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Eine Frau spielt E-Gitarre. Als Wasserzeichen die Zahl 10. 12 min
Warum brauchen wir Musik? Bildrechte: MDR / Panther Media

Podcast Die großen Fragen: Warum brauchen wir Musik?

23. März 2023, 23:34 Uhr

Schon Charles Darwin, der Vater der Evolutionstheorie, hat sich die Frage gestellt, warum Musik so wichtig für uns ist. Eine These: damit wir Partner umwerben können. Doch es gibt noch so viel mehr Ansatzpunkte. Welche das sind und was Käsekuchen damit zu tun hat, klärt Karsten Möbius mit Forschenden der Psychologie und der Neurowissenschaften, die sich alle der Musik verschrieben haben.

Atemlos durch die Nacht, spür′ was Liebe mit uns macht
Atemlos, schwindelfrei, großes Kino für uns zwei...

Na, haben Sie mitgesungen oder schon das Weite gesucht? Eines von beiden geht eigentlich nur. Denn Musik lässt niemanden kalt. Musik kann sich niemand entziehen, zumindest fast niemand. Prof. Dr. med. Eckart Altenmüller, Musikphysiologe aus Hannover, sagt: "Es gibt ja auch eine kleine Gruppe von Menschen, etwa ein bis zwei Promille - davon geht man heute aus -, denen Musik überhaupt nichts sagt, die einfach damit gar nichts anfangen können. Die können auch nicht irgendwie 'Hänschen klein' von 'Fuchs, du hast die Gans gestohlen' unterscheiden lernen."

Ein klitzekleiner Teil der Menschheit ist also sozusagen musikresistent. Für den Rest von uns gehört Musik einfach zum Leben, zum Lebensgefühl. Fast alle von uns wippen automatisch mit, wenn irgendwo die ersten Takte beginnen. Musik steckt in uns, geht ganz tief rein und weckt ähnlich intensiv Erinnerungen wie beispielsweise Gerüche. Warum ist das so? Warum ist Musik so wichtig - oder ganz grundsätzlich gefragt: Warum brauchen wir Musik?

Musik als Mittel der Partnerwerbung

Schon Charles Darwin, der Vater der Evolutionstheorie, hat sich diese Frage gestellt. Und er hatte eine sehr interessante Antwort. Musik ist dazu da, das andere Geschlecht zu umwerben. Forscher des Leipziger Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften sind dieser These nachgegangen und sie fanden ausgerechnet dort, wo man es nicht vermuten würden, Hinweise, dass an dieser These was dran sein könnte - beim Thomanerchor. Denn Messungen ergaben: Die Jungs sangen anders, mit einem anderen Timbre, wenn Mädchen im Publikum saßen, sagt Hirnforscher Peter Keller:

Die Jungs haben versucht, die Aufmerksamkeit der Mädchen zu erregen, aber sehr unterschwellig. Sie haben die Performance nicht gestört. Das zeigt, wie Musik verschiedene Aspekte des Soziallebens vereint: Die Jungs haben mit den anderen harmoniert, aber gleichzeitig hatten sie diesen kampfbereiten Einschlag, als es eben darum ging, den Mädchen zu gefallen.

Dr. Peter E. Keller, ehm. Mitarbeiter des Max-Planck-Institut für Kognistions- und Neurowissenschaften

Sogar aus dem Chor heraus wird geflirtet. Doch die Darwinsche Werbungshypothese greift zu kurz. Wenn überhaupt, dann ist sie nur ein winziger Teil einer möglichen Antwort auf die Frage: Warum brauchen wir Musik?

Musik ist vor mindestens 40.000 Jahren entstanden

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Antwort auf diese Frage wird extrem schwierig. Denn wir waren damals nicht dabei, als Musik entstand. Sicher wissen wir, dass es vor mindestens 40.000 Jahren bereits Musik gegeben haben muss. Flöten aus Rentier- und Geierknochen beweisen das. Und sie beweisen, dass überall dort, wo Menschen waren, auch immer Musik dabei war. Die grundsätzlichste These ist, dass Musik genauso zu uns gehört wie Sprache. Dass Musik und Sprache gemeinsam entstanden sind - und sich irgendwann trennten, in einen rationalen und einen emotionalen Zweig: eben in Sprache und Musik. Melanie Wald-Fuhrmann, Ko-Direktorin des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik in Frankfurt, hält das für eine "ziemlich steile These":

Dazu bräuchte man ja Aufnahmen ursprünglichen Sprechens, Singens, Vokalisierens, die wir natürlich nicht haben. Es gibt Versuche anhand von Fossilien von frühen Menschen, um zu gucken: Können wir irgendwie eine Idee entwickeln, was der Kehlkopf, so wie er ist, eigentlich an Lauten zulässt. Aber das heißt natürlich überhaupt nicht, dass man dann auch sicher weiß, was die denn nun tatsächlich mit ihren Kehlköpfen für Laute produziert haben.

