Es geht südwestwärts

Eine Deutschlandkarte mit einem Pfeil Richtung Main-Kinzig-Kreis
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Wir reisen rund zweihundert Kilometer Luftlinie nach Südwesten in den Main-Kinzig-Kreis bei Frankfurt a. M., der in den Daten des Deutschland-Doppels die gleich hohe Pendlerquote hat wie der Landkreis Mansfeld-Südharz. Genau genommen geht es in das beschauliche Städtchen Rodenbach. Hier lebt Dirk Härtel, der zu seinem Arbeitsplatz am Frankfurter Flughafen meist ähnlich lange mit dem Auto unterwegs ist wie Jörg Stemmler nach Halle. Seit rund 25 Jahren fährt er die Strecke jetzt schon an fast jedem Werktag. Die Verkehrssituation ist trotz vergleichbarer Fahrtdauer eine völlig andere als die, welche Stemmler täglich erlebt.


Die A3 – eine Wundertüte im Rhein-Main-Gebiet

"Die A3 ist eine riesengroße Wundertüte", meint Härtel, "wenn es mal ein bisschen regnet, dann fahren die alle ganz verrückt." Wenn es gut läuft, ist er schneller am Arbeitsplatz als Stemmler – immerhin nur rund fünfunddreißig Minuten braucht er dann dank guter Anbindung – bloß hat er bei Unfällen auch schon mal zwei bis zweieinhalb Stunden gebraucht. Mit ihm pendeln immerhin auch 360.000 andere Menschen täglich ins Frankfurter Stadtgebiet hinein. Frankfurt ist die Stadt mit der höchsten Arbeitsplatzdichte in ganz Deutschland, wie man sich angesichts der Wolkenkratzer im Zentrum auch eigentlich schon hätte denken können.

Nirgendwo in Deutschland wird mehr einwärts gependelt als hier. Hier gibt es eine Ballung von Arbeitsplätzen, die sich kaum mit den beruflichen Möglichkeiten für Mansfelderinnen und Mansfelder etwa in Halle vergleichen lässt. Dazu sind es oft auch noch besonders gut bezahlte Jobs – in Frankfurt sitzen viele Deutschlandzentralen multinationaler Konzerne – und das spürt man auch im Main-Kinzig-Kreis, findet Dirk Härtel:

"Ohne tief in der Kommunalpolitik zu stecken merkt man hier schon, dass es uns relativ gut geht, dass die Gemeinde schon noch Mittel hat, um den Bürgern Lebensqualität zu bieten. Im Vergleich zu anderen Regionen … puh, da muss ich nur ein paar Kilometer in den Vogelsbergkreis reinfahren. Da machen mehr und mehr Geschäfte zu, da ziehen viele Menschen weg – eben näher an Frankfurt ran – und das merken wir auch bei uns hier. Es werden Baugebiete erschlossen, weil die Nachfrage da ist, weil wir am Rande des Speckgürtels leben."

Mann mit Polohemd neben einem roten Skoda-PKW, nasser Boden wie nach einem Regen, gepflanzte Bäume an der Seite, im Hintergrud größeres Gebäude
Dirk Härtel pendelt mit dem Auto – mit dem Zug sei es zu umständlich Bildrechte: Maximilian Enderling

Rodenbach ist für mit dem Auto Pendelnde gut gelegen. Direkt neben dem Örtchen gibt es je ein Autobahndreieck und -Kreuz, an dem unter anderem die A45 und die A66 zusammentreffen. In südwestlicher Richtung kommt Härtel über die B43a schnell zur A3 und so am Frankfurter Innenstadtverkehr vorbei zum Flughafen. Außerdem verlaufen hier durch Rodenbach die Gleise der Kinzigtalbahn, auf denen man von Frankfurt aus über Fulda nach Berlin kommt. Die Strecke ist vielbefahren und verläuft fast auf ganzer Länge durch den langgezogenen Main-Kinzig-Kreis. Mit der Bahn pendeln wäre aber keine Option für ihn, meint Härtel. Da müsse er entweder dreimal umsteigen oder erst einmal mit dem Auto zum Bahnhof von Hanau fahren, der größten Stadt des Kreises. Dort hätte er dann – so wie Jörg Stemmler – das Problem, nicht kostenfrei parken zu können. Also bleibt es für ihn beim Individualverkehr.


