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MDR KLIMA-UPDATE | 26. Mai 202340 Prozent der Menschheit bald außerhalb der Klima-NischeAusgabe #90 vom Freitag, 26. Mai 2023

26. Mai 2023, 11:00 Uhr

Hallo miteinander,

nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird, wird es schon nicht so schlimm kommen, und so weiter. Eigentlich mag ich solche Sätze der Selbstberuhigung, wenn andere um mich herum hysterisch werden. Aber es gibt Themen, da wohnt diesen Sentenzen etwas wirklich Toxisches inne. Bei der globalen Erwärmung etwa sieht es aktuell nämlich so aus, als käme es am Ende alles sehr viel schlimmer, als sich selbst die größten Pessimisten derzeit ausmalen wollen. Und deswegen wäre es eigentlich extrem sinnvoll, sich auf diese Zukunft jetzt vorzubereiten, anstatt abzuwarten und Tee zu trinken.

Am Montag ist eine neue Studie erschienen, in der die Forscher einmal ausgerechnet haben, welche Weltgegenden bei einer durchschnittlichen Erwärmung von 2,7 Grad Celsius die sogenannte menschliche Klimanische verlassen. Das ist der Temperaturbereich, in dem Menschen bislang bevorzugt gesiedelt haben. Diese Klimanische liegt zwischen 11 und 15 Grad Celsius, also etwas wärmer als bei uns, wo der Durchschnitt vergangenes Jahr bei 10,5 Grad Celsius lag. Sie ahnen es schon: Es wird ein sehr, sehr großer Teil der Weltbevölkerung sein. 

Aber bevor ich Ihnen das im Thema der Woche näher erläutern und kurz umreißen kann, was wir jetzt unternehmen sollten, erst noch zur…


Zahl der Woche:

1,5...

… Grad Celsius kennt man als Zielmarke des Pariser Klimaabkommens. Aber da gibt es ein wichtiges Detail: Das Ziel ist, die sogenannten langjährigen Mitteltemperaturen unter 1,5 Grad Celsius im Vergleich mit dem Zeitalter vor der Industrialisierung zu halten. Mitteltemperaturen bedeutet, dass es in einem Jahr auch wärmer werden kann, ohne, dass das Ziel aus dem Abkommen gleich verfehlt wäre. Warum müssen wir darüber in dieser Woche sprechen? Weil die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) angesichts des bevorstehenden El Niños kalkuliert, dass das globale Temperaturmittel wahrscheinlich bereits in den kommenden fünf Jahren erstmals über 1,5 Grad Celsius klettert. Und wenn das passiert, ist das Paris-Ziel aber noch nicht gescheitert, erklärt das Magazin "nature" in diesem Beitrag

Allerdings ist die Gefahr des Scheiterns trotzdem extrem hoch. Und zwar, weil der weltweite CO2-Ausstoß spätestens ab 2025 sinken müsste. Doch danach sieht es leider nicht aus, da Länder wie China und Indien in den kommenden Jahren noch sehr viel fossil gespeicherte Energie nutzen wollen, um ihre Entwicklung voranzutreiben. Und auch die entwickelten Regionen Europas oder der USA senken ihre Emissionen nicht so schnell, wie sie zugesagt haben. 

Und das führt uns direkt zum Thema der Woche…

Menschen werden kommen

"Quantifying the human cost of global warming" – übersetzt heißt das in etwa: Die Bezifferung des menschlichen Leids angesichts der globalen Erwärmung. Dieses Ziel hat sich ein internationales Team von Forschenden gesetzt für eine Studie, die gerade im Magazin "nature sustainability" erschienen ist. Die Forschenden wollten das Blickfeld der Klimawandel-Folgen weiten und darüber hinausgehen, ökonomische Schäden und vorzeitige Todesfälle zu kalkulieren. Stattdessen geht es um die Grundlagen unserer Lebensbedingungen, um unsere Klimanische.

Um diese Nische zu bestimmen, analysierte das Team um Timothy Lenton von der University of Exeter in England und Chi Xu von der Nanjing University in China die Durchschnittstemperaturen in den am dichtesten besiedelten Regionen der Erde, zu denen Länder wie Mexiko, Nigeria, Indien oder Indonesien gehören.

