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SoziologieRadfahr-Studie: Je gebildeter, desto Fahrrad – aber nur in der Stadt

18. Januar 2022, 20:19 Uhr

Beim Thema Mobilitätswende könnten eigentlich alle mit anpacken und unabhängig vom Geldsäckel aufs Fahrrad umsteigen. Die Praxis zeigt aber: Radfahren ist zum Statussymbol der Privilegierten und Gebildeten geworden. Und wird vor allem nicht billiger.

von Florian Zinner

Fraglich ist, ob das jetzt gut oder schlecht ist – aber offensichtlich lässt sich nicht nur finanzieller Wohlstand zur Schau tragen. Sondern auch geistiger. Statusdenken hört nicht beim Portemonnaie auf, gerade in akademischen Kreisen. Das ist wahrscheinlich das Erstaunlichste unter den Dingen, die Ansgar Hudde durch seine zwei neuen Studien nahelegt. The unequal cycling boom in Germany (Der ungleiche Fahrradboom in Deutschland) heißt die eine, Educational Differences in Cycling: Evidence from German Cities (Bildungsunterschiede beim Fahrradfahren: Evidenz aus deutschen Städten) die andere. Im Grunde macht der Soziologe an der Universität zu Köln nichts anderes, als die neuerliche Rückkehr zum Drahtesel, fast schon eine Renaissance dessen, gehörig zu relativieren.

Radeln war auch vor Corona im Trend

Die neue Erfolgsgeschichte des – zumindest nicht gänzlich motorisierten – Zweirads reiht sich ein in die Geschichten, die die Covid-19-Pandemie so schreibt. Als es die sich fortan sozial distanzierenden Menschen hin zum Individualverkehr, aber raus in die Natur zog, bewegungswillig und müde von der Häuslichkeit. Huddes Datenhorizont reicht allerdings nur bis 2018, da wusste noch niemand etwas von Corona. Seine Daten erinnern uns daran, dass die Zunahme des Radverkehrs auch in der Prä-Covid-Ära ganz ordentlich war – zumindest in den Städten. Die Idee der Radschnellwege wird zum Beispiel schon seit Jahren verfolgt, Selbsthilfewerkstätten gesellen sich zu Fachhändler*innen, die sich mittlerweile auf Zweirad-Inselinteressen spezialisieren und in Leipzig etwa erscheint bereits seit 2017 mit We Ride Leipzig ein unentgeltliches Hochglanz-Stadtmagazin, das sich ausschließlich der Fahrradkultur widmet. Abgesehen davon ist natürlich die Diskussion um verstopfte Straßen zur Rush Hour und die zu Umwelt und Klima keine neue, na freilich nicht.

Für Ansgar Hudde lagen also auch vor Corona bereits ausreichend Gründe auf dem Tisch, sich der wachsenden Beliebtheit des Radls zu widmen. Und wenn schon repräsentativ, dann richtig: Der Soziologe hat 800.000 Wege ausgewertet, die mehr als 55.000 Befragte zurückgelegt haben. Die Daten stammen zum einen aus dem Deutschen Mobilitätspanel. Das ist eine kontinuierliche Erhebung zum Mobilitätsverhalten der Deutschen, seit 1994 gibt’s die. Zum anderen bezieht sich Hudde auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels, das seit 1983 soziologische, ökonomische, demografische oder auch psychologische Gegebenheiten der bundesdeutschen Gesellschaft misst.

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Erste Aussage: Der Radverkehr hat zwischen 1996 und 2018 um vierzig Prozent zugenommen. Das ist ordentlich. Woran liegt’s? Sind die Deutschen ärmer geworden und können sich bedauerlicherweise kein Kfz mehr leisten? Wohl kaum. Umweltbewusstsein und häufigere Neigung zu Leibesübungen? Hier kommen wir der Sache schon näher. Den Großteil des Trends schreibt Hudde dem wachsenden Bildungsniveau zu:

Die Daten zeigen einen starken Zusammenhang zwischen Radmobilität und Bildungsniveau.

Dr. Angsgar Hudde | Universität zu Köln

Hudde weiter: "Es gibt immer mehr Menschen mit höherer Bildung und die fahren immer mehr Fahrrad. Beide Trends setzen sich aktuell ungebremst fort."

Noch in den Neunzigern gab es wenig Milieuunterschiede bei den Radfahrenden. Seitdem haben gut ausgebildete Menschen in mittleren und großen Städten ihre Drahteselnutzung verdoppelt. Sie verbringen zwei Drittel mehr Zeit auf dem Fahrrad als Städter*innen mit geringerer Bildung, doppelt so viel wie gebildete Menschen auf dem Land und dreimal so viel wie ländliche Menschen mit einem geringen Bildungsgrad.

