Gehirndoping Ritalin & Co.: Wunderpillen für mehr Leistung?

15. Oktober 2021, 14:06 Uhr

Wir alle kennen das: Auf dem Schreibtisch stapelt sich die Arbeit, die To-do-Liste wird länger und länger und trotz totaler Erschöpfung ist kein Ende in Sicht. Wie praktisch wäre da eine Wunderpille, die uns einen Extraschub an Energie und Konzentration verleiht! Tatsächlich nutzen einige Menschen verschreibungspflichtige Medikamente und Substanzen, um ihre kognitive Leistungsfähigkeit zu steigern. Aber wie gut wirken die sogenannten Neuroenhancer? Und welche Chancen und Risiken bieten sie uns?

Meine Challenge

Alle anzeigen (117)

"Es gibt natürlich eine ganze Menge Substanzen, die als Neuroenhancer diskutiert werden", sagt Psychiater und Psychotherapeut Gerhard Gründer von der Universität Heidelberg. Neben Koffein in Tablettenform, im Kaffee oder in Energydrinks nutzen Menschen vor allem verschreibungspflichtige Medikamente, die die Aktivität bestimmter Nervenzellen im Gehirn erhöhen und dadurch die Aufmerksamkeit und Konzentration steigern sollen.

Neuroenhancement ist der Versuch gesunder Menschen, mittels pharmakologischer Substanzen wie verschreibungspflichtigen Medikamenten oder Drogen, die geistige Leistungsfähigkeit oder das psychische Wohlbefinden zu verbessern sowie Ängste und Nervosität abzubauen.

Neben Modafinil, einem Mittel gegen die Schlafkrankheit (Narkolepsie), wird in diesem Zusammenhang besonders häufig Methylphenidat genutzt, besser bekannt als Ritalin. Dieses Medikament wird vor allem zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung ADHS verwendet – normalerweise. Von einigen Menschen wird Ritalin aber zum Zweck der Leistungssteigerung missbraucht. "Methylphenidat dockt im Hirn an den Dopamin-Transporter an und sorgt so für einen gewaltigen Anstieg an Dopamin", erklärt Gerhard Gründer die Wirkungsweise. Und dieser Dopamin-Schub spricht direkt unser Belohnungssystem an. Die Folge: Wir werden wacher und euphorischer. "Und man verspricht sich auch eine Verbesserung der Konzentration und Aufmerksamkeit, also der kognitiven Funktionen", so Gründer.

Methylphenidat ... sorgt so für einen gewaltigen Anstieg an Dopamin.

Prof. Dr. Gerhard Gründer, Universität Heidelberg, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit

Mehr Risiken als Chancen

Gerhard Gründer, Professor für Psychiatrie und Leiter der Abteilung Molekulares Neuroimaging am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim, im Portrait.
Die Nebenwirkungen von Neuroenhancern sind nicht zu unterschätzen, sagt Psychiatrie-Professor Gerhard Gründer. Bildrechte: MDR/Gerhard Gründer

Also einfach Pille rein und zu geistiger Höchstform auflaufen? So einfach ist die Gleichung nicht, warnt der Psychiatrie-Professor. Die Nebenwirkungen solcher Mittel reichen von Kopfschmerzen, Nervosität, Schlaflosigkeit bis hin zu Herzrhythmusstörungen, Organ-Funktionsschäden, Stimmungsschwankungen oder Persönlichkeitsveränderungen. Der Suchtfaktor ist zudem hoch. "Das Gehirn reagiert auf die ständig erhöhten Dopamin-Konzentrationen, das heißt, sie müssen mit der Zeit die Dosis steigern, wenn sie dieses Level halten wollen. Wenn sie das nicht tun, werden Sie merken, dass sie langsamer werden, vielleicht apathischer, vielleicht auch depressiv. Denn Dopamin hat Effekte auf Stimmung und Antrieb."