Zu beachten ist dabei allerdings, dass Temperaturen nicht allein entscheidend sind. In diesen Gebieten gebe es oft auch große Flussdeltas, in denen wegen guter natürlicher Lebensbedingungen traditionell besonders viele Menschen gesiedelt haben. So erklärt sich vielleicht auch, dass bereits heute rund 600 Millionen Menschen in Gebieten leben können, wo es wärmer ist. Trotzdem wird es wohl viele neue Probleme gaben, wenn bis 2070 weit mehr als drei oder vielleicht sogar mehr als vier Milliarden in Gebieten mit Temperaturen oberhalb von 15 Grad Celsius leben.

Siesta: Viele Länder werden Hitzepausen einführen müssen

Auf diese Zahlen kommen Lenton, Xu und Kollegen, indem sie davon ausgehen, dass die Temperaturen um 2,7 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit steigen werden. Dieser Wert sei bei der aktuell stockenden Klimapolitik zu erwarten. Außerdem werde die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2070 wahrscheinlich den Spitzenwert von 9,7 Milliarden Menschen erreichen, bevor sie wieder schrumpft. Und zudem werden ausgerechnet dort am meisten Kinder geboren, wo es in einigen Jahren bis Jahrzehnten regelmäßig monatelang zu heiß sein könnte, um sich außerhalb von Gebäuden mit Klimaanlage aufzuhalten. Das könnte dazu führen, dass bis zu 40 Prozent der Weltbevölkerung außerhalb der Klimanische leben müssen.

Das aber könnte für die Ökonomien zu einem gewaltigen Problem werden etwa in Staaten wie Indien, mit mehr als 1,4 Milliarden Menschen das bevölkerungsreichste Land der Erde, aber auch in Nigeria (213 Million Einwohner) oder Indonesien (273,8 Millionen Einwohner). "In vielen Entwicklungsländern findet die meiste Arbeit draußen statt, zum Beispiel auf dem Feld. Dort könnte man die Arbeitszeiten ändern und mittags eine Siesta einführen wie in Spanien, aber damit wird man wohl nicht die gesamte Arbeitsproduktivität erhalten können", sagt Christian Franzke, Forscher an der Pusan National University in Südkorea, der nicht an der Veröffentlichung beteiligt war. Teure Klimaanlagen und andere technische Maßnahmen seien dagegen für einkommensschwache Regionen wahrscheinlich nicht flächendeckend finanzierbar.

In den schwarzen Zonen könnte es bis 2070 so heiß werden, dass viele Menschen vor der Hitze in kühlere Gebiete migrieren wollen (hier gelb markiert. Bildrechte: MDR Wissen / Xu et.al. (2020)

Die Lebensbedingungen können auch innerhalb der Klimanische durch den Klimawandel zerstört werden.

Richard Klein vom Stockholm Environment Institute ergänzt: "Die Studie bestätigt, dass die Erwärmung sehr große Gruppen von Menschen betreffen wird, insbesondere diejenigen, die bereits nahe an den Grenzen der menschlichen Klimanische leben."

Und damit sind längst nicht alle Klimaschäden abgedeckt. "Zum Beispiel können Dürre und Wüstenbildung bereits innerhalb der Klimanische auftreten und die Landwirtschaft nahezu unmöglich und die Region damit unbewohnbar machen", sagt Klein. "Das Gleiche gilt für niedrig gelegene Gebiete, die von Überschwemmungen und dem Anstieg des Meeresspiegels bedroht sind."

Wird diese Entwicklung unweigerlich gewaltige Fluchtbewegungen auslösen? Eine aktuelle Meta-Studie von Rita Issa und Kollegen vom University College in London stellt bereits heute einen Zusammenhang fest zwischen heißen Temperaturen und der Entscheidung, in andere Regionen zu migrieren.

Richard Klein, der sich vor allem mit den durch die globale Erwärmung entstehenden Risiken befasst, schränkt das aber etwas ein. "Migration ist ein komplexer Prozess, der viel mehr durch den Verlust von Lebensgrundlagen und durch Konflikte ausgelöst wird als durch die Temperatur." Allerdings könnte die steigende Hitze viele solcher Krisen auslösen, "was bedeutet, dass wir möglicherweise eine größere Zahl von Klimaflüchtlingen sehen werden".