Wer radelt denkt nachhaltig – und zeigt das auch gerne. Bildrechte: IMAGO / Shotshop

Irgendwie scheinen sich Bildung und Rad gegenseitig zu bedingen. Ansgar Hudde hat zum Beispiel festgestellt, dass Menschen mit einem höheren Bildungsniveau häufiger in fahrradfreundliche Städte ziehen. Und wenn es sich angesichts der Infrastruktur für die klugen Köpfe anbietet, Fahrrad zu fahren, dann tun sie es offenbar auch. Ein nachvollziehbares Bild, mit Blick auf den Fahrradklima-Test, den der ADFC Jahr für Jahr veröffentlicht. Gerade in den Rankings der kleineren Großstädte tummeln sich studentische Hochburgen auf den oberen Plätzen: Münster, Freiburg im Breisgau, Göttingen, Heidelberg. Abgesehen von Leipzig und Dresden, die sich mit Platz fünf und sechs im oberen Mittelfeld des Rankings der Städte ab einer halben Millionen Einwohner*innen eingenistet haben, steht es um mitteldeutsche Hochschulstädte nicht ganz so gut. Am besten macht sich noch Jena – und das, obwohl angesichts der geomorphologischen Gegebenheiten vor Ort eine ausgeprägte Wadenmuskulatur sicherlich von Vorteil ist.

Es ist der Bildungsstand

Örtliche Unterschiede, das gilt auch innerstädtisch. So legt Hudde nahe, dass bildungsnahe Bevölkerungsgruppen eher in Stadtviertel mit einer guten Infrastruktur für Fahrräder ziehen. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass in den engen Straßen der beliebten, dicht besiedelten Gründerzeit-Altbauviertel häufig kaum noch Platz für standesgemäße Radwege ist.

So viel zur Anziehungskraft. Eine homogene, fahrradliebende Masse sind die akademisch geprägten Städte und Viertel aber nicht, auch hier muss klar unterschieden werden, stellt Ansgar Hudde klar: "Personen mit Hochschulabschluss nutzen in der Stadt das Fahrrad fast fünfzig Prozent häufiger als Personen ohne Hochschulabschluss, wobei Faktoren wie Alter, Geschlecht und Wohnort bei der Untersuchung konstant gehalten wurden." Die Ergebnisse würden insgesamt klar darauf hindeuten, dass es der Bildungsstand selbst ist, der zu mehr Radfahren führt.

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An dieser Stelle wird es interessant: Normalerweise bedingen sich Bildung und finanzielle Lage. Und finanziell Gutgestellte können sich demnach ein privates Kfz leisten, eigentlich. Im innerstädtischen Verkehr müsste das in etwa gleich schnell oder schneller als das Fahrrad sein, komfortabler ist es zweifelsfrei (auch wenn eingefleischte Pedalritter*innen einen gut eingefahrenen Ledersattel immer einem ordentlich gepolsterten Autosessel mit Sitzheizung vorziehen werden). Reisende wählen ihr Transportmittel aber nicht nur nach Kosten und Reisezeit aus. Sondern auch nach seinem Symbolcharakter und der Botschaft, die es sendet.

Kein Wunder. Das tun wir schließlich auch sonst: mit der Ausstattung des Kleiderschranks, der Wohnungseinrichtung, der Gartengestaltung und evtl. dem, was wir aufs Kassenband im Supermarkt legen. Wovon erzählt also ein privater Pkw? Von Wohlstand. Je nach Preisklasse sogar von Reichtum und beruflichem Erfolg. Gleichzeitig vielleicht auch von Gleichgültigkeit gegenüber Umwelt und Gesundheit. "Beim Fahrrad ist es genau umgekehrt. Personen mit höheren Bildungsabschlüssen laufen meist nicht Gefahr, dass sie als arm oder beruflich erfolglos wahrgenommen werden – selbst dann, wenn sie mit einem günstigen Rad unterwegs sind", so Hudde. Sprich: Gebildete Menschen strahlen eine Art postmateriellen Wohlstand aus. "Sie können mit dem Fahrrad vielmehr an Status gewinnen, wenn sie sich als modern, gesundheits- und umweltbewusst zeigen." Gebildet ist gut, aber dieser Status muss offenbar auch gepflegt werden.

