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Brauchen wir für unsere E-Autos Atomstrom? Bildrechte: imago images/Cavan Images

FaktencheckEnergiewende und E-Autos: Braucht Deutschland dafür Atomstrom?

30. Dezember 2021, 15:37 Uhr

Die Debatte um Atomstrom ist – mal wieder – entbrannt. Der CDU-Vorsitzende Friedrich März will "nicht immer nur aussteigen" und betont die Klimaverträglichkeit. Auch im MDR AKTUELL-Radio äußerte sich jüngst Automobilexperte Ferdinand Dudenhöffer positiv über Atomstrom: E-Autos würden ohne Atomstrom in naher Zukunft "liegenbleiben". Was ist dran an den Aussagen Dudenhöffers und der Debatte über Atomstrom?

Loriot hat Recht! Ein kleines Atomkraftwerk darf in keinem Haushalt fehlen. Jedenfalls könnte man diesen Eindruck bekommen, wenn man die Atomkraft-Debatte des Jahres 2021 noch einmal Revue passieren lässt. Anfang des Jahres verkündete das Redaktionsnetzwerk Deutschland, der Trend ginge zum Mini-Reaktor, auch Umweltschützer würden für Nuklearenergie werben. Das Thema Atomkraft hatte im Jahr 2021 ein großes Comeback. Auch wir haben uns immer wieder damit befasst.

Zum Abschluss des Jahres betrachten wir einige Behauptungen zum Thema Atomenergie genauer und unterziehen sie einem Faktencheck. Droht der Blackout? Und reichen erneuerbare Energien überhaupt, um unseren Strombedarf auch in Zukunft zu decken? Welche Rolle kann Kernspaltung dabei spielen – und wie steht es um die Kernfusion?

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Behauptung: Ende 2021 kommt der Blackout

In den sozialen Netzwerken kursiert eine Liste mit Kraftwerken, die zum 31.12.2021 abgeschaltet werden sollen. Insgesamt würden dadurch 8.900 MW an Leistung fehlen. Daher würde es deutschlandweit zu Stromausfällen kommen. Diese Liste ist aber irreführend. Ein Großteil der Kraftwerke wurde bereits abgeschaltet, darunter die Kohlekraftwerke Westfalen, Ibbenbüren, Duisburg-Walsum, Warburg, Jülich, Moorburg und Bremen-Hafen.

Zum 31.12.2021 sollen tatsächlich die Atomkraftwerke Grohnde, Gundremmingen C und Brokdorf abgeschaltet werden. Die stufenweise Abschaltung der AKWs wurde allerdings bereits 2011 von der Regierung beschlossen und kommt nicht abrupt. Durch die Netzreserveverordnung wird in einer jährlichen Systemanalyse festgestellt, ob sich Verbrauch und Bedarf in den nächsten Jahren noch decken. Es gibt keine Anzeichen für einen Blackout.

Behauptung: Wind und Sonne reichen nicht als Energiequelle

Im Interview mit MDR AKTUELL stellt Ferdinand Dudenhöffer Behauptungen auf, die darauf abzielen, dass in absehbarer Zeit der Energiebedarf in Deutschland insbesondere durch die E-Mobilität stark anwächst, und dass dieser nicht durch erneuerbare Energien gedeckt werden kann, sodass eine Rückkehr zum Atomstrom unverzichtbar erscheint: "Wenn wir nicht auf Atomstrom gehen, laufen wir in 10 bis 20 Jahren in einen extremen Engpass der Stromversorgung, weil wir 50 Millionen E-Autos auf unseren Straßen haben. […] Der Stromausbau mit Erneuerbaren Energien kann nicht dahin kommen wo wir ihn brauchen. […] Wir bräuchten mindestens 60.00 Windkraftanalagen, was nicht geht."

Grundsätzlich reicht schon mit der heutigen Technik in Wind- und Solaranlagen ein Bruchteil der Erdoberfläche aus, um den weltweiten Energiebedarf hundertfach zu decken. Eine Studie des Thinktanks "Carbon Tracker" kommt zu dem Schluss, dass 0,3 Prozent der Oberfläche reichen. Allerdings sind diese Ressourcen ungleich verteilt: Grade in Mitteleuropa ist die Ausbeute aus Sonnenenergie geringer als in anderen Teilen der Welt.

