt.

Was wird in Mitteldeutschland gemacht?

Dr. Hanni Bartels
Dr. Hanni Bartels vom Diakoniekrankenhaus in Halle/S. Bildrechte: Diakoniewerk Halle/Markus Scholz

Auch in Halle laufen aktuell Vorbereitungen für ein Programm zu SARS-CoV-2. Allerdings geht es hier nicht darum, Spenderserum zu gewinnen und Covid-19-Erkrankte damit zu versorgen. Die Hallenser Mediziner um Dr. Hanni Bartels vom Diakoniekrankenhaus wollen vielmehr die Qualität bestehender Antikörpertests untersuchen. Dazu werden, wie Dr. Bartels im Gespräch mit MDR Wissen erklärte, im Mai vierzig ehemalige Covid-19-Erkrankte an einer Vorstudie teilnehmen. Da diese Personen Antikörper gegen das Virus ausgebildet haben, können an ihnen Antikörper-Tests ausprobiert werden.

Untersucht werden sollen drei bereits im Handel befindliche Test-Kits. Ziel ist es herauszufinden, welcher Test die Antikörper am sichersten und genauesten bestimmt. Der "Siegertest" wird anschließend ein weiteres Mal an allen vierzig Teilnehmern ausprobiert, um die Reliabilität, das heißt die Verlässlichkeit der Ergebnisse zu ermitteln. Ist diese gegeben, soll der Test später genutzt werden, um in einer großangelegten Studie die Entwicklung und Ausbreitung der Infektionen in Halle zu untersuchen. Finanziert wird die aktuelle Vorstudie aus Drittmitteln. Sie entsteht in enger Zusammenarbeit mit der Stadt Halle sowie Forschern der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Neben den Projekten auf Lokal- und Bundesebene sind aber auch einige Länder aktiv. So hat z.B. Niedersachsen durch einen Nachtragshaushalt Anfang April knapp zehn Millionen Euro zusätzlich in die Corona-Forschung gesteckt. Vor allem Forschungsprojekte an der Medizinischen Hochschule Hannover, die über das Institut für Transfusionsmedizin ebenfalls am CAPSID-Programm teilnimmt, werden hier unterstützt. Neben Fragen der Krankheitsentwicklung wird das Geld vor allem in die Antikörperforschung und Impfstofftestung fließen.

Dass die mitteldeutschen Bundesländer dem niedersächsischen Beispiel folgen, ist aktuell eher nicht auszumachen. Eine Anfrage an das zuständige Ministerium in Sachsen-Anhalt blieb unbeantwortet. In Thüringen gibt es laut Angaben des Wissenschaftsministeriums kein eigenständiges Landesprogramm zur Entwicklung von Wirk- oder Impfstoffen. Gleichwohl sind die dortigen Hochschulen und Forschungseinrichtungen in zahlreiche andere Corona-Projekte eingebunden. Das gilt auch für Sachsen, spezielle Landesprogramme gibt es aber auch hier nicht. Das Sächsische Ministerium für Wissenschaft und Kunst (SMWK) teilte auf Anfrage mit, dass es momentan keine Antikörper- oder Impfstoffprojekte gibt, an denen das SMKW mittelbar oder unmittelbar beteiligt ist. Über das CAPSID-Programm sind aber zumindest die Unikliniken in Leipzig und Dresden in die laufenden Forschungen involviert.

Was CAPSID will, was es kann und wo die Grenzen liegen

Die Studie verfolgt mehrere Ziele. Grundsätzlich soll das Wirkprinzip und die Wirksamkeit der Serum-Therapie bei schwer kranken Covid-19-Patienten erforscht werden. Die Verringerung der Sterblichkeitsrate und die Milderung schwerwiegender Krankheitsverläufe stehen dabei besonders im Fokus. Aber auch mögliche Nebenwirkungen sind Ziel der Untersuchung. Generell wird die Immunserum-Therapie aufgrund der historischen Erfahrungen als risikoarmer Behandlungsansatz betrachtet. Die beiden Covid-19-Studien aus China konnten ebenfalls keine Nebenwirkungen feststellen. Und auch die EU, die aktuell eine Datenbank für Immunserum aufbaut und Anfang April Therapie-Richtlinien veröffentlicht hat, spricht von einer "therapy with low risk".