Belehren geht über materiellen Stauts

Vielleicht ist es auch der innere Trieb der Gelehrten, ihre Mitmenschen zu belehren. Mit dem Finger zu zeigen – auf sich als gutes Vorbild, auf andere, die noch die vergangene Welt des motorisierten Individualverkehrs leben. Mit dem Finger zu zeigen ist doof, ein Vorbild sein aber keine so schlechte Idee: Hudde zufolge könnte das Fahrrad als kostengünstiges, gesundes Fortbewegungsmittel weniger privilegierten Menschen mit niedrigerem Bildungsstand helfen, gesünder zu leben und mehr finanzielle Ressourcen zur Verfügung zu haben. Hier seien aber auch Verkehrsplaner*innen gefragt: Die Verbesserung für den Rad- und damit einhergehende Verschlechterung für den Autoverkehr komme vor allem eher höher Gebildeten zu Gute, so der Soziologe.

Urbanes Radeln: Hauptsache Lenker mit Hörnchen. Bildrechte: IMAGO / Westend61

Allerdings, und auch das gehört zur Wahrheit dazu: Radfahren ist nicht unbedingt günstiger geworden und längst keine Discount-Mobilität mehr. Der Fahrradboom geht mit einer stetig wachsenden Zahl an Pedelecs einher, gemeinhin als E-Bikes bekannt. Und da muss es nicht mal ein Flagschiffmodell sein, um fürs Neurad so viel auszugeben wie für ein kleines gebrauchtes Kfz. Interessant ist auch die Kategorie innerhalb der Biobikes – also der stinknormalen Fahrräder –, die neben den E-Bikes als einzige Gruppe zulegen konnte: Rennräder, Gravel- und Fitnessbikes, Hauptsache mit Hörnchen-Lenker. Wenn Sie mal durch bildungsbürgerliche Szeneviertel flaniert sind, wird Ihnen aufgefallen sein, dass sich Rennräder auch bei Menschen großer Beliebtheit erfreuen, die so gar nicht nach Tour de France aussehen. Ebenso Gravelbikes – quasi des Beste aus den beiden Rennrad- und Mountainbike-Welten vereint – lassen sich seit einigen Jahren nicht nur auf Kies-Untergrund hervorragend schaufahren. Es sind Fahrradkategorien, die in der Regel nicht der Discount-Klasse zugeordnet werden.

Der Boom ist ein E-Bike-Boom

Und der Boom (der teuren Radl) hält an. Nicht nur auf Grund der Pandemie. Sondern vor allem trotz der Pandemie, muss man sagen. Von Produktions- und Lieferkettenproblemen ist auch die Branche betroffen. Apropos Branche: Der Großteil der Räder wird nach wie vor über den Fachhandel abgesetzt, der gelernte Ort für eher höherpreisige Zweiräder. SB-Warenhäuser und Baumärkte, wo Räder in der Regel günstig zu erstehen sind, haben kontinuierlich an Absatz verloren (und ihren Anteil an den Onlinehandel abgegeben). Nicht nur die teuren Räder aus höherpreisigen Läden liegen anteilig vorn, auch die teuren Räder selbst sind teurer geworden. So lag der mittlere Preis für ein Pedelec mit 2.800 Euro im Jahr 2020 vierhundert Euro höher als noch 2019. Einen gleichen Anstieg gibt es bei Rennrädern, deren mittlerer Preis bei 2.300 Euro liegt.

Die Frage nach dem Radfahren ist auch eine Frage nach sozialem An- und Ausgleich. Soziologe Ansgar Hudde resümiert: "Wenn es der Politik gelingt, das Radfahren für alle attraktiv zu machen, bedeutet das: lebenswertere Orte, bessere Gesundheit, mehr Umweltschutz und weniger soziale Ungleichheit." Vielleicht könnte man demnach Projekten wie dem Radschnellweg Halle-Leipzig sogar einen sozial-versöhnlichen Charakter zuschreiben: Von der Großstadt übers Land dazwischen in die andere Großstadt. Auf dem Radschnellweg können zumindest im Ballungsraum alle Menschen abgeholt werden, unabhängig ihrer Milieus. Wird mal Zeit für einen Baustart, was?

Links zu den Studien

Die Studie The unequal cycling boom in Germany erschien im Januar 2022 im Journal of Transport Geography.

DOI: 10.1016/j.jtrangeo.2021.103244

Die Studie Educational Differences in Cycling: Evidence from German Cities erschien im Januar 2022 im Journal Sociology.

DOI: 10.1177%2F00380385211063366

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