Mathematik Schularbeit
Probleme mit Mathe? Dyskalkulie ist keine Krankheit Bildrechte: IMAGO / JOKER

Rechenschwäche Mathe-Therapeuten: Dyskalkulie ist keine Krankheit und Rechnen für fast jeden erlernbar

08. Mai 2023, 16:59 Uhr

Vergangene Woche war in vielen Ländern Abitur in Mathe. Einige Schüler haben große Probleme mit dem Fach, einige leiden sogar unter Dyskalkulie. Doch die sei nicht angeboren, sondern lösbar, sagen Therapeuten.

Autorenfoto von Clemens Haug
Bildrechte: Tobias Thiergen/MDR

"Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, aber heute kann meine Tochter rechnen." Miriam Schmidt (Name geändert) hat einen langen Leidensweg hinter sich. Ihr heute 13 Jahre altes Kind kam schon ab der ersten Klasse einfach nicht mit im Mathematikunterricht. Bei den Tests machte sie viele Fehler und mit der Zeit wurden die Probleme größer.

Die Lehrer rieten der Mutter, sie solle mehr üben mit ihrer Tochter. Miriam Schmidt, die genau wie ihr Mann studiert hat, versuchte ihr Bestes: Sie erklärte der Tochter das Rechnen beim Backen oder mit Holzwürfeln, "damit sie das sieht", sagt Schmidt. Aber das half alles nichts. "Ich konnte mir damals einfach nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, die sich Zahlen nicht vorstellen können", sagt sie heute.

Bildungsministerien erklären sich für nicht zuständig bei Dyskalkulie

Die Lehrer in der Schule wussten nichts über Dyskalkulie – dem Problem, das manche Kinder besondere Lernschwierigkeiten in Mathematik haben. In den Bildungsministerien ist zwar bekannt, dass es Kinder gibt, die eigentlich gut mitkommen in den meisten Fächern und nur an Zahlen und Rechnen scheitern. Aber im Gegensatz zur Legasthenie – der sogenannten Lese- und Rechtschreibschwäche – erklären sich Fachbeamte und Bildungspolitiker oft für nicht zuständig.

"Dyskalkulie unterscheidet sich von der Leserechtschreibschwäche dahingehend, dass es noch nicht annähernd gute und valide Forschungsergebnisse gibt", sagt Felix Knothe, Sprecher des Kultusministeriums in Thüringen Anfang des Jahres auf Anfrage von MDR AKTUELL. Und fügt hinzu: "Wir gehen davon aus, dass bei Dyskalkulie vor allem die Leistungsfähigkeit des Schülers oder der Schülerin selber eingeschränkt ist, weniger der Nachweis der Leistungsfähigkeit." Mit anderen Worten: Bei der Dyskalkulie ist nicht der Schulunterricht das Problem, sondern der Schüler.

Die Rechenschwäche war lösbar – heute kann das Mädchen die Grundrechenarten erklären

Miriam Schmidt hatte Glück. Von früher kannte sie eine Freundin, die bis in ihr Erwachsenenalter an einer Rechenschwäche litt. "Nur deswegen hab ich überhaupt in diese Richtung überlegt, ob dass das Problem meiner Tochter sein könnte", sagt sie. Am Ende hat sie dem Mädchen dadurch wahrscheinlich ein großes Stück Zukunft gerettet. Denn Schmidt konnte ihrer Tochter eine Therapie finanzieren. Drei Jahre lang besuchte das Mädchen einmal pro Woche das Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche (ZTR) in Leipzig. Die Einrichtung gibt es auch in vielen anderen Städten.

"Die haben das irgendwie hinbekommen, ihr das zu erklären", sagt Schmidt. Allmählich verbesserten sich die schlechten Noten, wurde aus der Fünf in Mathe, eine Vier, dann eine Drei. Heute besucht das Mädchen eine freie Oberschule in Leipzig, steht dort aber auf einer Zwei in Mathe. "Sie wird keine Versicherungsmathematik machen, aber die Grundrechenarten funktionieren", bilanziert die Mutter.

Rechenschwäche ist wissenschaftlich gut verstanden und beschrieben

Der Fall steht exemplarisch für das Phänomen der Rechenschwäche, die einige als angeborene Krankheit sehen wollen, die für Wissenschaftler aber vor allem aus einem mangelhaften Mathematikunterricht in den Schulen entsteht. So sehen es nicht nur die Therapeuten beim ZTR sondern auch Bildungsforscher, die sich lange mit Dyskalkulie beschäftigt haben.

Der Erziehungswissenschaftler Michael Gaidoschik arbeitet an der Universität Bozen in Südtirol zum Problem der besonderen Lernschwierigkeiten im Mathe-Unterricht. Spricht man ihn auf die Behauptung des Thüringer Kultusministeriums an, das Problem sei noch nicht ausreichend erforscht, dann lacht er hell auf und antwortet dann knapp: "Natürlich kann man immer noch weitere Details untersuchen. Aber diese Aussage entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage."