Gleichwohl hat die einfache Serum-Therapie, wie sie im CAPSID-Programm Anwendung findet, einige generelle Schwachstellen, denn Quantität und Qualität der Antikörper sind von Spender zu Spender verschieden. Das liegt nicht nur an der generellen Individualität jedes Menschen, sondern auch daran, dass jeder Spender infolge seiner Covid-19-Erkrankung auch ganz spezifische Antikörper entwickelt hat. Anders ausgedrückt: Jedes Spender-Serum enthält eine individuelle Krankengeschichte und findet selbst wiederum bei einer individuellen Krankengeschichte Anwendung. Das Problem: Da die Spenden unterschiedlich gut bzw. für den jeweiligen Patienten mehr oder weniger passend sein können, ist die Wirksamkeit im Einzelfall nicht immer leicht zu entscheiden. Damit wird es auch schwerer, die Wirksamkeit der Serum-Therapie insgesamt festzustellen.

Die CAPSID-Studie will das Problem dahingehend bearbeiten, dass die Antikörperkonzentration jedes Spenders individuell erfasst wird. Auch die sogenannte neutralisierende Wirksamkeit soll gemessen werden, denn Antikörper ist nicht gleich Antikörper. Normale Antikörper docken sich lediglich am Virus an, markieren es und machen es damit fürs Immunsystems als Angreifer sichtbar. Neutralisierende Antikörper übernehmen dagegen die Arbeit gleich selbst und machen das Virus unwirksam, indem sie es am Eindringen in die Zelle hindern.

Antikörper sind nicht gleich Antikörper

Die Forscher haben es deshalb vor allem auf die neutralisierenden Antikörper abgesehen. Allerdings haben Menschen mit vielen Antikörpern nicht automatisch auch viele neutralisierende Antikörper. Besonders Menschen mit einer starken zellulären Immunantwort haben oft nur wenig neutralisierende Antikörper. Gleiches gilt für jene, deren angeborene Immunantwort gut auf SARS-CoV-2 reagiert hat. Soll heißen: Die Tatsache, dass ein Mensch infolge einer durchgestandenen Covid-19-Erkrankung Antikörper gebildet hat, bedeutet noch lange nicht, dass diese Antikörper auch entscheidend für den Sieg über das Virus waren. Was wiederum bedeutet, dass nicht alle Spender gleich gute Spender sind, wenn es darum geht, Erkrankten zu helfen.

Dennoch, so Studienleiter Seifried, spiele die Antikörperkonzentration bei der Auswahl der Spender für CAPSID keine Rolle. Allein schon deshalb nicht, weil die Studie herausfinden soll, ob die Zahl der Antikörper überhaupt relevant für den Therapieerfolg ist. In dieser Frage sind die Wissenschaftler noch uneins. Zwar sind Forscher wie der Transfusionsmediziner Rainer Blasczyk von der Medizinischen Hochschule Hannover der Ansicht, man müsse "Spender identifizieren, die viele neutralisierende Antikörper haben". Studienleiter Seifried gibt aber zu Bedenken, dass aktuell niemand sagen könne, wie hoch die Antikörperkonzentration eigentlich sein müsse, um eine wirksame Therapie vornehmen zu können. Theoretisch, so Seibert im Gespräch mit  MDR Wissen, könnten bereits wenige Antikörper für einen Behandlungserfolg ausreichend sein. Diese Möglichkeit zu überprüfen sei ebenfalls Teil der Studie.

Forschung soll Marktanteile der Zukunft sichern

Schwankungen der Antikörperkonzentration im Plasma und Einschränkungen bei seiner Gewinnung sind zwei Gründe, warum Forscher mit Hilfe verschiedenster Ansätze versuchen, Antikörper künstlich herzustellen und entsprechende Medikamente gegen Covid-19 zu entwickeln. Ein Ansatz besteht darin, das Plasma von genesenen Covid-19-Patienten als Grundlage für ein sogenanntes Hyperimmunglobulin zu nutzen. Dabei handelt es sich um hochangereicherte Antikörper. Der Vorteil: Mit Hilfe eines entsprechenden Medikaments werden die Antikörper hier in viel konzentrierterer Form verabreicht, als das bei normalem Serum der Fall ist.

Weltweit arbeiten mehrere Großprojekte mit Hochdruck an der Entwicklung solcher Anti-SARS-CoV-2 Hyperimmunglobuline. Pharmafirmen, Biotechunternehmen und Forscher haben dazu quasi über Nacht Kooperationen geschlossen. Denn eines ist klar: Der Kampf gegen Covid-19 ist nicht nur einer um die besten Medikamente, sondern auch um kommende Marktanteile. Das gilt auch und gerade jetzt, wo die Entwicklung gemeinsamer, markenfreier Medikamente im Vordergrund steht.

