Studie Warum Frauen zu Sexualstraftäterinnen werden

01. November 2021, 15:22 Uhr

Wer das Wort "Sexualstraftat" liest, hat wahrscheinlich ein typisches Bild im Kopf: Ein männlicher Täter und Frauen oder Kinder als Opfer. Frauen als Täter von sexuellen Delikten? Für viele schwer vorstellbar – wenn nicht sogar ein Tabuthema.

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Nah dran Magazin zum Thema Missbrauch 3 min
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Das ist auch kein Wunder, denn es werden deutlich weniger Frauen für sexuelle Straftaten verurteilt als Männer. Nur ein Beispiel: Im Jahr 2015 gab es in Deutschland 354 verurteilte Sexualstraftäterinnen, während auf Männerseite 6.360 Täter verurteilt wurden. Doch auch wenn es wenige sind, gibt es sie: die Täterinnen.

Erste Vergleichsstudie: Männer und Frauen

Die Juristin Ulrike Hunger wollte wissen, wie und ob sich die Täterinnen von Sexualstraftaten von männlichen Tätern unterscheiden. Gibt es frauentypische Merkmale bei diesem Tatbestand? Warum werden Frauen zu Täterinnen? Genau diese Fragen hat sie einer Studie beantwortet, die Anfang August veröffentlicht wurde. Sie verglich dafür u. a. die speziellen Taten, die Motive und die jeweilige Art und Weise, wie die Taten aufgeflogen sind. Es ist damit die erste groß angelegte Studie in Deutschland, die solch umfassende vergleichende Ergebnisse zu verurteilten Sexualstraftäterinnen und -tätern liefert.

Dafür hat die Wissenschaftlerin die Strafakten von je 82 verurteilten Frauen und Männern aus einem Zeitraum von neun Jahren ausgewertet und zwei Tatbestände analysiert: Den sexuellen Missbrauch und die sexuelle Gewalttat.   

Viele Taten ohne Körperkontakt

Die Ergebnisse der Studie überraschten die Wissenschaftlerin in vielerlei Hinsicht. Ein Beispiel sind die Tathergänge, die sich bei Frauen und Männer stark unterscheiden.

Dr. Ulrike Hunger, Portrait
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Auf der einen Seite gibt es Taten mit und Taten ohne Körperkontakt. Und da hat sich herausgestellt, dass Frauen einen sehr hohen Anteil ihrer Taten, und zwar die Hälfte ihrer Taten, ohne Körperkontakt mit dem Opfer begehen.

Dr. Ulrike Hunger, Juristin

Bei Männern, so die Forscherin, ist es genau umgedreht. "Männer begehen drei Viertel ihrer Taten mit Körperkontakt. Und das hat mich überrascht. Dass immerhin 50 Prozent der Übergriffe dadurch geprägt sind, dass die Frau überhaupt gar keinen Körperkontakt zum Opfer hat."

Was bedeutet das? Man versteht die "Tat ohne Körperkontakt" besser, wenn man sich die drei Tattypen anschaut, die Ulrike Hunger speziell für den sexuellen Missbrauch unterscheidet. Die häufigste Tathandlung und damit Platz eins, für die diese Frauen verurteilt wurden, war das sogenannte "Nichtstun".

Das hört sich im ersten Moment wahrscheinlich komisch an, wenn man sagt, jemand ist strafbar, der nicht involviert ist in die Tat, und der da gar nicht anwesend war, aber auch Nichtstun ist strafbar.

Auch "Nichtstun" ist strafbar

Und dieses "Nichtstun" erfasst ganz häufig Mütter, erklärt die Juristin und erzählt von einem Fall, den sie in den Akten gefunden hat, "dass der Vater seine Töchter sexuell missbraucht, die Mutter das weiß, weil der Vater ihr das gesagt oder auch gestanden hat, aber nichts tut. Und da sie nichts tut, kommt es auch in der Folgezeit zu weiteren Übergriffen vom Vater auf die Kinder. Die Frau macht zwar nichts, also sie ist weder an der Tat beteiligt, noch sonst irgendwie involviert aber sie reagiert einfach nicht. Sie zeigt den Vater nicht an, sie schützt die Kinder nicht. (…) Und das ist strafbar."

