NovemberpogromeFelix Hausdorff - Mathematiker, Philosoph, NS-Opfer
Die Feier zu Felix Hausdorffs 70. Geburtstag findet ein unsanftes Ende. SA-Männer stürmen die Wohnung. Es ist die Reichspogromnacht. Der herausragende Mathematiker wird Opfer der NS-Diktatur. Wir schauen auf sein Wirken.
Es ist ein kleiner Kreis aus Familie und engsten Freunden, der sich in Bonn zu Felix Hausdorffs 70. Geburtstag trifft. Nach lautem Feiern ist keinem zumute. Am Abend brechen grölende SA-Männer in die Wohnung ein. Sie beschimpfen die Gäste und kündigen dem Wissenschaftler an, ihn nach Madagaskar zu schicken. Da könne er, der Jude, den Affen Mathematik beibringen.
Gefeierter Mathematiker
Felix Hausdorff ist zu dieser Zeit ein weltberühmter, international hochgeehrter Mathematiker, der auf dem Gebiet der Mengenlehre völlig neue Erkenntniswelten erschlossen hat.
Schon 1908 hat der Mathematiker Zermelo einen Bericht über die Mengenlehre geschrieben für die Deutsche Mathematikervereinigung. Darin schreibt er: Die gesamte höhere Theorie der geordneten Mengen verdanken wir Hausdorff.
Walter Purkert, Mathematiker und Mitherausgeber der neuen Hausdorff-Edition
Dass Hausdorff Mathematiker wird, ist in seiner Jugend nicht festgelegt. Der in Leipzig Aufgewachsene komponiert, spielt hervorragend Klavier, schreibt Gedichte und beschäftigt sich intensiv mit Philosophie. Um 1900 führt er in Leipzig ein Doppeleben, sagt Walter Purkert.
Auf der einen Seite der exakte Mathematiker, der auch großen Wert auf die Lehre legte, freundschaftlich mit seinen Studenten verkehrte, und auf der anderen Seite der Philosoph und Literat, der in Künstlerkreisen zu Hause war.
Walter Purkert, Mathematiker
Mann vieler Interessen und Talente
Komponist Max Reger, Dichter Frank Wedekind und Bildhauer Max Klinger zählen zu Hausdorffs Freunden. Er hilft mit einem vielbeachteten Essay über Klingers damals umstrittene große Beethoven-Skulptur, dass die Stadt Leipzig sich entschließt, dieses Hauptwerk Klingers zu kaufen. Freie Abende verbringt Hausdorff gern bei den sogenannten Bungonen - einer illustren literarisch-philosophischen Leipziger Männerrunde.
Die hatten einen Stammtisch, da wurde bis in die Nacht gefeiert, getrunken und eben auch diskutiert.
Walter Purkert, Mathematiker
Hausdorff sitzt hier als Paul Mongré. Das ist sein literarisches Pseudonym - unter dem er auch ein erfolgreiches Theaterstück veröffentlicht: "Der Arzt seiner Ehre" - eine Satire, die in ganz Deutschland aufgeführt wird. Vor dem 1. Weltkrieg sei Hausdorff als Theaterdichter wesentlich bekannter gewesen als als Mathematiker, sagt Walter Purkert.
Philosophie und Mathematik treffen aufeinander
Was Felix Hausdorff zur Mathematik bringt, ist die Mengenlehre, die Georg Cantor in den Jahrzehnten zuvor in Halle begründet. Hier findet Hausdorff den Weg zu tieferer Welterkenntnis, die "Emancipation vom realistischen Augenschein", wie er es nennt. Die Mengenlehre ist das Forschungsfeld, wo sich seine philosophischen und mathematischen Überlegungen treffen.
Hausdorff beschreibt sie als:
Ein Gebiet, wo schlechthin nichts selbstverständlich und das Richtige häufig paradox, das Plausible falsch ist.
Felix Hausdorff, Mathematiker
Ein beängstigender Gedanke, wenn man sich gern auf sicherem Boden bewegt. Hausdorff stürzt sich mit Lust in die Welten jenseits des Alltagsverstandes.
Er schafft Grundlagen und Instrumentarium für völlig neue mathematische Denkwege.
Die Topologie als Teilgebiet der Mengenlehre gründet sich auf Hausdorff - mit bis heute gültigen Grundmustern wie Hausdorff-Maß, Hausdorff-Dimensionen, Hausdorff-Räumen.
Ein Hausdorff-Raum, das ist ein ganz grundlegender Begriff der Mathematik, der in vielen mathematischen Gebieten bis in die Physik hinein, die Quantenfeldtheorie, von Bedeutung ist.
Walter Purkert, Mathematiker
Es sind hochabstrakte Denkkonstrukte. Ihre Bedeutung zeigt sich bei einer einfachen Google-Suche. "Hausdorff-Space" bringt knapp 2 Millionen Ergebnisse. 1914 veröffentlicht Hausdorff in Leipzig sein Hauptwerk "Grundzüge der Mengenlehre". Es ist ein bis heute gültiges Grundlagenwerk. Aber auch dieses hochkonzentrierte Werk schreibt Hausdorff mit spielerischem Witz - wenn er z.B. im Vorwort verspricht:
...von dem menschlichen Privileg des Irrtums einen möglichst sparsamen Gebrauch zu machen.
Felix Hausdorff, Mathematiker
Vom NS-Regime verfolgt
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten versuchen internationale Freunde und Verehrer vergeblich, Hausdorff die Ausreise aus Deutschland zu ermöglichen. 1942 erhält er den Befehl, in ein Sammellager umzuziehen. Der über 70-Jährige weiß, was ihn erwartet, und nimmt sich mit seiner Frau und seiner Schwägerin das Leben.
In einem Abschiedsbrief wünscht er seinen Freunden, bessere Zeiten zu erleben. In Bonn trägt heute ein mathematisches Forschungsinstitut Hausdorffs Namen. Einer der dortigen Professoren - Peter Scholze - hat dieses Jahr den renommiertesten Mathematiker-Preis, die Fields-Medaille bekommen.
Seit 1996 erarbeiten Mathematiker und Historiker die Hausdorff-Edition, die den gesamten Nachlass Hausdorffs erfasst. Damit sollen auch die literarischen und philosophischen Schriften Hausdorffs neu ins öffentliche Bewusstsein kommen.