Christian Franzke urteilt deshalb: "Eine zukunftsweisende Politik würde jetzt schon damit anfangen, legale Migrationswege zu schaffen und sich auf eine anwachsende Migration zum Beispiel nach Europa und Deutschland vorzubereiten; zum Beispiel, die dann notwendigen Aufnahmemöglichkeiten und Infrastrukturen zu planen."

Eine andere Möglichkeit wäre natürlich, die globale Erwärmung zu stoppen. Jede 0,3 Grad weniger Erwärmung bedeuten 350 Millionen weniger Betroffene, kalkulieren die Studienautoren. Ob dieses Argument Politiker erreicht, die Energie- und Wärmewende gerne noch aufschieben würden? Vielleicht möchten Sie, liebe Lesende, diesen Klimanewsletter weiterleiten.


🗓 Klima-Termine

Dienstag und Mittwoch, 30. und 31. Mai – Dresden

Betreiber von Rechenzentren stehen vor großen Herausforderungen, wollen sie der geplanten höheren Anforderung an Energieeffizienz entsprechen. In diesem zweitägigen Workshop erfahren die Betreiber, anhand welcher Kennzahlen sich die Energieeffizienz einer Anlage bewerten lässt und welche pragmatischen Möglichkeiten es gib, die Energienutzung zu optimieren. Infos hier.

Mittwoch, 31. Mai – Halle

Der Klimawandel stellt die Gesellschaft vor enorme Herausforderungen, deshalb hoffen viele Menschen auf Lösungen aus der Wissenschaft. Die Corona-Pandemie aber hat Missverständnisse über das Verhältnis Wissenschaft, Politik und Gesellschaft offensichtlich gemacht. Welche Rolle also kann Science im Austausch mit anderen Akteuren spielen? Der Arzt und Wissenschaftsjournalist Eckart von Hirschhausen diskutiert ab 17 Uhr mit Leopoldina-Wissenschaftlern und der Politik, im Leopoldina-Festsaal, Details dazu hier.

Donnerstag, 1. Juni — Ilmenau

Im Neubau der Fraunhofer Institute IOSB und IIS eröffnet an diesem Tag Thüringens erste Bio-Kantine "keferkueche". Täglich sollen Besucher hier zwischen 11.45 Uhr und 14 Uhr Mittagsgerichte bekommen, die sich am Konzept der "Planetary Health Diet" orientieren. Dabei wird eine ausgewogene Ernährung mit globalen Umweltzielen verbunden.


📰 Klimaforschung und Menschheit

Staaten regeln globale Überwachung von Treibhausgasen

Die weltweite Beobachtung von Treibhausgasen soll mit einer neuen internationalen Initiative verbessert werden. Wie die Weltwetterorganisation (WMO) am Mittwoch mitteilte, beschlossen ihre 193 Mitgliedstaaten in Genf ein System, um bestehende Messungen auf der Erde und mittels Satelliten unter ein Dach zu bringen. Der bisherige Datenaustausch auf internationaler Ebene erfolge noch kaum automatisch. Außerdem sei das Wissen über den Fluss von CO2 zwischen der Atmosphäre und natürlichen Reservoirs wie Meeren, Wäldern und Permafrostböden noch lückenhaft. Mit der Initiative "Global Greenhouse Gas Watch" (Globale Treibhausgas-Überwachung) sollen künftig CO2, Methan und Lachgas weltumspannend beobachtet werden. Monatliche Berichte zu den Gas-Flüssen mit einer Auflösung von 100 mal 100 Kilometern sollen erstellt werden. Die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre liegt laut WMO auf dem höchsten Stand der vergangenen 800.000 Jahre. Von Menschen verursachte Emissionen solcher Chemikalien sind für den Klimawandel verantwortlich. (dpa)

Agri-Photovoltaik hilft Pflanzen bei Dürre 

In langen Trockenphasen können Landwirte doppelt profitieren, wenn sie ihre Felder mit Solarzellen überspannen. Einerseits können sie Strom erzeugen und verkaufen, andererseits werfen die Zellen Schatten auf die darunter liegenden Feldfrüchte und reduzieren so die Verdunstung von Wasser. Forschende der agrarwissenschaftlichen Universität in Hohenheim bei Stuttgart haben zahlreiche Studien ausgewertet, um den Effekt des Schattenwurfs durch PV-Zellen auf das Wachstum von landwirtschaftlichen Produkten abzuschätzen. War ausreichend Wasser vorhanden, hemmten die Schatten das Wachstum. War es jedoch zu trocken, bremste der Schattenwurf die Verdunstung und die Landwirte konnten am Ende mehr ernten als von Feldern, die nicht durch PV Module verschattet worden waren.

