Medizinische Versorgung Notfallmedizin: Welche Rolle spielt die "Goldene Stunde"?

07. Oktober 2020, 07:49 Uhr

Lange Zeit glaubte man, dass Unfallopfer bessere Chancen hätten, wenn sie innerhalb von 60 Minuten behandelt würden. Doch die "Goldene Stunde" ist ein unvollständiges Konzept. Andere Faktoren sind ebenso wichtig.

Wenn es zu einem Unfall mit verletzten Personen kommt, ist Eile geboten. Zwischen Unfall, Notruf und Eintreffen im Krankenhaus sollte möglichst wenig Zeit vergehen. Oft wird dabei von der "Goldenen Stunde" gesprochen.

Dieser Begriff geht auf den Mediziner R. Adams Cowley zurück, der 1975 behauptete, dass die ersten 60 Minuten über die Überlebenschancen eines Trauma-Patienten entscheiden. Viele Studien und Statistiken wurden seither zu diesem Thema erhoben. Doch bisher sind die Ergebnisse sehr unterschiedlich, das Konzept der "Goldenen Stunde" sogar umstritten. Dennoch glauben Mediziner nach wie vor, dass es einen Zusammenhang zwischen der verstreichenden Zeit zwischen Verletzung und Behandlung einerseits und den Folgen für Patienten andererseits gibt.

Alle zehn Minuten verschlechtern sich die Chancen

Einer von ihnen ist Chiang Wen-Chu vom National Taiwan University Hospital.
Er und sein Team haben die "Goldene Stunde" noch einmal unter die Lupe genommen. Dafür werteten sie die Daten von mehr als 24.000 Traumapatienten aus vier verschiedenen Ländern aus. Dabei legten sie besonderes Augenmerk auf die Zeitspanne zwischen dem Unfall und der Versorgung im Krankenhaus. Sie wollten herausfinden, ob und welche Auswirkungen die verstreichende Zeit auf die Sterblichkeit oder die Verfassung der Patienten innerhalb der ersten dreißig Tage nach dem Trauma hat.

Das Ergebnis: In Sachen Sterblichkeit lässt sich kein Zusammenhang feststellen. Doch dass ein längerer Zeitraum zwischen Verletzung und Behandlung durchaus Auswirkungen auf medizinische Folgen hat, wurde deutlich. So erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit funktioneller Beeinträchtigung mit jedem Verstreichen von weiteren zehn Minuten um sechs Prozent.

Für Chiang Wen-Chu und sein Team sind diese Ergebnisse Grund genug, das Konzept der "Goldenen Stunde" zu unterstützen, denn nur so lässt sich ein zeitlicher Rahmen festlegen, in dem Rettungskräfte vor Ort sein sollten und die Notfallmedizin ins Spiel kommt, damit Patienten bestmögliche Chancen haben.

Zeit ist nicht alles

An einem zeitlichen Rahmen und einem systematischen Ablauf zur Notfallversorgung der Bevölkerung wird auch hier in Deutschland stetig gefeilt. 2016 veröffentlichte die Bundesärztekammer ein Eckpunktepapier dazu. Dieses besagt unter anderem, dass bei "zeitkritischen Krankheitsbildern" das Intervall zwischen Notrufeingang und der Übergabe an ein geeignetes Krankenhaus nicht länger als 60 Minuten dauern sollte.

Prof. Dr. med. André Gries
Bildrechte: Universitätsklinikum Leipzig


Doch Zeit allein ist nicht alles, sagt Profesor Dr. André Gries im Gespräch mit MDR WISSEN. Er ist der ärztliche Leiter der Zentralen Notaufnahme des Universitätsklinikums Leipzig und sieht in der "Goldenen Stunde" ein ziemlich veraltetes Konzept.

Mittlerweile wissen wir, dass es drei wichtige Faktoren gibt, wenn es um die Chancen eines Trauma-Opfers geht. Wichtig sind die Zeit, wohin der Patient kommt und wie er dort behandelt wird.

Prof. Dr. André Gries, Leiter der Zentralen Notaufnahme des Universitätsklinikums Leipzig

Das nächstgelegene Krankenhaus bedeutet nämlich noch lange nicht, dass der Trauma-Patient optimal behandelt werden kann, erklärt Gries.

Es kann durchaus sinnvoll sein, einen längeren Anfahrtsweg zu einer Einrichtung in Kauf zu nehmen, die perfekt auf den Patienten vorbereitet und optimal ausgestattet ist. Andernfalls kommt er im Krankenhaus an und muss vielleicht nochmal verlegt werden, was sich wiederum negativ auf die zeitliche Komponente auswirkt.

Prof. Dr. André Gries

Darüber hinaus müssen die Rettungskräfte bei jedem einzelnen Patienten abwägen, welches Vorgehen das Beste ist. Eine pauschale Aussage lässt sich nicht treffen und auch bei Studien muss immer geschaut werden, welche Rahmenbedingungen es gibt. Denn weltweit sind die Länder notfallmedizinisch sehr unterschiedlich ausgestattet und verfolgen unterschiedliche Konzepte. Und auch die Art der Verletzungen muss berücksichtigt werden.

In Deutschland zum Beispiel überwiegt das stumpfe Trauma, in anderen Ländern ist es das 'spitze Trauma', also Stichverletzungen.

Prof. Dr. André Gries

Die "Goldene Stunde" allein sagt also noch nichts über die Chancen eines Patienten aus. Zwar ist die Zeit eine wichtige Komponente, doch erst in Kombination mit anderen Faktoren lässt sich sagen, welche Überlebenschancen ein Patient hat und welche Folgen er möglicherweise davonträgt. Unabhängig davon ist und bleibt eine möglichst schnelle Versorgung der Patienten sehr wichtig.

JeS

Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell | 08. März 2020 | 05:20 Uhr

1 Kommentar

Elke am 07.10.2020

Das sind sehr für mich sehr wichtige Aussagen von Herrn Dr. Gries und die gelten nicht nur für Unfallopfer sondern auch für andere schwer erkrankte Patienten. Es kann nicht sein, dass man im Notfall die Einlieferung in das nächstgelegene Krankenhaus am Ende mit seinem Leben bezahlt.