Arbeit im Auto ist selten ein Thema

Die Zeit, die er allein im Auto verbringt, dient ihm aber mittlerweile auch zur Entspannung. Berufliche Telefonate per Freisprecheinrichtung schon morgens auf der Hinfahrt sind für ihn selten ein Thema, weil er sich lieber ganz aufs Fahren konzentriert und die Gedanken an alles andere loslässt – außer vielleicht die an "den nächsten Urlaub", gibt er dann doch zu. Und auch am Abend sobald Dirk Härtel am Flughafen das Auto besteigt, beginnt im Kopf eigentlich schon der Feierabend. Das geht nur dank einer entspannten Haltung zum Weg.

"Es gab Zeiten, da hat mich die Fahrerei massiv genervt und ich habe mich geärgert, wenn es mal länger gedauert hat. Zwischenzeitlich ergebe ich mich meinem Schicksal und bin zu dem Schluss gekommen: Sich ärgern bringt gar nichts, außer, dass man sich emotional hochspult und am Ende total ausgelaugt zu Hause ankommt. Ich muss nicht mehr der Schnellste sein, ich muss nicht mehr auf der linken Spur sein. Ich schwimme auch gerne mal hinter oder neben den Lkw her und überlasse den Kampf um die eine Stoßstangenlänge schneller lieber den anderen."


Entspanntes Homeoffice auch nach Corona?

Besonders entspannt war es für ihn in der Zeit des ersten Corona-Lockdowns, erinnert sich Härtel. Da sei so wenig los gewesen auf den Straßen, wenn er mal ins Büro musste. Viele Arbeitstage konnte er allerdings auch im Homeoffice verbringen. Da habe er gerade in den ersten Wochen deutlich gemerkt, wie schön doch seine Wohnsituation sei. In seinem Garten konnte er Gemüse anbauen und habe "gezimmert, geschraubt, gegraben, gebuddelt und die Zeit genossen." Eine ganz neue Erfahrung, die er sich in Abstimmung mit seinem Arbeitgeber – dem Flughafenbetreiber Fraport – auch nach der Corona-Zeit wünscht.

Er denke auch häufiger mal an Bekannte, meint er, die vor Ort in Rodenbach ihren Arbeitsplatz haben und mit dem Fahrrad oder sogar fußläufig dorthin kommen. Sich ernsthaft nach anderen Jobs umgeschaut habe er aber nie, dafür sei der Flughafen eine viel zu spannende kleine Welt. Natürlich könnte Dirk Härtel wegziehen, näher an den Flughafen heran, so wie auch viele andere ihren Wohnort im Speckgürtel möglichst strategisch und ganz im Sinne ihres kürzeren Arbeitsweges wählen. Aber er ist hier in Rodenbach aufgewachsen und hat seinen Heimatort nie für längere Zeit verlassen. Außerdem lebt auch seine mittlerweile pflegebedürftige Mutter hier.


Heimat an der Bebauungsgrenze

Die "Schlafstadt" Rodenbach am Rande der hessischen Finanzmetropole ist seine Heimat. Und er genießt es, dass sie etwas abseits des großstädtischen Umfelds liegt. "Ich wohne hier direkt an der Bebauungsgrenze", beschreibt er, "zwanzig Schritte und dann stehe ich im freien Feld. Einen halben Kilometer und dann stehe ich in einem riesengroßen Waldgebiet. Da möchte ich einfach nicht weg. Da opfere ich gerne die Zeit und habe dafür hier Lebensqualität."

Auch Verena Hofmann lebt im Main-Kinzig-Kreis, ist hier geboren und aufgewachsen. Sie wohnt in Gelnhausen – einem Ort, der sich so wie Rodenbach entlang der "Perlenkette" von A66 und Kinzigtalbahn aufreiht. Im Gegensatz zu Dirk Härtel war sie bis zum Beginn der Corona-Krise auch meistens mit der Bahn gependelt, da sich ihr Arbeitsplatz auf der Schiene und anschließender Fahrt mit dem Werksbus gut erreichen lässt.


Schlafen und lernen im Zug

Die Kunststoffingenieurin arbeitet im Industriepark Höchst des ehemaligen Chemie- und Pharmaunternehmens Hoechst AG, heute Teil des französischen Konzerns Sanofi. Doch Werksbus und voller Zug wurden ihr angesichts steigender Corona-Fallzahlen irgendwann zu riskant und so ist auch sie in diesem Jahr aufs Auto umgestiegen, sofern es zwischen den Homeoffice-Wochen überhaupt einmal nötig wurde. Geprägt hat sie aber vor allem das tägliche Bahnfahren. Schon in ihrer Studienzeit in Darmstadt ist sie tagtäglich aus Gelnhausen mit dem Zug gependelt.

"Man hatte das Semesterticket und das hat nicht viel Geld gekostet. Warum sollte man dann mit dem Auto fahren? Im Zug lässt sich morgens gut schlafen, nachmittags hat man dann vielleicht schon irgendwelche Aufgaben erledigt. Man trifft ja auch schon mal wen, dann unterhält man sich. Oder man liest ein Buch."