Ein solches wollen z.B. der Biopharma-Konzern CLS und das Pharmaunternehmen Takeda entwickeln. Beide Firmen kontrollieren nach Informationen der Fachzeitschrift "Chemical & Engineering News" bereits jetzt etwa die Hälfte des Marktes für Therapien auf Plasmabasis. Um möglichst schnell mit einem Medikament am Start zu sein, planen CSL und Takeda ein beschleunigtes Verfahren, bei dem die sonst üblichen Tests an Kleingruppen und die Überprüfung des Therapiekonzeptes (Teststufen I und II) übersprungen und direkt mit Stufe III (Test in größeren Gruppen) begonnen wird. Dadurch sollen bereits im Sommer erste repräsentative Ergebnisse vorliegen.

Kühe, Pferde und die Suche nach dem Super-Antikörper

Da Antikörper auch aus Säugetieren gewonnen werden können, versuchen es manche Firmen auch auf diesem Weg. Der multinationale Konzern Emergent BioSolutions etwa greift bei der Entwicklung seines Hyperimmunglobulins auf Pferde zurück. SAB Biotherapeutics aus den USA nutzt dagegen eine firmeneigene Herde genetisch veränderter Kühe. Die Tiere wurden bereits für die Entwicklung anderer Medikamente genutzt und im Kampf gegen MERS und Ebola eingesetzt.

Was all diese Ansätze eint: Sie arbeiten polyklonal, das heißt sie nutzen mehrere (poly) Antikörper, um ihre hochkonzentrierten Immunglobuline in großer Zahl zu produzieren, das heißt zu klonieren. Aber auch monoklonale Ansätze versprechen im Kampf gegen Covid-19 Erfolg. Bei diesen wird nur ein Antikörper (mono) eingesetzt, der dafür aber hochspezifisch und damit sehr effizient gegen das SARS-CoV-2-Virus wirkt. Diese Wirkung ist dann gegeben, wenn der Antikörper das Spike-Protein des Virus bindet.

Prof. Dr. Michael Hust
Auf der Suche nach Super-Antikörpern: Prof. Michael Hust in Braunschweig. Bildrechte: TU Braunschweig

Momentan suchen Forschergruppen weltweit nach solchen "Super-Antikörpern". Auch Wissenschaftler der TU-Braunschweig sind mit dabei. Sie haben bereits hunderte Antikörper gefunden, die gut gegen das Virus wirken. Aktuell werden diese weiter getestet, um letztlich auf einen einzigen "Super-Antikörper" eingegrenzt zu werden. Dieser könnte bereits Ende Mai gefunden sein. Aus ihm kann dann ein Medikament gegen Covid-19 entwickelt werden. Das Besondere: Die Braunschweiger Forscher um Prof. Michael Hust arbeiten mit rein menschlichen Antikörpern, die sie durch die sogenannte Antikörperphagendisplay-Technologie im Reagenzglas erzeugen. Der Vorteil dieses Ansatzes: Die Forscher erhalten den Bauplan für den jeweiligen Antikörper und können ihn in beliebiger Menge und in gleichbleibend hoher Qualität produzieren.

Warum Spenderplasma jetzt schon helfen kann

Allerdings ist der gesamte Entwicklungsprozess zeitintensiv. Im Gespräch mit MDR Wissen erklärte Prof. Hust, dass die entsprechenden klinischen Studien erst Anfang 2021 beginnen. Damit ist aber auch klar: Die einfache, über Spenderplasma laufende Immunserum-Therapie ist zwar eine Brückentechnologie, aber eine notwendige, denn sie füllt jene zeitliche Lücke in der Akutversorgung von Covid-19-Patienten, die anders nicht zu schließen wäre.

Das sieht auch Prof. Tonn vom Uniklinikum Dresden so. Er weist zugleich darauf hin, dass die hochkonzentrierten Antikörperpräparate "auch dann noch eine Bedeutung bei immungeschwächten Patienten haben, wenn Impfstoffe oder antivirale Medikamente verfügbar sind."

Da die Antikörperkonzentrate bereits bei anderen Krankheitserregern ihre Wirksamkeit unter Beweise gestellt haben, geht es jetzt "nur" noch darum, ihre Wirksamkeit auch bei Covid-19 zu testen. Da aber auch hier nicht vor Ende 2020 mit Ergebnissen oder gar einem fertigen Medikament zu rechnen ist, bleibt die einfache Immunserum-Therapie weiter das Maß der Dinge in der Praxis. Um ihre tatsächliche Wirksamkeit mit Blick auf SARS CoV-2 zu ermitteln und den Einsatz des Spenderserums wissenschaftlich abzusichern, sind Studien wie CAPSID unabdingbar. Allerdings kann längst nicht jeder, der an Covid-19 erkrankt ist, an der Studie teilnehmen.