Wer Mathematik-Grundlagen nicht versteht, bekommt immer größere Folgeprobleme

Schon seit den 1930er-Jahren gibt es Untersuchungen, die die im Grunde zutiefst logische Besonderheit des Mathematikunterrichts immer wieder auf einen Punkt gebracht haben. Mehr als in den meisten anderen Schulfächern ist Mathematik streng hierarchisch aufgebaut. Jeder Lernschritt baut auf vorangegangenen Schritten auf. Wer nicht verstanden hat, das Zahlen Mengen bezeichnen, wird große Schwierigkeiten haben, zu addieren und zu subtrahieren. Wer "Plus" und "Minus" nicht kann, versteht "Mal" und "Geteilt" nicht. Und wer mit diesen Grundrechenarten nicht klar kommt, wird Funktionen mit Variablen nie verstehen.

"Wenn man auf einer bestimmten Stufe was Wesentliches nicht ausreichend verstanden, nicht ausreichend gefestigt hat, dann wird es auf einer höheren Stufe zu Folgeschwierigkeiten kommen", fasst Gaidoschik zusammen. Wer also früh im Mathematikunterricht etwas nicht versteht, der handelt sich Probleme ein, die von Jahr zu Jahr immer größer werden. "Immer kommt neuer Stoff dazu. Die Kinder entwickeln immer mal wieder neue Ersatzstrategien."

Ein angeborenes Verständnis für Zahlen gibt es nicht

Olaf Steffen, Jörg Kwapis und Steffen Marx stehen nebeneinander
Olaf Steffen, Jörg Kwapis und Steffen Marx stehen nebeneinander Bildrechte: MDR/Clemens Haug

Dieses Problem kennen die Therapeuten vom ZTR. Bei Schülern dürfen im Verlauf des Mathelernens keine Lücken entstehen. "Weil dann fehlen Kenntnisse, um den nächsten Schluss ziehen zu können. Und wenn ich einen Schluss nicht gezogen habe und den nächsten dann nicht ziehen kann, dann habe ich eine Wissenslücke erarbeitet, die mich ganz schnell dahin bringt, dass ich vollkommen abgehängt werde von diesem Lernprozess", sagt Olaf Steffen, einer der Leiter des ZTR.

Doch das Bildungssystem scheitert oftmals daran, den Kindern die notwendigen Grundlagen zu vermitteln. Ein natürliches Verständnis für Zahlen gebe es aber nicht, sagt Steffens Kollege Jörg Kwapis. "Im Mittelalter haben alle mit den Fingern gerechnet." Anders als im Mittelalter fordern heutige Gesellschaften von den Einzelnen, dass sie ein abstraktes Verständnis von Zahlen entwickeln. Doch das entwickelt sich nicht von selbst. Deswegen fordert Kwapis: "Man muss das mit Kindergartenkindern systematisch erlernen."

Manchmal sind grundlegende Konzepte von Mathematik nicht verstanden worden

Ein Junge schreibt.
Ein Verständnis für Zahlen ist nicht angeboren, sondern muss erlernt werden, sagen Mathepädagogen. Bildrechte: IMAGO/Westend61

Um das Problem besser zu verstehen, hilft vielleicht folgendes Beispiel: In das ZTR kommen Kinder und mitunter sogar Erwachsene, für die Zahlen nicht für abstrakte Mengen stehen, sondern reine Namen sind, ohne bestimmten Inhalt, die in einer Reihe stehen wie die Buchstaben im Alphabet. Die Sieben kommt nach der Sechs und steht vor der Acht. Diesen Menschen fehle die Erkenntnis "dass ich zu Sechs auch sagen kann, dass ist einer weniger als Sieben oder zweimal Drei", erklärt Kwapis. Stattdessen behelfen sich Betroffene häufig mit Ersatzstrategien: Sie lernen Ergebnisse auswendig, zählen ab oder müssen versuchen, die Lösungen von Mitschülern abzuschreiben. All das ist extrem anstrengend. So lässt sich Mathematik nur unter größten Mühen überstehen.

Leidet ein Kind an einer Rechenschwäche, bedeutet das aus Sicht der Pädagogen und Therapeuten vor allem: Ihm fehlt ein bestimmter Schritt in der langen Reihe von Erkenntnissen, die die Fähigkeit zum Rechnen und zur Mathematik eben ausmachen. Die Schulen aber scheitern oft dabei, diese Lücken bei ihren Schülern zu füllen. Denn Lehrpläne geben vor, dass im Unterricht ständig neue Themen drankommen müssen, egal ob alle Schüler die Grundlagen dafür haben oder nicht. "Der beste Unterricht wird nicht ausreichen, solange man an dem Grundsatz festhält, dass alle Kinder in einer bestimmten Zeit einen bestimmten Lernfortschritt machen sollen", sagt Mathematikpädagoge Gaidoschik.