Bei Männern dagegen kommt das "Nichtstun" als Tatbestand überhaupt nicht vor. Weitere Taten von Frauen, die keinen Körperkontakt zu ihren Opfern hatten, waren das Auffordern des Opfers zu einer sexuellen Handlung oder der Geschlechtsverkehr mit einer anderen Person vor dem Opfer.

Frauen handeln selten allein

Frau inmitten greifender Hände
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Ein weiterer Punkt kommt noch hinzu, der laut Ulrike charakteristisch für die "typische Täterin" sei. Denn auffällig in ihrem Studienergebnis war sowohl bei einem sexuellen Missbrauch als auch bei sexuellen Gewalttaten, dass Frauen oft nicht allein handeln. Zwei Drittel der Täterinnen, die Ulrike Hunger sich angeschaut hat, also ein Großteil der Frauen, begingen einen sexuellen Missbrauch nicht allein, sondern beteiligten sich als Mitwirkende an den Übergriffen einer anderen Person. Diese andere Person war nahezu in allen Fällen (94,4 Prozent) ein Mann und das Opfer fast immer eine Frau. Bei sexuellen Gewaltakten, also bei Vergewaltigungen oder sexueller Nötigung, begangen die Frauen ihre Taten auch in fast allen Fällen mit einem Mittäter.

Frauen haben andere Motive als Männer

Auch in den jeweiligen Motiven unterscheiden sich weibliche Täter sehr stark von männlichen. Typisch für Täterinnen sei laut Ulrike Hunger, dass Frauen ihre Taten häufig im Rahmen von Partnerschaften begehen. Bei sexuellen Gewalttaten sei es den Frauen häufig um die sexuelle Befriedigung eines Mannes, z.B. ihres Partners, der ebenfalls an der Tat beteiligt war, gegangen. Mittäterinnen von sexuellem Missbrauch hätten in diesen Zusammenhängen oft aus Angst vor eigenen Misshandlungen oder aus Liebe, Hilflosigkeit oder Abhängigkeit gehandelt.

Frauen, die aus eigenem Antrieb heraus handelten, begingen ihre Tat ebenfalls häufig in ihrer eigenen Partnerschaft, aber auch in nahen Beziehungen mit Kindern und Jugendlichen und sehnten sich nach Nähe und Wärme oder nach sexueller Befriedigung. Die männlichen Täter dagegen, die sich die Juristin angeschaut hat, wiesen lediglich dieses einzige Hauptmotiv auf: Die eigene sexuelle Befriedigung.

Wie alles auffliegt

Spannend, so berichtet Ulrike Hunger, sei auch die sogenannte behördliche Kenntniserlangung. Bei den Frauen flogen die Taten, so lässt sich zusammenfassen, in den meisten Fällen "so nebenbei" auf. Oft seien das klassische Fälle: "Der Lebensgefährte missbraucht die Tochter, es kommt zur Strafanzeige auf irgendeine Art und Weise und dann kommt es zur Vernehmung."

Bei der Vernehmung wurde natürlich der Täter vernommen und dann das Opfer als Zeugin, manchmal auch die Mutter als Zeugin und da war es dann so, dass das Opfer nebenbei oft erzählt hat, dass die Mutter irgendwie davon wusste.

In der männlichen Vergleichsgruppe sah das anders aus. Hier flogen die meisten Taten dadurch auf, dass Verwandte der Opfer die Taten anzeigten.

Dunkelziffer kann nicht erforscht werden

Die Studie von Ulrike Hunger ist die erste ihrer Art. Und sie beschäftigt sich ausschließlich mit dem sogenannten "Hellbereich", Taten, die bekannt, aufgeklärt und juristisch aufgearbeitet wurden. Man kann davon ausgehen, dass es bei sexueller Gewalt sowohl auf Seite der Männer als auch auf Seite der Frauen eine hohe Dunkelziffer gibt. Doch dies, so Ulrike Hunger, lasse sich nur sehr schwer erforschen.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 20. August 2019 | 06:20 Uhr