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Bildrechte: Jana Dünnhaupt, OVGU

MobilitätMagdeburger Forscher: Autonomes Lastenrad so profitabel wie normales Leihrad

09. September 2022, 11:00 Uhr

Magdeburger Forscher haben drei Jahre lang ein selbstfahrendes Lastenrad entwickelt. Nach dem Ende des Projektes ist klar: Ein solches System kann so profitabel betrieben werden wie herkömmliches Bikesharing. Das gilt sogar für Vororte.

Sie wirken auf den ersten Blick wie die pferdelosen Kutschen, die Harry Potter nach Hogwarts transportieren: fahrerlose Fahrräder, die durch Magdeburg fahren. In den vergangenen drei Jahren waren immer mal wieder fünf davon zu sehen, wie sie auf Fahrradwegen unterwegs waren.

Das Forschungsprojekt dahinter heißt "AuRa – Autonomes Rad". Gefördert wurde es von der EU und Sachsen-Anhalts Infrastrukturministerium. Stephan Schmidt, Professor für mechatronische Systeme an der Hochschule Merseburg, leitet die Forschungsgruppe zu autonomen Fahrzeugen an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Er sagt, das autonome Fahrrad lässt sich per App anfordern: "Es kommt dann automatisiert zu einem, auf Radwegen oder auf Fußwegen, die breit genug sind. Ich lade mein Gepäck oder meine Kinder ein und fahre damit zu meinem Ziel. Dort steige ich ab und das Rad fährt zurück ins Depot."

Software und Hardware aus Magdeburg

Das Ziel kann dabei auch eine Straßenbahnhaltestelle sein und am Ende der Straßenbahnfahrt kann erneut ein Rad benutzt werden. "Wir schließen auf der ersten und der letzten Meile die Lücke im öffentlichen Nahverkehr", sagt Schmidt.

Das Rad fährt maximal 25 Kilometer pro Stunde und die Forscherinnen und Forscher haben es mit einem System ausgestattet, das mit Methoden der künstlichen Intelligenz arbeitet, um seinen Weg und Hindernisse zu erkennen. Die Wissenschaftler haben das KI-System trainiert und durch die Stadt gesteuert. Anhand der Kameraaufnahmen hat das System gelernt, was Autos, was Fußgänger oder Fahrräder sind.

Die Magdeburger mussten neben der Hardware vieles am Herz des Systems – der Software – selbst entwickeln. "Es gibt natürlich Konzepte für automatisches Fahren aus der mobilen Robotik. Aber so spezifisch für den Innenstadtbereich und für das Radfahren hat es vorher noch niemand gemacht", sagt Schmidt.

Autonome Fahrräder könnten Leihrädern den Rang abfahren

An der Wirtschaftlichkeit eines solchen Leihsystems für autonome Lastenräder hat Schmidts Kollege Tom Assmann in den vergangenen Jahren geforscht. Seine Themen sind nachhaltige Logistik, Radlogistik, autonome Fahrzeuge und logistikintegrierte Stadtplanung. Assmann ist außerdem Vorsitzender des Radlogistik Verbands Deutschland.

Seine Erkenntnis: "Autonome Lastenräder lassen sich in der Stadt genauso profitabel betreiben wie ein herkömmliches Bikesharing-Geschäftsmodell."
Und im Gegensatz zum klassischen Bikesharing bieten autonome Räder sogar Vorteile, sagt Assmann. "Sie können auch in Vororten wie Magdeburg-Ottersleben wirtschaftlich betrieben werden. Dort könnte Bikesharing damit erstmals angeboten werden."

Tom Assmann: "Autonome Lastenräder lassen sich genauso profitabel betreiben wie herkömmliche Leihräder." Bildrechte: Jana Dünnhaupt, OVGU

Außerdem benötigt ein System aus autonom fahrenden Rädern weniger Räder als Leihsysteme mit herkömmlichen Rädern, meint Assmann. "Die Räder werden nicht wild abgestellt, die Kunden müssen sie aber auch nicht an festen Stationen abstellen. Sondern sie fahren selbstständig an Orte, wo sie auf ihren nächsten Einsatz warten." So ließe sich die Flottengröße erheblich verringern. Und so würde sich ein solches System selbst rechnen, wenn ein solches Fahrrad mit viel Technik darin 20.000 Euro kosten würde.

Für potenzielle Kunden würden sich die Mietpreise im typischen Bikesharing-Bereich bewegen: Dabei sind bislang neben Tagestarifen oder Minutenkontingenten beispielsweise ein Euro pro halbe Stunde typisch.


