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Weil einzelne Krankenhäuser bereits an der Belastungsgrenze sind, werden bei großen Verlegungstransporten gleich mehrere Patienten auf einmal in andere Kliniken gebracht. Bildrechte: IMAGO / imagebroker

Covid-19Wie die vierte Corona-Welle die Krankenhäuser überrollt

26. November 2021, 10:17 Uhr

Weil die Impfquoten in Deutschland zu niedrig sind, erkranken zu viele Menschen schwer an Sars-CoV-2. Die Kliniken geraten an ihre Belastungsgrenzen. Können wir die Infektionen einfach laufen lassen?

von Clemens Haug

Es ist ja nicht so, dass niemand gewarnt hätte. Im Juli, als die Zahl neuer Ansteckungen gerade niedrig war, da wurden bereits zwei Dinge sichtbar. Forscherinnen und Forscher fanden heraus, wie ansteckend und dadurch wie gefährlich die Deltavariante von Sars-CoV-2 ist. Und die Impfärzte sahen ein Nachlassen der Impfbereitschaft. In dieser Situation analysierten Statistikerinnen und Statistiker vom Robert Koch-Institut die Zahlen und errechneten, wie gefährlich das Infektionsgeschehen jetzt im Herbst werden könnte. Das Ergebnis war eindeutig: Mindestens 85 Prozent aller über 18-Jährigen und mindestens 90 Prozent aller über 60-Jährigen müsste vollständig geimpft sein, um eine Überlastung der Kliniken zu verhindern.

Jetzt, fünf Monate später, sind in Sachsen gerade mal knapp 60 Prozent aller Erwachsenen geimpft. Der Freistaat ist damit Schlusslicht. Aber selbst Spitzenreiter Bremen ist noch gut fünf Prozent von dem Wert entfernt, den die RKI-Epidemiologen als Mindestmaß errechnet hatten. Die Folgen der Zurückhaltung vieler Erwachsener tragen die Krankenhäuser.

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Schwerst-Arbeit für Pflegende: Covid-19-Patienten auf der Intensivstation

In Sachsen, Bayern und Thüringen, wo es aktuell die meisten Neuinfektionen gibt, ist die Situation für Ärztinnen und Pfleger in etwa so dramatisch wie vor einem Jahr. Aber auch überall sonst spitzt sich die Lage langsam zu. Gernot Marx, Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum der RWTH Aachen und Präsident der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin (DIVI) findet deutliche Worte. "Die Corona-Lage ist sehr besorgniserregend und momentan nicht unter Kontrolle. Wir machen uns große Sorgen angesichts der Infektionsdynamik und steigenden Belegungszahlen von Intensivbetten."

Allein in der Woche bis zum 21. November kamen fast 1.900 neue Corona-Patienten auf die Intensivstationen in Deutschland, etwas weniger als 700 starben. Macht in der Bilanz 1.200 zusätzliche Patienten für Ärztinnen und Pfleger. Gerade in der Intensivpflege gibt es aber einen starken Personalmangel, der sich durch die Pandemie noch einmal verschärft hat. Einen im Koma liegenden, künstlich beamteten Covid-Patienten am Leben zu halten, ist schwere Arbeit. Die Patienten müssen jeden Tag und jede Nacht mehrfach gewendet, alle lebenserhaltenden Maschinen ständig überprüft werden, ganz besonders, wenn sie an der sogenannten ECMO hängen, einer Art künstlicher Lunge. Im Schnitt liegt jeder von ihnen drei Wochen auf der Station.

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Mehrzahl der Intensivpatienten sind immer noch Ungeimpfte

Viele Pflegerinnen und Pfleger sind nach eineinhalb Jahren im Dauereinsatz ausgebrannt. Sie haben ihre Arbeitszeit reduziert oder den Job ganz gekündigt. Weniger Personal bedeutet aber auch weniger Betten. "Wir haben Deutschland heute etwa 4.000 Intensivbetten weniger als vor einem Jahr", fasst Intensivmediziner Marx die Situation zusammen.

Bei den allermeisten dieser schwer kranken Patienten wären der Verlauf und der Aufenthalt auf der Intensivstation vermeidbar gewesen, sagt Steffen Weber-Carstens, Intensivmediziner der Charité und einer der beiden wissenschaftlichen Leiter des DIVI-Intensivregisters.

Die überwiegende Mehrzahl, die wir besonders intensiv behandeln müssen, sind nach wie vor ungeimpfte Patienten.

Prof. Steffen Weber-Carstens, Charité

Das seien auch die, die an den ECMOs landen, so Weber-Carstens. "Die Impfdurchbrüche, die wir auf unseren Intensivstationen sehen, das sind Ältere, die eine zusätzliche Erkrankung haben oder wegen einer Transplantation das Immunsystem hemmende Medikamente nehmen müssen."

