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Dieses aus drei Farben zusammengesetzte Bild zeigt eine eindrucksvolle Spiralgalaxie (Symbolbild). Bildrechte: NASA / ESA / CSA / Judy Schmidt (CC BY 2.0)

Galaxien-EntstehungUniversumsbrecher: James Webb entdeckt frühe Galaxien – Stimmt unser Bild vom Universum noch?

27. Februar 2023, 15:01 Uhr

Forschende haben mit dem Weltraumteleskop James Webb sechs massereiche Galaxien im frühen Universum entdeckt. Diese dürfte es aber gar nicht geben. Denn sie haben viel mehr Masse, als sie zu diesem frühen Zeitpunkt unseres frühen Universums nach den gängigen Theorien haben dürfen. Was bedeutet diese Entdeckung, die das Verständnis der Wissenschaft auf den Kopf stellt? MDR WISSEN hat beim ehemaligen Direktor vom Max-Planck-Institut für Astrophysik nachgefragt.

von Patrick Klapetz

Vor 13,8 Milliarden Jahren wurde es einem kleinen Punkt in sich zu eng und er explodierte mit einem gigantischen Knall. Das war der Urknall, der den Beginn des Universums und die Entstehung von Materie, Raum und Zeit ermöglichte. Das Universum breitete sich innerhalb von kürzester Zeit extrem schnell aus. 

Nach etwa 300.000 bis 400.000 Jahre entstanden die ersten stabilen Atome und das Universum wurde zu einem durchsichtigen Raum. Alles, was danach geschah, wird von Forschenden nicht mehr als die Zeit des Urknalls definiert. Die ersten Sterne entstanden nach ungefähr 400 Millionen Jahren. Von da an bildeten sich auch die ersten Galaxien über Milliarden Jahre hinweg – die ersten von ihnen sollen eine Milliarde Jahre nach dem Urknall entstanden sein. 

Zumindest gingen Astronomen und Physikerinnen bisher davon aus. Die neueste Entdeckung des James-Webb-Weltraumteleskops stellt das Standardmodell jedoch auf den Kopf. Denn Forschende der Pennsylvania State University (Penn State) und der Universität von Colorado Boulder konnten in den Daten sechs massereiche Galaxien entdecken, die es so gar nicht geben dürfte. Deren Sternenmassen sind bis zu zehn Milliarden Mal so groß sind wie die der Sonne – darunter eine Galaxie mit einer möglichen stellaren Masse, die 100 Milliarden Mal größer als unsere Sonnenmasse ist.

Fertige Milchstraßen-große Galaxien: Älter als bisher angenommen 

Die Objekte waren bereits so groß wie die heutige Milchstraße, als das Universum nur drei Prozent seines heutigen Alters hatte. Statt einer Milliarde Jahre nach dem Urknall waren diese etwa 500 bis 700 Millionen Jahre nach dem Big Bang zu großen lebendigen Galaxien herangereift, in denen neue Sterne und Planeten entstehen konnten. 

Man erwartet einfach nicht, dass das frühe Universum in der Lage war, sich so schnell zu organisieren. Diese Galaxien sollten keine Zeit gehabt haben, sich zu bilden.

Erica Nelson, Assistenzprofessorin für Astrophysik an der University of Colorado Boulder und Mitautoren der Studie

Letztes Jahr entdeckte ein anderes Team von Wissenschaftlern vier Galaxien, die wahrscheinlich etwa 350 Millionen Jahre nach dem Urknall aus Gas zusammengewachsen sind. Diese Objekte waren jedoch im Vergleich zu den neuen Galaxien geradezu schrumpelig und enthielten nur ein Vielfaches an Masse aus Sternen.

Bilder von sechs Kandidaten für massereiche Galaxien, aufgenommen 500-800 Millionen Jahre nach dem Urknall. Eine der Quellen (unten links) könnte so viele Sterne enthalten wie unsere heutige Milchstraße, ist aber 30 Mal kompakter. Bildrechte: NASA, ESA, CSA, I. Labbe (Swinburne University of Technology), G. Brammer (Niels Bohr Institute’s Cosmic Dawn Center at the University of Copenhagen)

Die dicke Scheibe der Milchstraße soll ungefähr 800 Millionen Jahre nach dem Urknall entstanden sein, die umliegende kugelförmige Sphäre – das galaktische Halo – soll erst zwei Milliarden Jahre später durch die Verschmelzung mit der Satellitengalaxie Gaia-Sausage-Enceladus entstanden sein. Also viel später als die neuentdeckten Galaxien.

Die gefundenen Objekte sind "Universumsbrecher"

"Die Enthüllung, dass die Bildung massereicher Galaxien extrem früh in der Geschichte des Universums begann, stellt das infrage, was viele von uns für eine anerkannte Wissenschaft hielten", sagt Joel Leja. Er ist Assistenzprofessor für Astronomie und Astrophysik an der Penn State University und modellierte das eingefangene Licht dieser Galaxien. 