Zudem ist es von Person zu Person unterschiedlich, ob Wirkstoffe wie Methylphenidat das Gehirn wirklich "dopen" und eine Leistungssteigerung bewirken. Tatsächlich bestimmt unsere genetische Beschaffenheit, wie wir auf die Mittel reagieren. Ein bestimmtes Enzym im Gehirn beeinflusst, wie hoch die Dopamin-Konzentration im "Normalzustand" ist. Nimmt nun eine Person mit naturgemäß niedriger Dopamin-Konzentration Ritalin, ist eine Steigerung von Aufmerksamkeit und Wachheit möglich. Bei Menschen mit normalem oder hohem Ausgangsniveau hingegen finden sich keine Auswirkungen – oder sogar negative, dahingehend, dass potenzielle Enhancement-Wirkstoffe die kognitive Leistung bei ihnen verschlechtern können.

Eher bescheidene Effekte

Doch selbst wenn die genetische Ausgangslage genug Luft nach oben lässt, um die Leistungsfähigkeit durch medikamentöse Dopamin-Manipulation zu steigern: Die Effekte scheinen minimal. Wissenschaftler*innen der Universitätsmedizin Mainz ließen in einem Experiment Turnier-Schachspielende gegen Schachcomputer antreten. Einige Teilnehmende bekamen vorab Koffein, andere wiederum Medikamente wie Ritalin oder Modafinil. Ergebnis: Diese Schachspielenden erzielten im Mittel rund sechs bis acht Prozent mehr Punkte als die "nüchterne" Kontrollgruppe – allerdings ein Wert unterhalb der statistischen Signifikanzschwelle.

"Bei Schach-Turnieren, wo alle schon relativ gleich gut sind, können solche Prozentwerte natürlich ausschlaggebend sein", sagt Stephan Schleim, assoziierter Professor für Theoretische Psychologie an der Universität Groningen. Und doch:

Für die meisten Menschen wird der Konsum von Neuroenhancern wahrscheinlich nichts oder nur sehr wenig bringen.

Stephan Schleim, assoziierter Professor für Theoretische Psychologie an der Universität Groningen

Und Schleim nennt noch ein weiteres interessantes Detail aus der Studie: "Die stärksten Effekte waren nur um 1,7 Prozent stärker als der gemessene Effekt von Koffein." Das bedeutet: Wer seine kognitive Leistungsfähigkeit steigern will, kann demnach also statt zu Tabletten genauso gut zu einer Tasse Espresso greifen.

Und erspart sich dabei möglicherweise noch einen weiteren Nachteil, auf den Stephan Schleim hinweist: "Die Schachspieler, die unter dem Einfluss von Stimulanzien standen, waren langsamer. Sie haben länger nachgedacht und sich dann vielleicht für bessere Züge entschieden, aber sie haben einfach öfter verloren, weil ihnen die Zeit ausgegangen ist." Andere Studien weisen in eine ähnliche Richtung: Je vielschichtiger die Aufgabe und je mehr Kreativität beim Finden möglicher Lösungen gefragt ist, desto weniger profitieren die Probandinnen und Probanden von den vermeintlichen Wunderpillen.

Euphorie in der Wahrnehmung, Ernüchterung im Test

Die Idee von der Wunderpille, die unser Gehirn zur nimmermüden Höchstleistungsmaschine transformiert, hält der Realität also nicht stand.

Es funktioniert nicht so, dass es da einen Superboost gibt und man denkt: Wow, ich bin jetzt ein neuer Mensch und kann alles auf einmal.

Sebastian Sattler, Soziologe an der Universität Bielefeld

Tatsächlich sei es oft so, dass Menschen sich nach dem Konsum zwar als leistungsfähiger wahrnehmen würden, so Sattler. Aber nur, weil man sich besser oder motivierter fühlt, heißt das noch lange nicht, dass die tatsächliche Performance auch wirklich nach oben geht. "Die Menschen haben das subjektive Gefühl: Da passiert was mit mir. Aber schaut man sich dann deren Testergebnisse in verschiedenen Aufmerksamkeits-Tests oder Gedächtnis-Trainings an, dann sieht man, dass das nicht unbedingt korreliert."

Der Druck ist ansteckend

Sebastian Sattler erforscht das Phänomen Neuroenhancement seit vielen Jahren, etwa die Frage, was Menschen dazu bewegt, Mittel wie Ritalin oder Modafinil zu nehmen. "Generell ist beruflicher Stress ein wichtiger Faktor. Was aber auch eine Rolle spielt, sind Persönlichkeits-Eigenschaften. Etwa jemand, der overcommitted ist, also derart für seinen Job brennt, dass er teilweise schon nicht mehr schlafen kann. Aber auch Menschen, die sich nicht so viel zutrauen und emotional nicht so stabil sind, greifen häufiger zu solchen Medikamenten", so der Soziologe.