Wer kommt als Teilnehmer der CAPSID-Studie in Betracht – und wer nicht?

Das Studienprotokoll sieht vor, dass lediglich Patienten mit einer schweren Covid-19-Erkrankung mit dem Serum behandelt werden. Dazu zählen vor allem Patienten, die beatmet werden müssen oder eine andere intensivmedizinische Unterstützung benötigen. Von der Teilnahme generell ausgenommen sind Patienten mit schweren Vorerkrankungen (z.B. Lungenödem  Herzinsuffizienz u. Ä.) sowie einer Lebenserwartung von unter zwölf Monaten. Auch Menschen, die älter als 75 Jahre sind oder Patienten, die bereits länger als 72 Stunden maschinell beatmet werden, sind von der Studie ausgeschlossen.

Wer zur Behandlungsgruppe der CAPSID-Studie gehört, bekommt insgesamt drei Infusionen, und zwar am ersten, dritten und fünften Tag der Behandlung, die auf zunächst 21 Tage angesetzt ist. Pro Infusion erhalten die Teilnehmer rund 200 ml Serum – eine große Menge verglichen mit den wenigen Millilitern, die bei hochkonzentrierten Hyper-Immunglobulinen gegeben werden müssen. Weil diese aber für Covid-19-Patienten noch nicht marktreif sind, geht es aktuell nur auf diesem Weg.

Da nur 106 Patienten an der Studie teilnehmen und lediglich die 53 Teilnehmer in der Behandlungsgruppe das Serum erhalten, ist die Versorgung kein Problem. Die geringe Zahl an Teilnehmern bedeute aber auch, dass an den knapp zwanzig Standorten jeweils nur sehr wenige Erkrankte die Serum-Therapie im Rahmen von CAPSID in Anspruch nehmen können. Auch deshalb hat man sich an den Unikliniken in Dresden und Erlangen sowie an anderen beteiligten Instituten dazu entschieden, zusätzlich zur Studie eigene Untersuchungen durchzuführen und Spender zu gewinnen, um möglichst viele Covid-19-Patienten mit Immunserum zu versorgen. Denn genau wie in Bayern sind auch in Sachsen viele kommunale Krankenhäuser daran interessiert, die Immunserum-Therapie an ihren Covid-19-Patienten anzuwenden – und das möglichst bald.

Die Frage ist nur: Wer wird das bezahlen? In Dresden ist aktuell noch unklar, wie die Plasmagewinnung und der Serumeinsatz außerhalb der Studie finanziert werden. Prof. Tonn wünscht sich hier Hilfe von der Politik. "Es wäre tatsächlich schön, wenn man hierfür auf eine Förderung des Landes Sachsen zurückgreifen könnte. Die Kosten sind vergleichsweise gering. Ein Betrag von 150.000 Euro würde hier schon eine enorme Erleichterung für die Durchführung des Projektes bringen und die Patientenversorgung für die nächsten Monate sicherstellen."

Neben den politischen Entscheidungsträgern sind allerdings auch die Krankenkassen gefragt, denn das Immunserum kann momentan noch nicht abgerechnet werden, da die entsprechende Abrechnungsziffer fehlt.

Die Möglichkeiten der Immunserum-Therapie: Prophylaxe und Behandlung

Generell kann Immunserum sowohl zur Prophylaxe als auch zur Behandlung bereits an Covid-19 Erkrankter eingesetzt werden. In einem im März publizierten Aufsatz erklärten US-amerikanische Forscher, dass Passivimmunisierungen grundsätzlich besser vorbeugend eingesetzt werden sollten, da ihre Effektivität dann höher sei als bei einer Behandlung. Da die verabreichten Antikörper aber im Schnitt nur wenige Monate im Blut bleiben, bietet der prophylaktische Ansatz nur vorübergehenden Schutz. Empfohlen wird er von den Forschern dennoch. Ihrer Ansicht nach ist die Prophylaxe besonders bei jenen Menschen angeraten, die aufgrund von Vorerkrankungen im Falle einer Infektion stark gefährdet sind und deshalb von vornherein vor einer Ansteckung geschützt werden müssen. Auch Menschen, die durch ihren Beruf einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt sind, wie etwa Ärzte und Pflegekräfte, sollten prophylaktisch mit Antikörpern versorgt werden.