Der Stromverbrauch in Deutschland ist seit Beginn der 1990er-Jahre im Trend gestiegen. Den meisten Strom verbraucht die Industrie, gefolgt vom Gewerbe-, Handels- und Dienstleistungssektor, den privaten Haushalten und dem Verkehrssektor. Für den Verbrauch des Pkw-Verkehr in Deutschland berechnete das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI für das Jahr 2030 ein zusätzlicher jährlicher Strombedarf von 44 Terawattstunden.

Neue Windkraftanlagen verfügen im Schnitt über eine Leistung von vier Megawatt. Im Koalitionsvertrag wurde für das Jahr 2030 ein Zubau von 30 Gigawatt allein als Offshore-Windkraft festgesetzt. Bei einer vorsichtig geschätzten Laufzeit der Anlagen von jeweils 3.000 Stunden pro Jahr kommen insgesamt 65 Terawattstunden durch die zusätzlichen Offshoreanlagen zusammen, würden also den zusätzlichen Energiebedarf für den Verkehrssektor im Jahr 2030 decken.

Unabhängig davon sind die Herausforderungen erheblich, vor die uns ein Wandel zu 100 Prozent Erneuerbaren Energien stellt. Das Fraunhofer Institut kommt in einer Studie zu dem Schluss, dass es grundsätzlich möglich ist. Ob dies gelingt, hängt von vielen Unbekannten ab, zum Beispiel vom politischen Willen oder dem Verhalten von Unternehmen. Studien zur Machbarkeit der Energiewende gehen dabei von den Zieljahren 2035 bis 2050 aus.

Behauptung: Atomstrom ist CO2-neutral

Ferndinand Dudenhöffer behauptet im Interview mit MDR AKTUELL-Radio, dass der steigende Energiebedarf nicht mit erneuerbaren Energien gedeckt werden kann, und dass somit als klimafreundliche Alternative zur fossilen Verstromung allein die Atomkraft bleibt: "Das Grundproblem ist: wir wollen in null CO2 gehen, wir wollen weg vom Klimawandel, wir wollen ihn bekämpfen."

Atomstrom ist nicht CO2-neutral. Die Treibhausgas-Emissionen werden größtenteils vor und nach der eigentlichen Stromerzeugung verursacht. Betrachtet man den gesamten Prozess und nicht bloß die relativ kurze Zeitspanne des Verbrennens, fallen CO2-Emissionen beim Uranabbau an, bei der Brennelementherstellung, beim Kraftwerksausbau sowie -rückbau, und eine schwer zu schätzende Menge bei der Endlagerung des radioaktiven Mülls über mindestens eine Millionen Jahre.

Laut IPCC-Bericht von 2014 liegen die Treibhausgasemissionen von Kernkraftwerken über den gesamten Lebenszyklus im Bereich von 3,7 bis 110 Gramm CO2-Äquivalenten pro Kilowattstunde mit einem Median von 12 Gramm CO2-Äquivalenten pro Kilowattstunde. Dies ist in etwa so viel wie Windenergie auf dem Land oder einer Windturbine auf See. Wichtig bei dieser Rechnung ist allerdings, dass die Endlagerung von Atommüll über mindestens eine Millionen Jahre nicht miteinfließt.

Behauptung: Die ganze Welt setzt auf Atomstrom

In der Europäischen Union wird zurzeit kontrovers darüber diskutiert, ob Investitionen in Atomstrom als nachhaltige Investitionen klassifiziert werden können. Während Deutschland, Luxemburg, Portugal, Dänemark und Österreich Atomenergie als nicht nachhaltige Investitionen sehen, ist die Mehrheit der EU-Staaten für eine Klassifizierung von Investitionen in Atomkraftwerke und Atommüll-Lager als nachhaltige Investitionen. Acht EU-Staaten wollen auch Investitionen in Gas-Kraftwerke als nachhaltig einordnen.