Prof. Dr. Melanie Wald-Fuhrmann, Ko-Direktorin des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik

Melanie Wald-Fuhrmann führt weiter aus, dass es noch eine andere typische Methode gibt. Dabei betrachtet man die Entwickung einen einzelnen Menschen, also die Ontogenese. Daraus wiederum werden Rückschlüsse auf die Phylogenese, also die Menschheit als Ganzes, gezogen. Kinder zum Beispiel haben als erstes etwas wie unmittelbare Empfindungslaute: Schreien, Weinen, Lachen. Dann lernen sie zu sprechen und dann, wie Musik gemacht wird. "Aber all das sind höchstens Plausibilitätsargumente, die man daraus ziehen kann. Es ist kein wissenschaftlicher Beweis", gibt Wald-Fuhrmann zu bedenken.

Musik und Sprache sind wie Bruder und Schwester

Unstrittig ist aber, dass Sprechen, Singen und Musik logischerweise wie Bruder und Schwester sind, dass sie ähnlich funktionieren und dass Gesang auch beim Sprechen lernen hilft, weil sich die Strukturen ähneln, sagt Neuropsychologin Daniela Sammler:

Musik und Sprache sind beide in Abschnitte untergliedert. Das liegt daran, dass, wenn wir sprechen oder singen, uns irgendwann die Luft ausgeht und wir eine Pause machen müssen. Das hilft auch, um zum Beispiel Satzenden zu erkennen. Eine zweite Sache ist, dass sowohl Sprache als auch Musik Rhythmus haben. Im Deutschen zum Beispiel ist sehr häufig die erste Silbe betont.

Dr. Daniela Sammler, Neuropsychologin am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik

Daniela Sammler nimmt die Wörter "Mama" und "Papa" als Beispiel. Die Betonung auf die erste Silbe seien musikalische Cues, also spezielle Reize in der Sprache, die die Kinder extrahieren und nutzen können, um zu erkennen "Aha, hier geht ein Wort los!"

Wiegenlieder beruhigen das Baby-Gehirn

Alles Rhythmische, alles Musikalische beginnt für uns schon im Mutterleib. Wahrscheinlich ist der erste Rhythmus, den wir spüren, der Herzschlag der Mutter, die Stimmen und die Sprache der Eltern. Die allererste Musik, die extra für neue Menschen gemacht ist, sind Schlaf- und Wiegenlieder. Ihre Magie erreicht selbst das Baby. Hier eine Version aus einer neuproduzierten Zusammenstellung des MDR Sinfonieorchesters und des MDR Kinderchors:

Ein von einem Kind gemaltes Bild zum "Schlaflied für Anne" 3 min
Bildrechte: MDR/Annet
3 min

Auch die starke Kindermusik-Heldin Anne Kaffeekanne braucht mal eine Pause: Dann singt der MDR-Kinderchor ihr dieses Schlaflied, begleitet nicht von Annes Schöpfer Fredrik Vahle, sondern vom MDR-Sinfonieorchester.

Schlaflieder Fr 11.11.2022 10:10Uhr 02:46 min

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Video

Die Wirkung dieser Musik ist atemberaubend. Der Gesang oder wie hier das Summen beruhigt das Baby-Gehirn. Das Hormon Oxytocin wird ausgeschüttet. Das Kind fühlt sich sicher und lernt, zu wem es gehört. Singende Mütter waren im Steinzeit-Alltag vielleicht im Vorteil. Denn eine Mutter, die singt, kann ihr Kind leichter ablegen und hat dann die Hände frei, um Nahrung zu sammeln oder Kleidung herzustellen.

Musik transportiert Emotionen

Die Antwort auf die Frage "Warum brauchen wir Musik" lässt sich am besten finden, wenn wir analysieren, wozu wir Musik benutzen. Musik schweißt Gruppen zusammen. Wer mit anderen Musik macht, der fühlt sich hinterher mit ihnen verbunden. Aber man sollte das auch nicht überbewerten. Gemeinsames Kochen oder zusammen Fußball-Spielen haben denselben Effekt.

Musik motiviert, macht Mut - das "Hurra" beim Sturmangriff, das Pfeiffen im Keller. Der Kriegsgesang schüchtert außerdem noch den Feind ein. Die Trommel auf der Galeere synchronisiert Bewegungen und Abläufe. Der Blues der Sklaven auf den Baumwollplantagen symbolisierte Gemeinschaft, gab der Traurigkeit ein Ventil und half körperliche und seelische Schmerzen besser durchzustehen.

