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SozialforschungWarum wir nicht von einer "Radikalisierung" der Klimabewegung sprechen sollten

11. November 2022, 16:37 Uhr

In den vergangenen Wochen wurden einige Aktionen verschiedener Teile der Klimabewegung kontrovers diskutiert. Oft ging es um Proteste der Gruppe "Letzte Generation". Aus der Politik kommt mitunter der Vorwurf, die Klimabewegung habe sich radikalisiert und sei somit zunehmend gefährlich. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht gibt es dafür aber kaum Belege.

von Inka Zimmermann

Suppen auf Gemälde, festkleben auf der Autobahn und Farbattacken auf BMW-Neuwagen im Showroom der Firma: Wer in den vergangenen Wochen Nachrichten gelesen hat, bekam unweigerlich den Eindruck, dass sich die Proteste der Klimabewegung in Deutschland deutlich intensiviert haben. Die politische Debatte heizt aktuell eine Autobahnblockade der Gruppe "Letzte Generation" in Berlin weiter an, weil sie einen Spezialwagen der Feuerwehr aufhielt – der im Einsatz war, um eine verunglückte Radfahrerin zu retten.

Mittlerweile bestätigt der Bericht der Notärztin vor Ort, dass der fehlende Spezialwagen nicht ausschlaggebend für den Tod der Frau war. Dennoch steht der Vorwurf im Raum, die Klimabewegung habe sich "radikalisiert". SPD-Politikerin Katja Mast beispielsweise bezeichnete Teile der Klimaproteste als "demokratiefeindlich", CSU-Fraktionschef Andreas Dobrindt sprach von einer "Klima-RAF" in Anlehnung an die linksextreme terroristische Vereinigung "Rote Armee Fraktion".

Der Vergleich mit der Terrororganisation, die zwischen 1971 und 1993 immerhin 33 Menschen tötete, wirkt ein wenig übertrieben – aber dennoch stellt sich die Frage: Ist die Klimabewegung tatsächlich dabei, sich zu radikalisieren? Aus sozialwissenschaftlicher Sicht gibt es wenig, was diese Annahme stützen würde. Das fängt zunächst einmal mit dem Begriff an: "Radikalisierung" – er wird in der politischen Debatte gerne verwendet, weil wir direkt ein bestimmtes Bild im Kopf haben, von extremen Ansichten und einer unmittelbar zunehmenden Gefahr.

Keine Bereitschaft zur Gewaltanwendung

Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es für diese "Radikalisierung" allerdings kaum Belege. Der Soziologe Simon Teune arbeitet in der Protest- und Bewegungsforschung und sagt: "Wenn von Radikalisierung die Rede ist, wird in der Regel darunter verstanden, dass sich ein Einzelner oder eine Gruppe in einem Prozess befindet, an dessen Ende Gewalt gegen Menschen als legitime Form des Handelns angesehen wird und die Bereitschaft entsteht, Gewalt anzuwenden." Beides sei seiner Ansicht nach in der Klimagerechtigkeits-Bewegung aktuell nicht zu beobachten.

Auch innerhalb der Bewegung gebe es keine Strömung, die Gewaltanwendung als legitim ansehe, noch gebe es ein Milieu, das bereit wäre, Gewalt anzuwenden. "Das Fehlen einer solchen Position unterscheidet die Klimagerechtigkeits-Bewegung gerade von früheren sozialen Bewegungen. Alle relevanten Akteure haben sich auf gewaltlose Formen des Protestes festgelegt." Vom Konfliktniveau her seien die aktuellen Klimaproteste immer noch weit entfernt von historischen Auseinandersetzungen, beispielsweise den Konfrontationen um die Bauplätze von Atomkraftwerken oder Hausbesetzungen.  

Eher Ausdifferenzierung des Protests als Radikalisierung

Prof. Sebastian Haunss vom Forschungszentrum für Ungleichheit und Sozialpolitik an der Universität Bremen betont ebenfalls: Von einer Radikalisierung zu reden, sei übertrieben: "Angemessener wäre es, von einer Ausdifferenzierung der Protestformen innerhalb der Klimabewegung zu sprechen."  

Er sehe keine generelle Tendenz zu stärker konfrontativen Protestformen der Klimabewegung. "Die Proteste von Fridays for Future setzen weiterhin in erster Linie auf Demonstrationen. Zuletzt haben im September 2022 in über 250 Städten in Deutschland Demonstrationen zum Thema Klimaschutz stattgefunden." Auch die aktuell diskutierten Aktionen der "Letzten Generation" seien nur sehr begrenzte Regelüberschreitungen, bei denen es maximal zu Sachbeschädigungen in einem geringen Rahmen komme, keine Angriffe auf Personen. "Das Gewaltniveau und vermutlich auch die Summe der Sachschäden jedes Bundesliga-Samstages dürften deutlich höher liegen."