Und er weist auf sogenannte "Spill-Over-Effekte" hin: Nimmt eine Person Neuroenhancer, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass auch in ihrem Umfeld zu den entsprechenden Substanzen gegriffen wird. "Manche Menschen fühlen sich unter Druck gesetzt, wenn sie wissen, andere machen das", sagt Sattler und liefert einen bedauernswerten Befund: "Wenn man Eltern befragt: Sind Sie bereit, Ihrem Kind so etwas zu geben, wenn andere Eltern das auch machen würden? Dann gibt es tatsächlich solche Ansteckungs-Effekte, dass sie sagen: Ja, wenn andere das machen würden, dann wäre ich auch bereit."

Weder Hype noch Massenphänomen

Was aber heißt das für die Verbreitung des Phänomens, wenn hier offenbar schnell eine Art Wettbewerbsdruck entsteht? Werden wir irgendwann bei einem pharmakologischen Wettrüsten landen, bei dem bestimmte Gruppen mit immer neuen Wirkstoffen versuchen, ihre Leistung zu steigern? "Wenn wir uns vorstellen, dass es – zum Beispiel für Studierende oder für junge Menschen in der Arbeitswelt – immer normaler wird, diese Mittel zu konsumieren, dann wird irgendwann die Normalität sozusagen hoch gehoben," sagt Saskia Nagel, Professorin für Angewandte Ethik an der RWTH Aachen University. "Wir sind dann alle nicht mehr auf Level 50, sondern alle auf Level 70, das ist dann der Standard. Und dann wird sich irgendetwas Neues finden, damit die, die jetzt alle auf 70 sind, schauen können, dass sie auch auf 90 kommen. Das wird wahrscheinlich passieren."

Stephan Schleim, Assoziierter Professor für Theoretie und Geschichte der Psychologie an der Universität Groningen, im Portrait.
Gehirndoping war und ist kein Massenphänomen, sagt Psychologe Stephan Schleim. Bildrechte: MDR/Elsbeth Hoekstra/Stephan Schleim

Entgegen dieser neuroethischen Gedankenspiele unterstreicht der Psychologe Stephan Schleim, dass Neurenhancement keinesfalls ein Massenphänomen ist: "Die Wissenschaft sagt relativ deutlich, dass der instrumentelle Substanzkonsum bei Personen, die keine Diagnose haben, im einstelligen Prozentbereich liegt, etwa fünf bis sechs Prozent. Und viele von diesen Personen, die in solchen Befragungen dann gezählt werden, machen es vielleicht auch nur wenige Male. Ich glaube, die Leute, die das regelmäßig machen, die sind wirklich im unteren einstelligen Prozentbereich."

Höher, schneller, immer weiter?

Aber wird es bei diesen niedrigen Prozentzahlen bleiben, was die Verbreitung von Neuroenhancement angeht? Zumal das Bedürfnis nach kognitiver Leistungssteigerung heute dringender denn je scheint: die Anforderungen der Arbeitswelt steigen, der individuelle Stress und die Belastung nehmen zu und die Erwartungshaltungen an uns selbst wachsen stetig. Was wäre da, wenn die Wirksamkeit solcher Substanzen erhöht würde, die Nebenwirkungen milder und der gesellschaftliche Diskurs darüber offener wären?

Wir versuchen offenbar immer, neurochemische Lösungen für soziale Probleme zu finden.

Saskia Nagel, Professorin für Angewandte Ethik an der RWTH Aachen University

Was nach der Gefahr einer nicht endenden Spirale der pharmakologischen Selbstoptimierung klingt, findet wohl jedoch irgendwann eine natürliche Grenze, so Nagel: "Es gibt eine ganz gute Datenlage darüber, dass unsere Gehirne eigentlich in unserem jetzigen Zustand schon ziemlich gut funktionieren und evolutionär ausgereift sind. Ich glaube, deswegen wird sich diese Frage des Wettrüstens vielleicht einfach physiologisch klären: Irgendwann geht es nicht mehr besser."

Mehr Challenges zum Thema Gehirn und Gedächtnis

0 Kommentare