Gerade das Schlafen ist für Verena Hofmann ein Faktor. Morgens sitzt sie meist schon gegen halb sechs im Zug, da werden dann am liebsten noch mal die Augen zugemacht. Das funktioniert bei ihr auch ganz ohne Handywecker: Auf ihre biologische Uhr könne sie vertrauen, erklärt sie. Meistens zumindest.

"Also, zu meinen Studienzeiten, gerade den Klausurzeiten … zweimal wäre ich fast wieder zurückgefahren mit dem Zug, weil ich nachts gelernt habe und einfach total müde war. Da hat mich ein Mädel dann mal freundlicherweise geweckt. Es ist auch schon passiert, dass ich jetzt zu Sanofi-Zeiten mit dem Zug bis in den nächsten Ort gefahren bin."


Ein Landkind auf dem Berg

Solche Erfahrungen bleiben aber die Ausnahme. Da ist die Wahrscheinlichkeit schon größer, mal wieder an einem Bundesliga-Spieltag im Zug zu sitzen und ihn sich mit lauten Eintracht-Fans zu teilen. Schlafen wird dann natürlich schwierig und Hofmann macht "drei Kreuze" sobald sie aussteigen kann, sagt sie und lacht. Insgesamt bedeutet das Pendeln für sie kaum verlorene Lebenszeit. Das macht allein schon der preisliche Unterschied zwischen den Mieten in Gelnhausen und Frankfurt wieder wett: "Was bekomme ich für tausend Euro in Frankfurt und was bekomme ich für tausend Euro hier im Main-Kinzig-Kreis – das ist ein wahnsinniger Unterschied!"

Vor allem ist Verena Hofmann ein Landkind und liebt ihren Kreis. Sie lebt mehr oder weniger auf dem Berg. Schaut sie aus dem Fenster, ist da viel Grün und sie kann nicht nur ihren ganzen Heimatort überblicken, sondern in der Ferne sogar bis nach Frankfurt schauen. Im Gegensatz zu Rodenbach sei Gelnhausen auch weniger eine Schlafstadt, meint sie. Es gäbe viel Programm: Kneipen, Restaurants, Dorffeste … Und wenn sie mal etwas urbaner ausgehen will, dann ist sie natürlich auch privat fix in Frankfurt – wie schon in ihrer Jugend, so auch heute. Hauptsache entspannt.


Pendelzeit – gemeinsame Zeit

Zurück im Landkreis Mansfeld-Südharz berichtet Jörg Stemmler von seinen Fahrten. Entspannung? Ja, Entspannung bringen ihm die auch auf eine Art. Er pendelt gemeinsam mit seiner Partnerin nach Halle und zurück und gemeinsam nutzen sie den ersten Teil der Heimfahrt, um sich über all das auszutauschen (und: auszulassen), was am jeweiligen Tag auf der Arbeit passiert ist … bis dann eine oder einer der beiden schließlich das Codewort für den Feierabend spricht: "Und, was machen wir uns heute zum Abendessen?"

Mit diesem Signal ist dann klar, dass all die Scherereien des Tages sogleich auf der Bundesstraße zurückgelassen werden und man sie nicht mit über die heimische Türschwelle trägt. So ist das Pendeln am Ende für jede und jeden also ein eigenes Ritual. Eines, das schon einmal ein halbes Leben mitprägen kann, weiß Jörg Stemmler.

"Ich habe damals jemanden kennengelernt, der war an der Uni Glasbläser, hat in Hettstedt gewohnt und ist jeden Tag gependelt. Da hab ich mir gedacht: 'Ey, das ist ja Wahnsinn!' – zu DDR-Zeiten noch – 'Jeden Tag fährt der hundert Kilometer!' Für den war das völlig normal. Ich konnte mir das niemals vorstellen. Und jetzt mache ich's seit dreißig Jahren."

Über den Autor und das Projekt Maximilian Enderling ist 1995 als ein zwischenmenschliches Ergebnis der Wiedervereinigung geboren – seine Mutter kommt aus Sachsen-Anhalt, sein Vater aus Nordrhein-Westfalen – und mit seinen Eltern und seiner Schwester in der Nähe von Dortmund aufgewachsen. Heute leben sie alle vier in Leipzig und vermissen "den Westen" nur noch selten.

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Deutschland-Doppels – eines Gemeinschaftsprojekts des Studiengangs M.Sc. Journalismus der Universität Leipzig und der Redaktion MDR WISSEN aus Anlass von 30 Jahren Wiedervereinigung.

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