Allerdings zeigt sich in den USA momentan eher das umgekehrte Phänomen: Da sich viele Ärzte und Pflegekräfte schon früh mit Covid-19 infiziert hatten und bereits wieder gesund sind, spenden sie inzwischen selbst Immunserum, um Behandlungen in ihren Krankenhäusern und Universitätskliniken zu ermöglichen. Aber auch die bekannten Schattenseiten des amerikanischen Gesundheitssystems kommen bei der Serum-Therapie zum Vorschein, denn es gibt erste Hinweise, dass Afroamerikaner und Menschen in weniger gut versorgten Gegenden schlechtere Chancen haben, eine entsprechende Notfall-Behandlung zu bekommen. Bisher wurden in den USA rund 100 lebensbedrohlich Erkrankte mit Immunserum versorgt. Allerdings waren nicht alle Behandlungen erfolgreich, einige Patienten starben, andere befinden sich nach wie vor in kritischem Zustand.

Weltweit über 20 Studien zur Immunserum-Therapie

Dennoch: Nicht nur in den USA, auch in Deutschland ist die Immunserum-Therapie für viele schwer an Covid-19-Erkrankte ein Hoffnungsschimmer – und für sie ist CAPSID auch gedacht. Ob der Ansatz über die Immunserum-Therapie generell erfolgreich ist, wird sich in den kommenden Wochen und Monaten zeigen. Aktuell sind nach Recherchen von MDR-Wissen weltweit über zwanzig Studien geplant oder bereits im Gange, die sich mit der Gewinnung und dem Einsatz von Immunserum bei Covid-19-Patienten befassen.

Während sich CAPSID an schweren Covid-19-Fällen orientiert, untersuchen andere die Wirkung bei milden Krankheitsverläufen. Das ist auch deshalb wichtig, da Forscher davon ausgehen, dass einem Covid-19-Infizierten grundsätzlich in jedem Stadium der Krankheit Immunserum gegeben werden kann. Daten aus früheren Epidemien legen jedoch den Schluss nahe, dass es am besten ist, möglichst früh mit der Therapie zu beginnen. Besonders dann, wenn der Patient noch keine Antikörper gebildet hat. Diese Einschätzung wird auch von Prof. Tonn geteilt. Er ist der Ansicht, dass die Antikörpertherapie vor allem dann nützlich ist, "wenn man immungeschwächte und ältere Patienten therapeutisch so stabilisieren könnte, dass eine Beatmung nicht notwendig wird."

Einen solchen frühen Einsatz halten auch andere Forscher für geboten, zumal sich das Virus in dieser Phase besonders schnell vermehrt. Genau wie in Dresden will man deshalb auch an der Medizinischen Hochschule Hannover das Immunserum möglichst früh einsetzen und – unabhängig vom CAPSID-Programm – auch an weniger schwer kranken Patienten testen. Laut Rainer Blasczyk, dem Leiter es dortigen Instituts für Transfusionsmedizin, könnte dies Hinweise liefern, welche Patienten besonders gut auf die Immunserum-Therapie anschlagen. Daraus wiederum ließen sich Kriterien für weitere Studien entwickeln und sich überdies herausfinden, ob es innerhalb der verschiedenen Krankheitsverläufe so etwas wie einen Idealzeitpunkt für die Injektion des Plasmas gibt.

Fazit oder Wohin die Brücken uns führen

Die Immunserum-Therapie kann helfen, Menschenleben zu retten. Wie wirksam sie im Falle einer Covid-19-Erkrankung tatsächlich ist, wird sich durch CAPSID und zahlreiche andere Studien in den kommenden Wochen und Monaten zeigen. Grund zur Hoffnung besteht allemal. Nicht nur, weil die historischen Erfahrungen und die ersten Daten aus China und den USA vorsichtig optimistisch stimmen, sondern auch, weil die Nebenwirkungen äußerst gering sind. Man hat – ganz einfach gesagt – mit der Serumtherapie nichts zu verlieren.

Der Behandlungsansatz mag medizinisch gesehen nur eine Brückentechnologie auf dem Weg zu einer Impfung und den hochwirksamen Antikörper-Medikamenten der Zukunft sein. Aber nicht alle können so lange warten. Viele, die an Covid-19 erkrankt sind, brauchen jetzt medizinische Hilfe. Die Serumtherapie kann ihre Behandlung unterstützen und den Verlauf zum Besseren wenden. Für diese Menschen führt die Brücke von der Krankheit zur Genesung – und damit auch zurück in ein Leben, wie es vor Corona mal war.