Ferdinand Dudenhöffer sagt im MDR AKTUELL-Radio: "Da geht die ganze Welt hin: Atomstrom. Übrigens auch in Belgien: Da hatte man auch den Abschied von Atomenergie verkündet und jetzt fährt man zurück und baut die kleiner Kraftwerke."

Weltweit nutzen 30 von 195 Staaten Kernenergie, wobei knapp die Hälfte aller Reaktoren in lediglich drei Ländern betrieben werden: den USA (94), Frankreich (56) und Japan (33). Deutschland befindet sich mit 6 Reaktoren auf Platz 14. Auch viele mit Deutschland vergleichbare Länder besitzen keine Atomkraftwerke oder haben alle Reaktoren stillgelegt, darunter Österreich, Dänemark, Italien, Griechenland, Portugal oder Irland. Weltweit befinden sich etwa gleich viele Staaten in Planung oder Bau eines ersten Atomkraftwerks, wie im Atom-Ausstieg. Es gibt kein Land, das einen größeren Anteil an Atomkraft im Strom-Mix hat als Frankreich.

In Frankreich verzögert sich die Fertigstellung des einzigen neu im Bau befindlichen Atomkraftwerk Flamanville. Ursprünglich sollte das Kraftwerk vom neuen Typ Europäischer Druckwasserreaktor EPR 2012 fertiggestellt werden und 3,3 Mrd. Euro kosten. Aktuell belaufen sich die Baukosten auf 19,1 Mrd. Euro, ein Ende ist nicht absehbar. Nach etlichen Verzögerungen ist die Inbetriebnahme nun für das Jahr 2022 vorgesehen, zehn Jahre nach dem ursprünglichen Fertigstellungstermin und 15 Jahre nach dem Baubeginn.

Belgien beschloss vor mehr als 20 Jahren das Aus für Atomstrom im Jahr 2025 per Gesetz. Dieses Gesetz ist auch weiterhin in Kraft und die Regierung bekräftigt den Willen, im Jahr 2025 auch die verbleibenden zwei Reaktoren vom Netz zu nehmen, falls die Energieversorgung auch ohne diese Reaktoren gesichert ist. Gleichzeitig investiert Belgien 100 Millionen Euro für die Forschung an sogenannten Small Modular Reactors (SMR). Ein Bau von SMR ist in Belgien nicht geplant.

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Behauptung: Bei kleineren Kraftwerken (Small Modular Reactors) sind Kernschmelzen ausgeschlossen

Seit den 1950er-Jahren forscht man an Small Modular Reactors (SMR). Die Idee ist, die immensen Bauzeiten und notwendigen Investitionsmittel von großen Atomkraftwerken zu verringern, was bisher nicht gelang. Ferdinand Dudenhöffer sagt im MDR AKTUELL-Interview, dass SMR auch sicherer sind im Vergleich zu herkömmlichen AKWs.

"Bei den kleineren Kraftwerken (SMR, Anm. d. Red.) ist es so, dass sowas wie Kernschmelzen überhaupt nicht mehr vorkommen können, das ist nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch ausgeschlossen. Wie würden wir heute über Kernenergie sprechen, wenn es weder Tschernobyl oder Fukushima gegeben hätte? Wir würden ganz anders über Kernenergie reden."

Es gibt eine Vielzahl an verschiedenen Konzepten für SMR. Diese reichen von "heutigen" Leichtwasserreaktoren mit geringer Leistung bis hin zu andersartigen Konzepten, für die bislang wenig oder keine industrielle Vorerfahrung vorliegt (wie beispielsweise Hochtemperatur- oder Salzschmelze-Reaktorkonzepte).