Massensterben von Seeigeln bedroht Korallenriffe

Ein Massensterben von Seeigeln im Mittelmeer und im Roten Meer bedroht die Korallenriffe der Region. Betroffen sei unter anderem das Riffsystem nahe der israelischen Küstenstadt Eilat am Roten Meer, teilte die Universität Tel Aviv mit. Dort starben sämtliche Seeigel binnen weniger Monate. Mutmaßlicher Auslöser der Epidemie unter Seeigeln sind bestimmte Wimperntierchen. Bei einer Ansteckung sterben Seeigel binnen zwei Tagen ab. Die Tiere sind wichtig für die Gesundheit von Korallenriffen. Sie fressen Algen, die sonst die Korallen überwuchern und abtöten. Die Riffe seien ohnehin schon extrem bedroht, nun komme noch ein weiterer Faktor hinzu, hieß es. Ein auf Wimperntierchen zurückgehendes Massensterben von Diadem-Seeigeln war zunächst im Januar 2022 auf den US-amerikanischen Virgin Islands aufgefallen. In den Monaten darauf wurden ähnliche Beobachtungen in weiten Teilen der Karibik gemacht. Wimpertierchen bestehen aus nur einer Zelle und haben kleine Härchen auf ihrer Oberfläche, mit denen sie sich bewegen können. Sie kommen häufig im Wasser vor und sind oft harmlos. Allerdings wurden Verwandte der nun gefundenen Wimpertierchen bereits für Massensterben bei anderen Meerestieren wie Haien verantwortlich gemacht. 

Plastikmüll in der Nordsee bleibt vor allem in Flussmündungen hängen 

Plastikmüll in der Nordsee bleibt meistens bereits in Küstennähe hängen oder treibt relativ schnell an Land zurück. Das zeigen Untersuchungen von Wissenschaftlern der Universität Oldenburg und des Helmholtz-Zentrums Geomar. Die Forschenden hatten Proben von Plastikmüll gesammelt, dessen Verbreitung in der See mit Rechenmodellen simuliert und die Strömungen mit zwei Experimenten untersucht. Dabei setzten sie einerseits mit Sendern ausgestattete Schwimmkörper ein. Andererseits verteilten sie über 60.000 kleine Holztafeln im Meer und forderten Bürger auf, Funde zu melden, wenn die Tafeln an Land getrieben wurden. Dabei zeigte sich, dass sich der meiste Müll in küstennahen Bereichen sammelte. Am problematischsten waren sogenannte ozeanografische Fronten, in denen Süßwasser aus Flüssen auf das Salzwasser im Meer trifft. Hier hingen Müllpartikel teilweise monatelang fest und hier sammelte sich das meiste Mikroplastik am Grund.


📻 Klima in MDR und ARD

👋 Zum Schluss

Heute könnten Sie mir helfen, mein nächstes Recherchethema zu entscheiden. Auf meiner List hätte ich:

  • Gibt es im Untergrund möglicherweise gewaltige Mengen an Wasserstoff und wie ökologisch wäre es, diese zu fördern?
  • Verhindert Apokalypse-Kommunikation beim Klima die notwendige Veränderung?
  • Was ist klimaschädlicher: Online-Shopping oder Einkaufen im Laden?
  • Die Bremser - wer will eigentlich E-Autos und Wärmepumpen verhindern?

Schreiben Sie mir oder stimmen Sie auf dieser Seite hier ab.

Ein schönes Pfingstwochenende wünscht
Clemens Haug


Sie haben eine Frage oder Feedback?

Schreiben Sie uns an klima@mdr.de.

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | 09. Mai 2023 | 13:00 Uhr