Wir haben diese Objekte informell als 'Universumsbrecher' bezeichnet - und sie haben ihrem Namen bisher alle Ehre gemacht.

Joel Leja, Assistenzprofessor für Astronomie und Astrophysik an der Penn State University und Mitautor der Studie

Das Weltraumteleskop James Webb kann mit seinen Infrarot-Instrumenten in eine Zeit zurückschauen, die 13,5 Milliarden Jahre zurückliegt. "Dies ist unser erster Blick so weit zurück, daher ist es wichtig, dass wir offen für das sind, was wir sehen", so Leja. Mit den entdeckten Daten können die Wissenschaftler und Forscherinnen zeigen, dass die bekannte Masse der Sterne in dieser Periode unseres Universums bis zu 100 Mal größer ist, als bisher angenommen wurde. 

Wichtig zu erwähnen ist, dass James Webb die Vergangenheit zeigt und nicht wie die Galaxien heute aussehen. "Das Licht braucht Zeit, um von einer Galaxie zu uns zu gelangen, was bedeutet, dass man in der Zeit zurückblickt, wenn man sich diese Objekte ansieht", erklärt Nelson.

Ab wann ist eine Galaxie massereich?

MDR WISSEN hat bei Simon White nachgefragt, wie er die Studie einschätzt. Er ist Astrophysiker und Experte für dunkle Materie sowie die Struktur, Entstehung und Zusammenballung von Galaxien. Außerdem ist er der ehemalige Direktor vom Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching. An der Studie war er nicht beteiligt.

Bei den entdeckten Galaxien handelt es sich "aber nur 'vermutlich' um massereiche Galaxien. Die Masse wurde nicht sehr genau gemessen. Man hat ziemlich wenige Informationen über diese Galaxien, die mit nur photometrischen Messungen mit ungefähr acht verschiedene Wellenlängen gemessen wurden."

Ab wann eine Galaxie als massereich bezeichnet wird, ist Geschmacksache, erklärt White. "In dem Artikel sprechen die Autoren von Galaxien mit mehr als zehn hoch zehn Sonnenmassen. Unserer eigenen Galaxie hat sechsmal zehn hoch zehn Sonnenmassen." Die beobachten Galaxien sind meistens nicht ganz so massiv, aber vielleicht relativ vergleichbar mit unserer Milchstraße.

"Das Problem liegt darin, dass man Modelle benutzt, die man für Galaxien in unserer Nachbarschaft oder viel ältere Galaxien gemacht hat. Und man weiß nicht genau, ob diese Modelle dann zu den Galaxien in diesem sehr frühen Zeitpunkt passen."

Bei der Galaxien-Entstehung sprechen Forschende von einem Entstehungszeitraum. "Es ist ein Prozess, es ist kein bestimmter Moment, an dem das beginnt", erörtert White. Bei unserer Milchstraße ist beispielsweise "die Hälfte der Sterne erst in der letzten Hälfte des alten Universums zustande gekommen". Der Hauptanteil unsere Galaxie ist in einem Entstehungszeitraum von fünf bis sechs Milliarden Jahren nach dem Urknall entstanden. Die größten Galaxien – "die großen elliptischen Galaxien – haben die erste Hälfte ihrer Sternenmasse vielleicht schon drei Milliarden Jahre nach dem Urknall" erreicht.

Zu massiv für kosmologische Modelle

Die Entdeckung stellt die Forschenden vor eine große Herausforderung. Denn sie steht mit 99 Prozent der kosmologischen Modelle in Konflikt. Die sechs Galaxien sind einfach zu massereich für diese Zeit. Galaxien sollen nach bisherigen Annahmen als kleine Wolken aus Sternen und Staub entstanden sein, die im Laufe der Zeit allmählich größer wurden. Entweder ist diese Annahme falsch und muss überdacht werden oder die kosmologischen Modelle müssen überarbeitet werden. 

Dass es unter anderem mit dem Standardmodell immer wieder Probleme gibt, konnte Hendrik Hildebrandt bereits MDR WISSEN in einem Beitrag zur Materie- und Energieverteilung im Universum erklären: "Das Problem ist, dass das Standardmodell für die gesamte Historie des Universums gelten sollte – vom Urknall bis heute und für die Zukunft." Doch neueste Messungen können dies für das junge Universum nicht bestätigen. Hildebrandt ist Professor für beobachtete Kosmologie an der Ruhr Universität Bochum RUB und an der Studie der Penn State unbeteiligt.

Doch selbst wenn das kosmologische Modell überarbeitet wird, gibt White zu bedenken: "An dem Urknall wird es nichts ändern. Und die kosmische Hintergrundstrahlung sieht man sehr gut. Man kann messen, was bereits 400.000 Jahre nach dem Urknall da war. Da gab es keine Galaxien, keine Sterne, nur diese Wolken, die man direkt beobachten kann." Bis dahin stimmt alles mit dem Standardmodell überein.