Musik ist immer extrem emotional. Ein guter Song ist wie ein einfühlsamer Zuhörer: Wir fühlen uns von ihm verstanden - bei Liebeskummer von der Pop-Ballade, bei Wut auf den Stau am Feierabend vielleicht von Heavy Metal. Musik holt Erinnerungen aus den tiefsten Regionen unseres Gehirns und lässt in uns Gefühle wach werden, die wir bei einer Melodie vor vielen Jahren hatten, als wäre es gestern gewesen.

Musik ist Sport fürs Gehirn

Aber vor allem macht Musik-Hören einfach Spaß. Was daran liegt, dass unser Gehirn dabei auf ideale Weise gefordert wird. Musikphysiologe Eckart Altenmüller beschreibt, was beim Musikhören im Gehirn passiert:

Musik-Hören ist etwas, was das Nervensystem fasziniert, weil es eben Lernen in Echtzeit ist. Und unser Gehirn liebt es, sich zu verfeinern, zu lernen, neue Muster zu erkennen, und das ist eben im Akt des Hörens lustbetont dabei.

Prof. Dr. med. Eckart Altenmüller, Institut für Musikpsychologie und Musik-Medizin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover

Am Anfang ist das Hören eines Musikstücks für ihn geprägt von einer Komplexität des Datengehalts. Es ist, sagt Altenmüller, extrem reichhaltig und für uns überfordernd, aber im Prozess des Hörens von einem Stück, in dem kleine Abschnitte wiederholt werden, indem wir Klänge erkennen - Oktaven, Intervalle wiedererkennen, indem wir Stimmen wiedererkennen, wird diese Komplexität reduziert. Sie wird auf eine für uns verarbeitbare Informationsmenge reduziert, und das führt dann dazu, dass wir das als lustbetont erfahren.

Musik statt Tabletten

Nicht nur, dass Musik Freude macht. Sie kann wie Medizin wirken. Musik statt Tabletten - so das Motto bei der Musiktherapie, bei der entweder die Patienten selbst musizieren oder gezielt Musik anhören. Beim Zahnarztbesuch kann Musik die Angst nehmen und sogar Schmerzen reduzieren. Bei Depressionen kann Musik-Hören helfen, negativen Gedankenspiralen zu entkommen. Demente singen bei den Hits ihrer Jugend schon mal Wort für Wort mit. Parkinson-Patienten fangen an zu tanzen. Und auch Wachkoma-Patienten kann man mit Musik erreichen: Wenn sie ihre Lieblingsmusik hören, verbessern sich die Atemfrequenz, der Herzschlag und der Blutdruck. Und glaubt man dem Neurowissenschaftler Stefan Koelsch, dann steht die Musiktherapie erst am Anfang.

Wir haben bis jetzt, glaube ich, erst an der Oberfläche gekratzt und gesehen, wie groß das Potenzial von Musik tatsächlich ist, in unserem Gehirn Dinge zu bewirken, von denen wir uns vorher nicht hatten vorstellen können, dass das so möglich ist. Ein Grund dafür ist, denke ich, dass Musik so viele unterschiedliche Bereiche unseres Gehirns beeinflussen kann. Ich würde sogar so weit gehen, dass ich sage, es gibt keinen Bereich des Gehirns, der nicht auch durch Musik beeinflusst werden kann.

Prof. Stefan Koelsch, Professor für biologische Psychologie, medizinische Psychologie und Musikpsychologie an der Universität Bergen (Norwegen)

Neben der These, dass Musik in uns steckt, in unseren Genen, dass sie Teil unserer Evolution ist, gibt es da noch die Theorie vom Käsekuchen.

Musik ist nicht überlebensnotwendig, aber macht das Leben schön

Die Theorie des Käsekuchens besagt: Kein Mensch braucht wirklich Musik. Musik hat keinerlei Funktion. Schön, wenn sie da ist - so wie ein Käsekuchen auf dem Tisch, aber überlebensnotwendig ist sie nicht. Musikphysiologe Eckart Altenmüller erläutert: "Diejenigen, die den Ursprung, der Musik beforschen, sind meistens Musikliebhaber. Das muss man einfach so sagen, sonst würden sie sich für dieses Thema auch nicht interessieren. Und die waren natürlich total entrüstet und haben eben argumentiert: Nein, man kann ohne Musik nicht leben. Es ist natürlich möglich, auch ohne Musik zu leben. Aber das Leben mit Musik ist sicher ein besseres Leben. Ich glaube auch, das Leben mit Käsekuchen, das war ja der Vergleich, ist letztendlich ein besseres Leben als das Leben ohne Käsekuchen."

Karsten Möbius

1 Kommentar

Uborner am 10.12.2022

Warum brauchen wir Musik? Weil uns nichts so berührt wie Musik.