Selbstfahrendes Rad fährt selbstfahrenden Autos davonNeben Logistikexperten und Experten für autonomes Fahren waren auch Umweltpsychologen am "AuRa"-Projekt beteiligt. Auch ihr Fazit nach drei Jahren Forschung ist positiv. Die wichtigste Erkenntnis: Menschen akzeptieren selbstfahrende Räder deutlich eher als selbstfahrende Autos. Das haben Umfragen der Magdeburger Umweltpsychologen ergeben. Ein Großteil der Befragten kann sich vorstellen, eine solches Rad zu nutzen. "Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Rad unheimlich gut angenommen wird", sagt Umweltpsychologin Karen Kastner. Auf einer Skala von eins bis fünf Sternen würden die Menschen deutlich mehr als drei Sterne vergeben.

Neben Logistikexperten und Experten für autonomes Fahren waren auch Umweltpsychologen am "AuRa"-Projekt beteiligt. Auch ihr Fazit nach drei Jahren Forschung ist positiv. Die wichtigste Erkenntnis: Menschen akzeptieren selbstfahrende Räder deutlich eher als selbstfahrende Autos. Das haben Umfragen der Magdeburger Umweltpsychologen ergeben. Ein Großteil der Befragten kann sich vorstellen, eine solches Rad zu nutzen. "Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Rad unheimlich gut angenommen wird", sagt Umweltpsychologin Karen Kastner. Auf einer Skala von eins bis fünf Sternen würden die Menschen deutlich mehr als drei Sterne vergeben.

Das Lastenleihrad und CO2

Auf dem Stadtgebiet von Magdeburg würde es mehrere Orte geben, an denen die Räder auf den nächsten Einsatz warten könnten. Außerdem rechnet Assmann mit vier bis fünf Ladestationen für die Räder. Dort können sie sich an eine Ladesäule anschließen oder automatisiert den Akku austauschen. Aktuell hätten die Räder eine Reichweite von 20 bis 30 Kilometer. "Wir glauben, dass sich damit in Magdeburg jeden Tag mehrere Tausend Wege – sowohl Fußweg, Auto- und ÖPNV-Fahrten – ersetzen ließen", sagt Assmann.

Um das herauszufinden, habe Assmann die Nachfrage nach Leihrädern in Magdeburg simuliert – anhand von Daten der Stadt Magdeburg und anhand von Leihrad-Systemen anderer Städte.

In Magdeburg gibt es derzeit keine Leihräder. Seit jüngstem gibt es Leihroller in der Stadt, aber ohne Genehmigung und vorerst nur geduldet. Die Stadt befürchtet, dass die Roller wild abgestellt werden und Menschen behindern oder gefährden. Jetzt sollen die Bürgerinnen und Bürger selbst befragt werden.

Assmann geht davon aus, dass ein solches Lastenrad-Verleih-System in Magdeburg mehrere Tonnen CO2 am Tag einsparen würde. Wie viel genau – daran arbeiten die Forschenden noch. Eine Umfrage, die Assmann zitiert, hat jedenfalls ergeben, dass bei 72 Prozent der Ausleihen von Lastenfahrrädern ansonsten ein Auto genutzt worden wäre.

Und für die Zukunft hat Assmann nicht nur dreirädrige Lastenfahrräder im Kopf, sondern auch normale Räder, die autonom zum Mieter fahren können.

Wir glauben, dass wir mit selbstfahrender Technologie Leihräder attraktiver, verfügbarer und effizienter machen können.

Tom Assmann

Wann kommen die autonomen Räder auf die Straße?

Wann Magdeburger und Magdeburgerinnen die selbstfahrenden Räder im Alltag nutzen können, ist noch nicht klar. Schmidt sagt, es gibt einige Ideen für Folgeprojekte, die teilweise bereits laufen und von Sachsen-Anhalts Wissenschaftsministerium gefördert werden. "Mit AuRa haben wir einen sehr hohen Automatisierungsgrad. Das lässt sich nicht so zeitnah umsetzen, glaube ich." Was schneller geht: mit den Rädern Paketzusteller unterstützen. "Ein Paketlieferant, der ein autonomes Lastenrad hat, das ihm folgt – das lässt sich zeitnaher umsetzen. Und daran arbeiten wir auch aktuell."

Was derzeit völlig unklar ist: die rechtliche Lage. Es ist völliges Neuland, sagt Schmidt. "Der Gesetzgeber ist im Bereich der autonomen Autos schon weiter. Hochautomatisierte Fahrzeuge der Stufe vier dürfen jetzt in Deutschland fahren, wenn sie eine Zulassung bekommen." An autonome Fahrräder hätte bisher noch niemand gedacht.

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