Dyskalkulie nur durch grundlegende Veränderung des Schulsystems lösbar

Eine Lösung innerhalb der Schule wäre nur durch eine Art Bildungsrevolution möglich, sagen die Mathematik-Therapeuten vom ZTR: "Der Unterricht müsste viel mehr individualisiert werden. Speziell ausgebildete Lehrer mit Mathematikkenntnissen müssten die entstandenen Lücken bei den Kindern korrigieren. Oder sie gar nicht erst entstehen lassen", sagt Olaf Steffen. Doch dafür müssten sich die Lehrenden intensiver mit den einzelnen Schülern beschäftigen. In großen Klassen mit mehr als 25 Schülerinnen und Schülern ist das reichlich unrealistisch.

Hinzu kommt, dass im Schulsystem mit seinen Zensuren noch oft erwartet wird, dass bei den Tests am Ende eine Art Normalverteilung der Zensuren herauskommt. Eine Arbeit gilt dann als ausreichend schwer, wenn wenige Schüler sehr gute Noten bekommen, die meisten eine Drei oder Vier schreiben und ein paar wenige ein schlechtes Ergebnis erzielen. Doch Letzteres bedeutet häufig, dass bestimmte Inhalte  nicht verstanden wurden – welche das sind, und ob es sich möglicherweise um kumulierte handelt, ermittelt die Schule nicht. Kann diese Lücke danach nicht geschlossen haben, verliert das Kind den Anschluss. Bei Rechenschwäche passiert das bereits im Anfangsunterricht der ersten Klassen.

"Das kann soweit führen, dass Kinder Mathematikangst entwickeln", sagt Michael Gaidoschik. Bekommen sie keine Hilfe, ziehen sich die Schüler irgendwann zurück, werden trotzig, stören den Unterricht oder gehen gar nicht mehr hin.

Rechenprobleme können sich zu psychischen Problemen auswachsen

Im ZTR erleben die Therapeuten, dass Kinder sehr schnell Vertrauen fassen, wenn sie merken, dass sie plötzlich Mathematik verstehen. "Wir bringen mit den Lernenden zusammen den Beweis: Du bist ein Mathe-Experte. Du kannst erklären, was da passiert und das können Experten", sagt Jörg Kwapis. Nicht alle Kinder werden durch die Therapie plötzlich zu Rechenprofis. Aber wie im Fall von Miriam Schmidts Tochter gelinge es in 98 Prozent der Fälle, ein grundlegendes Verständnis von Mathematik zu vermitteln, sagt Olaf Steffen.

Allerdings kostet die Therapie Geld, etwa 250 bis 300 Euro im Monat für 45 Minuten Mathematik pro Woche. Eine Übernahme der Kosten durch die von den Jugendämtern verwalteten sozialen Hilfen gibt es nur, wenn die Kinder neben der Lernschwierigkeit eine Reihe von anderen seelischen Problemen und vielleicht auch körperlichen Symptomen zeigen, die aus den Problemen mit Mathematik resultieren. Es muss durch fachärztliche Diagnose überprüft werden, ob eine solche Entwicklung vorliegt oder einzutreten droht, nur dann besteht Rechtsanspruch auf geeignete Hilfe.

Echter Nachteilsausgleich: Mathematik erklären

Einige Eltern und Verbände bitten zusätzlich darum, dass Kinder sogenannte Nachteilsausgleiche bekommen sollen, wenn sie besondere Probleme mit Mathematik haben – mehr Zeit für Klassenarbeiten etwa oder weniger strenge Zensuren. Auch Sicht des Bildungsexperten Gaidoschik oder aus Sicht der Therapeuten vom ZTR ist das ein falscher Weg. "Das würde bedeuten, statt dem Problem die Symptome zu behandeln. Am ursächlichen Wissensdefizit ändert das rein gar nichts; das soziale Abseits droht weiterhin, denn jede Ausbildung verlangt Mathematikkenntnisse. Offensichtlich geht man fälschlicherweise weiterhin von einer Krankheitshypothese aus, dass Rechenschwäche sich nicht nachhaltig beseitigen ließe", sagt Olaf Steffen.

"Der einzige Nachteilsausgleich der seinen Namen verdient hat, wäre den Kindern die mathematischen Konzepte zu erklären", sagt Michael Gaidoschik. Doch das sei für viele Lehrkräfte extrem schwierig, besonders, wenn sie keine Mathematik-Pädagogik studiert haben, sondern als Quereinsteiger in den Beruf kommen.

Mathematik verstehen: Es ist nie zu spät

Zu spät sei es nie, um in Mathematik aufzuholen, sagten die Therapeuten im Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche. Jörg Kwapis erzählt von einer Krankenpflegerin, "die hat sich aus dem Beruf zurückgezogen, weil sie nicht wusste, was sie da eigentlich tut, wenn sie Medikamente abfüllte oder zusammenstellte." Jetzt geht sie das Problem an, parallel zu einer medizinischen Weiterbildung. "Das macht sie erfolgreich", sagt Kwapis. Die Rückkehr in den Job sei schon geplant.

Anmerkung 2.5.: In einer früheren Version dieses Artikels wurde fäschlicherweise angegeben, die 13-jährige Tocher besuche eine Förderschule. Tatsächlich besucht sie eine freie Oberschule und steht dort auf einer 2 in Mathematik. Wir haben das korrigiert.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 02. Januar 2023 | 06:00 Uhr