Das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) hat 2021 ein umfangreiches Gutachten präsentiert, das 136 verschiedene historische sowie aktuelle Reaktoren bzw. SMR-Konzepte betrachtet, 31 davon besonders detailliert. Um weltweit dieselbe elektrische Leistung zu erzeugen wie mit üblichen Atomkraftwerken, wäre der Bau von vielen tausend bis zehntausend SMR-Anlagen notwendig. Gegenüber Atomkraftwerken mit großer Leistung könnten zwar einzelne SMR potenziell sicherheitstechnische Vorteile erzielen, da sie pro Reaktor ein geringeres radioaktives Inventar aufweisen. Die hohe Anzahl an Reaktoren, die für die gleiche Produktionsmenge an elektrischer Leistung notwendig ist, erhöht das Risiko jedoch insgesamt um ein Vielfaches.

Außerdem muss davon ausgegangen werden, dass bei einem schweren Unfall die radioaktiven Kontaminationen deutlich über das Anlagengelände hinausreichen. Durch die geringe elektrische Leistung sind bei SMR die Baukosten relativ betrachtet höher als bei großen Atomkraftwerken. Eine Produktionskostenrechnung legt nahe, dass im Mittel dreitausend SMR produziert werden müssten, bevor sich der Einstieg in die SMR-Produktion lohnen würde. Es ist unwahrscheinlich, dass SMR in den entscheidenden nächsten zehn Jahren zum Klimaschutz beitragen können.

Zu Kernschmelzen kam es bislang im Schweizer Reaktor Lucens (1969), im US-Atomkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg (1979), in Tschernobyl (1986) und in Fukushima (2011). Sowohl in Fukushima als auch in Tschernobyl ist es aufgrund der immensen Radioaktivität bis heute nicht gelungen, die geschmolzenen Reaktorkerne zu bergen. Bereits vor der Kernschmelze in Tschernobyl gab es Bedenken und Proteste gegen Atomkraft, vor allem wegen der bis heute ungelösten Problematik des radioaktiven Abfalls, der bei der Stromerzeugung durch Kernspaltung entsteht.

Behauptung: Die Zukunft liegt im Atom

Ferdinand Dudenhöffer sagt im MDR AKTUELL-Interview: "Die Zukunft liegt im Atom." Dabei bezieht er sich explizit auf die Forschung zur Kernfusion. "In Frankreich arbeitet man am Plasmareaktor. Da ist die EU dabei mit 20 Milliarden. Das ist das erste Mal, dass man mit unendlich wenig Material Kernfusionen erzeugen kann, und da kriegen wir gewaltige Energiemengen. Wenn wir das schaffen könnten, wären wir in einer völlig neuen Welt der Energieversorgung."

Ziel der Fusionsforschung ist es, aus der Verschmelzung von Atomkernen in einem Kraftwerk Energie zu gewinnen. ITER (International Thermonuclear Experimental Reactor) wird als gemeinsames Forschungsprojekt der EU (inkl. Großbritannien und der Schweiz), USA, China, Südkorea, Japan, Russland und Indien entwickelt, gebaut und betrieben. Seit 2007 befindet sich das Forschungszentrum im südfranzösischen Cadarache im Bau. Anfang 2021 hat die EU weitere 5,61 Milliarden Euro bis 2027 als Budget für die Forschung bewilligt. Bei den 20 Milliarden bezieht sich Dudenhöffer offenbar auf die bis heute bekannten Gesamtkosten, die sich gegenüber ersten Planungen bereits verdreifacht haben. ITER selbst soll frühestens ab 2025 in den Testbetrieb gehen. Der Fusionsreaktor wird dabei aber keine Energie ins Netz einspeisen. Es ist ein reiner Forschungsreaktor, der das Prinzip bestätigen und praktisch umsetzbar machen soll.

Deutschland beteiligt sich intensiv an der Forschung, unter anderem am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik, das in Greifswald mit Wendelstein X7 eine eigene Fusionsanlage betreibt. Hartmut Zohm, der Direktor des Instituts, beantwortet in diesem Video grundlegende Fragen zur Fusionsforschung und zum Stand des ITER.

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Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass mit der Kernfusion frühestens ab dem Jahr 2050 effektiv Strom erzeugt werden kann. Auch bei der Kernfusion entsteht radioaktiver Abfall, der jedoch wesentlich weniger lang lebensgefährlich hohe Strahlungen emittiert.

(nvc)

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