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Raumfahrtechnik im AlltagFahrrad-Zukunft: Rollen wie ein Marsrover

22. März 2021, 16:29 Uhr

Was bringt uns die Forschung im Weltraum auf der Erde? Ohne Satelliten im All kein Navi und keine Wettervorhersage, auch das Ceranfeld oder der Akkuschrauber wären vielleicht noch nicht oder Jahrzehnte später erfunden. Ein US-Start-up will jetzt unzerstörbare Reifen, die für künftige Mars-Rover entwickelt wurden, für Fahrräder benutzen. Die wären immun gegen Platten. Bedeutet das das Aus für Schlauch, Pumpe und Ventil?

von Liane Watzel

Im Vergleich - vorne das Radmaterial, mit dem zukünftig Marsrover rollen sollen, hinten das herkömmliche Reifenmodell Bildrechte: Smart Tire Company

Wer regelmäßig mit dem Rad unterwegs ist, kennt diese spontanen Schlenker oder Bremsmanöver, um Glasscherben auf dem Weg auszuweichen. Die NASA kennt das Problem auch – wenn ein Rover auf dem Mars herumfährt, müssten die Reifen bestenfalls unplattbar und unzerstörbar sein, wenn sie über den fernen Planeten rattern. Gummi geht sowieso nicht, denn das ist für die Kälte auf dem Mars ungeeignet. Reifen müssen dort nicht nur extremen Temperaturen trotzen, sondern auch auf verschiedenstem Untergrund vorwärts kommen können. Für künftige fahrende Mars-Gefährte gibt es bereits so eine rollende eierlegende Wollmilchsau – Reifen aus einer Formgedächtnis-Legierung. Der Begriff Formgedächtnis beschreibt die Fähigkeit von Materialien, nach einer Deformation wieder in ihre Ursprungsform zurückzukehren.

Das Geheimnis dieser Räder ist eine Nickel-Titan-Legierung. Wenn man mit solchen Reifen auf dem Mond oder Mars herumfahren kann, müsste sich das doch bestens für Fahrräder auf der Erde eignen. Die müssen ja auch einige Strapazen aushalten, dachte sich ein US-Start-up und träumt auf seiner Homepage von einer Revolution auf dem Markt der Fahrrad-, Auto und Lkw-Reifen.

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Allein für die gute Bodenhaftung, den Grip auf irdischem Untergrund bräuchten die "Marsbereiften"-Räder noch eine Spezialbeschichtung, sagen die Entwickler des Start-ups "Smart Tires Company". Für alle, die gern Rad fahren, hieße das: Tschüss Luftpumpe, Flickzeug, Reifen, Schläuche, Ventil! Das klingt verlockend – aber wie realistisch ist das tatsächlich?

In jahrelanger Arbeit wurde im NASA Glenn Research Center an einem unempfindlichen Material für die Fahrzeuge auf dem Mars getüftelt. Bildrechte: NASA

Material mit Formgedächtnis – nichts Neues

Neu sind solche Materialien nicht, sagt Dr.-Ing. Kenny Pagel vom Fraunhofer-Institut Für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik in Dresden auf Anfrage von MDR WISSEN. Das Material habe an sich ein Riesenpotential – wie Formgedächtnislegierungen generell. Und die sind schon in vielen Bereichen im Einsatz.

In der Medizin sind sie längst Standard, erläutert Pagel und verweist beispielsweise auf die Stent-Technik bei verengten Blutgefäßen: Eine Formgedächtnis-Legierung, die als zusammengepresster Ring aus Drahtgestell minimal-invasiv eingesetzt wird. Vor Ort faltet sie sich auseinander und kann so zum Beispiel eine Vene offenhalten, oder verhindern, dass sie sich verengt. Auch in Zahnspangen oder Sportbrillen werden Materialien mit solchen Eigenschaften eingesetzt.

Das Marsrover-Rad – Fahrradtauglich?

Nahaufnahme - der Reifen, dessen Material gestrickt ist wie ein "Kettenhemd" Bildrechte: Smart Tire Company

Das Material der NASA für die küntigen Mars-Rover-Reifen besteht also auch aus so einer elastisch-stabilen Legierung. Hat dieses Material nun tatsächlich das Zeug, den Reifenmarkt vom Fahrrad bis zum Lkw auf den Kopf zu stellen? "Die Funktion des Materials ist toll", sagt der Dresdner Fraunhofer-Experte abwägend, vor allem sei es auch viel leichter als Gummi. Aber es gibt auch einen Haken: der Verarbeitungsprozess ist noch aufwendig.

Der Vulkanisierungsprozess zur Reifenherstellung ist schnell und billig, verweist Pagel auf die Produktion des heute gängigen Reifenmaterials. Ein klarer Vorteil gegenüber den Mars-tauglichen Reifen. Das US-Start-up "Smart Tires Company" beschreibt die Reifen als "ineinander gebundene Ringe oder Federn, die einem mittelalterlichen Kettenhemd ähneln", die dank Beschichtung auch den nötigen Grip für die Straße bekommen würden. Dann ist da aber noch die Frage nach dem Rohstoff für die von der NASA entwickelte Legierung. Eine Kernfrage, wenn es darum geht, als neu erfundenes Radmaterial dem Platzhirsch "Gummi" den Rang abzulaufen: Rechnet sich das?

Was im Marsrover-Rad steckt: Titan & Nickel

Dabei geht es um Titan und um Nickel. Titan wird aus Sanden und Erzen in der Natur gewonnen, wie zum Beispiel Rutil oder Ilmenit, und zwar in einem aufwendigen und teuren Produktionsprozess. In der Medizin wird es gern benutzt, denn das Titan ist biomedizinisch verträglich. Nickel ist schon jetzt, auch ohne den gewaltigen Reifenmarkt, ein begehrter Rohstoff. Er kommt in der Natur in geringen Konzentrationen, bzw. chemischen Verbindungen vor. Nickel wird in Motoren, Gasturbinen, Flüssiggasbehältern verbaut, aber auch in Katalysatoren, Smartphone- oder Tablets-Akkus sowie dem besonders stark wachsenden Markt der Elektro- und Hybridfahrzeuge. Der weltweite Nickelbedarf hat sich zwischen 2006 und 2020 fast verdoppelt.

Luftpumpe, Ventil, Schlauch – ausgedient?

Angesichts dieser Tatsachen – hohe Produktionskosten, Rohstoff-Ausgangslage und Verarbeitungsaufwand – werden wir wohl auch in Zukunft auf der Erde weder in Autos noch auf Fahrrädern rollen wie ein Marsrover. Und weiter fleißig Platten flicken, Schläuche reparieren oder Reifen austauschen, wenn wir uns einen Nagel oder eine Scherbe eingefangen haben. Allerdings, sagt Kenny Pagel, der Spezialist für Formgedächtnis-Material, bei Fahrrädern sei eine Anwendung im Bereich der Extremsports denkbar. Und zwar als Nischenprodukt, da, wo im Radsport für jedes Gramm weniger enorm viel Geld ausgegeben wird.

Der US-Prototyp – das Fahrrad mit den Reifen wie ein Marsrover. Bildrechte: Smart Tire Company

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