Was die Forschenden aus Pennsylvania gefunden haben, "stellt das gesamte Bild der frühen Galaxienbildung in Frage", behauptet Astronomie-Professor Leja. Natürlich könnte auch ein Fehler beim Modellieren der Daten entstanden sein. Doch Leja und die anderen Wissenschaftler haben die ganze Zeit bereits nach einem Fehler gesucht – jedoch bisher keinen gefunden. 

Diese Bilder zeigt wo die Galaxien gefunden wurden. Es ist eine Zusammenstellung von Einzelbelichtungen, die vom James Webb Space Telescope mit dem NIRCam-Instrument aufgenommen wurden. Es wurden mehrere Filter verwendet, um bestimmte Wellenlängen des nahen Infrarots zu erfassen. Das Farbbild ergibt sich aus der Zuordnung von Bildern, die bei einer Wellenlänge von 1,5 Mikron aufgenommen wurden, zu Blau, 2,8 Mikron zu Grün und 4,4 Mikron zu Rot. Bildrechte: NASA, ESA, CSA, I. Labbe (Swinburne University of Technology), G. Brammer (Niels Bohr Institute’s Cosmic Dawn Center at the University of Copenhagen).

Besonders das rote Licht deutet auf sehr alte Objekte. Laut Nelson sei in der Astronomie rotes Licht in der Regel mit altem Licht gleichzusetzen. Das Universum dehnt sich seit Anbeginn der Zeit aus. Während es sich ausdehnt, bewegen sich Galaxien und andere Himmelsobjekte weiter auseinander, und das Licht, das sie aussenden, dehnt sich aus. Je mehr sich das Licht ausdehnt, desto röter erscheint es für menschliche Instrumente. Das Licht von Objekten, die sich der Erde nähern, sieht dagegen blauer aus.

Dennoch ist es merkwürdig, wenn man etwas ab irgendeinem Zeitpunkt findet, dass nicht mit dem Standardmodell übereinstimmt. "Vorher war alles gut, nachher ist alles gut, aber in der Mitte ist etwas schief", bemängelt White. Für ihn ist es wahrscheinlich, dass etwas mit der Interpretation der Messungen des aktuellen Forschungsteams nicht ganz stimmt.

Vielleicht doch ein Schwarzes Loch?

Aber vielleicht sehen wir auf den Bildern nicht nur Galaxien. "Die Daten deuten zwar darauf hin, dass es sich wahrscheinlich um Galaxien handelt, aber ich halte es auch für möglich, dass sich einige dieser Objekte als verdeckte supermassereiche schwarze Löcher entpuppen." Unterstützung bekommt Leja von seiner Mitautorin Nelson, die meint, es könne sich "bei diesen Dingen um eine andere Art von seltsamen Objekten" handeln, "wie etwa schwache Quasare".

Doch hier drücken sich die beiden Wissenschaftler etwas ungenau aus. Schwache Quasare befinden sich auch in Galaxienkernen. Es handelt sich weiterhin um Galaxien, doch diese können Schwarze Löcher mit großer Masse beherbergen, erklärt White. "Vielleicht gibt es auch im Zentrum dieser Galaxien Schwarze Löcher und diese Schwarzen Löcher haben vielleicht einen Einfluss auf das Aussehen der Galaxien." Doch das wird man erst wissen, wenn man ein Spektrum der Aufnahme dieser Galaxien nimmt. Denn dann kann man "die Emissionslinie gut messen" und die Prozesse in den entdeckten Galaxien besser verstehen.

Weitere Untersuchungen könnten dabei helfen, Klarheit zu gewinnen. Leja schlägt vor, ein Spektralbild der massiven Galaxien aufzunehmen: "Es wird uns zeigen, wie groß sie [die sechs massereichen Galaxien] sind und wie weit sie entfernt sind. Das Komische ist, dass all diese Dinge, die wir von James Webb zu lernen hoffen, nicht einmal annähernd an der Spitze der Liste stehen. Wir haben etwas gefunden, von dem wir nie gedacht hätten, dass wir das Universum danach fragen könnten."

"Wenn auch nur eine dieser Galaxien real ist, stößt sie an die Grenzen unseres Verständnisses der Kosmologie", so Nelson. Für White haben die Forschenden ihre Arbeit zu schnell veröffentlicht. Sie hätten auf weitere Daten des Weltraumteleskops James Webb warten sollen. Denn das ist in der Lage, ein Spektrum von diesen Galaxien aufzunehmen. Und mit einer solchen Aufnahme würden die Forschenden die Masse und die anderen Eigenschaften der Galaxien viel besser bestimmen können. "Ich denke, es ist wahrscheinlich, dass die herausfinden werden, dass die Galaxien viel weniger Masse haben, als in diesem Artikel vermutet wird", schlussfolgert White.

Studien/Links