Sachsens Kliniken überlastet: Patienten werden bereits regional verlegt

Hinzu kommt: Schwere Verläufe gibt es auch bei anderen saisonalen Atemwegsinfektionen, etwa RSV. Es gibt also praktisch keine Spielräume, sagt Weber-Carstens. "In der Summe sind die Intensivbetten im Moment auch mit den Nicht-Covid-Patienten ausgelastet. Wir haben deshalb wieder einen Prozess, dass Covid-Patienten andere Patienten von der Intensivstation verdrängen."

In Sachsen liegen über 500 Covid-19 Patienten auf den Stationen, in Thüringen fast 200, in Sachsen-Anhalt über 120. In einigen Gegenden sind die Krankenhäuser bereits so überlastet, dass Patienten innerhalb vom sogenannten Kleeblatt Ost verlegt werden, also zwischen den mitteldeutschen Bundesländern, Brandenburg und Berlin. Reicht das nicht mehr aus, müssen vielleicht bald schwer kranke Patienten quer durch Deutschland transportiert werden.

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Gibraltar: Hohe Inzidenz dank Impfung kein Problem

Von den Impfskeptikern werden diese Zustände oft als Beleg dafür angeführt, dass die Impfung nicht wirke. Warum sonst sei die Lage trotz 60 Prozent Impfquote so dramatisch? Andreas Schuppert, Medizininformatiker an der RWTH Aachen, führt die Modellrechnungen für die DIVI durch. Er hält entgegen: "Generell ist es so, je höher die Impfquote ist, umso höher kann die Inzidenz gehen. Man muss aber auch dazu sagen, dass wir in den bisherigen Wellen noch nie Inzidenzen von der Größe gesehen haben, die wir heute sehen. Das heißt, wir sind heute die facto schon an diesem sozusagen Impfbonus. Den haben wir eigentlich schon ausgeschöpft."

Wie problemlos eine hohe Inzidenz zu verkraften wäre, wenn sich mehr Menschen impfen ließen, kann man übrigens gerade gut in Gibraltar studieren. Dort beträgt die Impfquote 100 Prozent, die Covid-Inzidenz liegt trotzdem bei über 1.000. Die Infizierten müssen aber kaum noch in Kliniken behandelt werden, gestorben ist auch schon eine Weile keiner mehr. Auch in Spanien (80 Prozent vollständig geimpft, 11 Prozent genesen), Portugal (88 Prozent vollständig geimpft, 11 Prozent genesen) und Italien (73 Prozent vollständig geimpft, 9 Prozent genesen) erkranken immer noch Menschen an Covid-19. Aber die Inzidenzen sind niedriger als bei uns und die Krankenhäuser weniger belastet.

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Die Impflücke zu schließen, hilft uns am Ende des Winters

Was also kann Deutschland angesichts der aktuellen Lage tun? Muss das öffentliche Leben wieder stark heruntergefahren werden? Oder wäre das Szenario "unkontrollierte Durchseuchung" eine Möglichkeit? Berit Lange, Leiterin der klinischen Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, glaubt nicht, dass man die Infektionen einfach so weiterlaufen lassen kann. "Die Gesundheitssysteme sind jetzt in einigen Regionen am Anschlag. Es ist überhaupt kein realistisches Szenario, dass man diese Dynamik weitergehen lässt und damit nicht nur die Gesundheitssysteme, sondern auch andere Infrastrukturen in die Überlastung stürzt, wenn viele Menschen gleichzeitig erkranken."

Lange hofft, dass an regionale Inzidenzen angepasste Kontaktbeschränkungen, 2G und 3G Regeln usw. ausreichen, um die Neuansteckungen wieder abzubremsen. Mehr Impfungen könnten zwar keinen schnellen Beitrag leisten, aber mittelfristig helfen, die Lage in den Wintermonaten Februar und März zu verbessern.

Booster-Impfung für Schwangere ab dem zweiten Trimenon

Dann ändert sich hoffentlich auch wieder das Bild, dass sich dem Intensivmediziner Steffen Weber-Carstens bietet. "Es gibt eine ganze Reihe junger Patienten auf den Intensivstationen. Sie sind überwiegend ungeimpft. Wir haben auch gehäuft schwangere Patienten jetzt auf den Intensivstationen gesehen." Gerade werdende Mütter riskieren ihr Leben und damit auch das ihres Kindes, wenn sie sich nicht impfen lassen. Die Ständige Impfkommission hat deshalb ihre Empfehlung angepasst und rät nun auch für Schwangeren zur Booster-Impfung. Wessen Zweitimpfung länger als sechs Monate her ist, kann sich ab dem zweiten Schwangerschaftsdrittel auffrischen lassen.

Quellen

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