Das Gewaltniveau und vermutlich auch die Summe der Sachschäden jedes Bundesliga-Samstages dürften deutlich höher liegen.

Prof. Sebastian Haunss | Forschungszentrum für Ungleichheit und Sozialpolitik an der Universität Bremen

Vergleichsweise gemäßigte Forderungen

Auch auf Ebene der Forderungen der Klimabewegung lässt sich keine wirkliche Radikalisierung nachweisen. Eigentlich fordern die meisten Klimaaktivistinnen und –aktivisten nach wie vor die gleiche Sache, nämlich die Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze – ein Ziel, dem sich 197 Staaten, darunter auch Deutschland, schon 2015 im Rahmen der UN-Klimakonferenz in Paris verpflichtet hatten. Prof. Sebastian Haunss findet, diese Forderung sei keineswegs radikal, sondern eigentlich sogar "recht gemäßigt". Immerhin handle es sich um einen bereits beschlossenen, internationalen Vertrag.

Verhältnismäßigkeit des Protests durchaus gegeben

Ein weiteres Indiz für die Radikalisierung einer Bewegung ist die Verhältnismäßigkeit ihrer Aktionen im Vergleich zu ihren Zielen. Im Falle der Klimabewegung müsste man also die Frage stellen: Rechtfertigt die Bedrohung durch den Klimawandel die Aktionen?

Prof. Ortwin Renn, Wissenschaftlicher Direktor am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam, betont, mit den neueren Veröffentlichungen der Klimaforschung sei die Dringlichkeit des Klimaschutzes in den vergangenen Jahren noch deutlicher und eindringlicher geworden: "Damit steigt auch die Messlatte für die Einschätzung der Verhältnismäßigkeit: Wenn das Überleben der Menschheit unmittelbar auf dem Spiel steht, ist natürlich ein Festkleben an Straßen und Museen als eher verhältnismäßig gegenüber der drohenden Klimakatastrophe einzustufen."

Demokratiebewusstsein – jetzt vorhanden, aber erschütterbar

Eine Bedrohung gibt es allerdings möglicherweise doch: Der Soziologe Dr Simon Teue vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung befürchtet, dass aktuell in der politischen Diskussion der Eindruck erweckt werde, man müsse Klimaaktivistinnen und –aktivisten durch höhere Strafen abschrecken oder durch den Verfassungsschutz beobachten, könne das Vertrauen der Bewegung in die Demokratie erschüttern: "Bislang zeichnet sich die Klimagerechtigkeitsbewegung durch ein hohes Vertrauen in die demokratischen Institutionen aus. Dieses Vertrauen droht durch unverhältnismäßige Maßnahmen zu bröckeln." Eine solche Erosion demokratischer Substanz – also, dass Aktivisten und Aktivistinnen zunehmend in Frage stellen, ob unsere demokratischen Institutionen überhaupt fähig seien, auf die Klimakrise zu reagieren, sei möglicherweise eine neue Dimension der Radikalisierung, die noch nicht ausreichend diskutiert werde.

Die Klimabewegung ist unter Zeitdruck

Wer also mit Begriffen wie "Klima-RAF" versucht, die im Kern konstruktiv aufgestellte Klimabewegung zu diskreditieren und politisch Profit aus einer aktuell ziemlich erhitzten Debatte zu schlagen, könnte damit ironischerweise gerade dazu beitragen, dass die Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung das Vertrauen in demokratische Institutionen und Prozesse verlieren und sich eines Tages dann tatsächlich radikalisieren – denn im Gegensatz zu vielen anderen sozialen Bewegungen zeichnet sich die Klimabewegung dadurch aus, dass sie unter Zeitdruck steht: Je länger wir den Klimawandel ignorieren, desto weniger Chancen haben wir, unseren Planeten vor einem Kollaps zu bewahren.

Dass die Politik jetzt handeln muss, zeigt auch eine aktuelle Studie von Greenpeace, die anhand der Absatzpläne der Automobilkonzerne Toyota, VW und Hyundai/Kia errechnet hat, dass diese planen, mindestens doppelt so viele Diesel und Benziner zu verkaufen, wie das ihnen verbleibende CO2-Budget erlauben würde. Man kann sich demnach womöglich nicht darauf verlassen, dass Konzerne von alleine auf klimafreundliches Wirtschaften setzen.

Links/Studien

Greenpeace-Studie zur Automobilwirtschaft: "The Internal Combustion Engine Bubble"
Und die erwähnten Auswirkungen des Profifußballs, die mit der Klimabewegung verglichen werdenn, hat die Studie "Wie viel Gewalt verursacht der Profifußball in Deutschland?" untersucht.

Mit Material von Science Media Center und dpa

Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 04. November 2022 | 08:10 Uhr