Empathie und Perspektivübernahme So steuert unser Gehirn soziale Fähigkeiten
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11. November 2020, 05:00 Uhr
Damit wir verstehen können, was in anderen Menschen vorgeht, braucht es zwei Voraussetzungen: Empathie und die Fähigkeit, die Perspektive einer anderen Person einzunehmen. Was jedoch genau hinter diesen beiden Fähigkeiten steckt, war bisher noch nicht ganz geklärt. Forschende vom Max-Planck-Institut für Kongnitions- und Neurowissenschaften in Leipzig haben jetzt herausgefunden: Es gibt nicht die eine Kompetenz, die dazu führt, dass wir uns in eine andere Person hineinversetzen können.
Menschen sind soziale Wesen. Deshalb wollen sie meist verstehen, was andere Menschen wollen, wie sie sich fühlen und was die Motive für ihre Handlungen sind. Das gilt umso mehr in einer komplexen, globalisierten Gesellschaft, die für ihr Funktionieren auf sozial verträgliches Handeln angewiesen ist. Dank unserer sozialen Fähigkeiten können wir uns ein Netzwerk schaffen - von Kollegen und Kolleginnen, Menschen, die uns unterstützen und natürlich einen Freundeskreis. Manche scheinen die geborenen Netzwerker zu sein und sich direkt mit jeder anderen Person zu verstehen, anderen dagegen fällt der Umgang mit anderen schwerer. Ein Grund dafür sind soziale Kompetenzen. Die beiden wichtigsten: Empathie und die Fähigkeit zur Perspektivübernahme.
Empathie und Perspektivübernahme
Empathie ist die Fähigkeit, sich in die Gefühle einer anderen Person hineinversetzen zu können. Sie ist also gefühlsbasiert.
Die Fähigkeit zur Perspektivübernahme meint, dass man die Pläne und Absichten einer anderen Person nachvollziehen kann. Es ist ein komplexer Denkprozess, der dazu dient, sich die Umstände des anderen und dessen mögliche Gedanken vorstellen zu können.
Doch obwohl Forschende sich schon lange mit der Frage beschäftigen, wie wir andere Menschen verstehen können, war bisher immer noch unklar, was Empathie und die Fähigkeit zur Perspektivübernahme eigentlich sind, wie sie funktionieren und wo ihre Basis im Gehirn ist. Deshalb haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Leipziger Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) gemeinsam mit Forschenden der Oxford-University und anderer Institutionen eine Vielzahl der bisherigen Studien ausgewertet - insgesamt 188 Stück - und ein Erklärungsmodell entwickelt. Die Meta-Analyse ist im Fachmagazin Psychological Bulletin erschienen.
Eine situative Mischung verschiedener Faktoren
Das Kernergebnis: Es handelt sich bei diesen Fähigkeiten nicht um eine abgeschlossene soziale Kompetenz. Viel mehr funktionieren beide eher fluid - also je nach Situation spielen andere Einflussfaktoren eine mehr oder weniger wichtige Rolle.
Ob wir einer Person ihre Emotionen an den Augen ablesen, eine lustige Geschichte verstehen oder die Handlungen einer anderen Person nachvollziehen wollen, im Alltag gibt es ja auch ständig unterschiedliche Herausforderungen, für die wir die zwei Fähigkeiten brauchen. Doch je nach Situation brauchen wir dafür eine Kombination verschiedener untergeordneter Fertigkeiten: Im einen Moment, müssen wir Gestik und Mimik richtig interpretieren und in einer anderen Situation ist es wiederum viel wichtiger, den kulturellen Hintergrund unseres Gesprächspartners zu kennen.
Diese beiden abstrakten Fähigkeiten zum Eindenken und Einfühlen in Andere setzen sich wiederum aus verschiedenen Bausteinen zusammen.
Beide Gesamtkompetenzen würden jeweils von einem auf Empathie oder Perspektivwechsel spezialisierten "Hauptnetzwerk" im Gehirn verarbeitet, erläutert Studienleiter Philipp Kanske. Die würden in jeder sozialen Situation aktiviert, zögen dann aber je nach Situation zusätzliche Netzwerke hinzu. "Das Gehirn kann so sehr flexibel auf die einzelnen Anforderungen reagieren."
Im Fall der Empathie arbeitet also im Gehirn ein Hauptnetzwerk. Das kann die entsprechenden Situationen erkennen, indem es zum Beispiel Angst verarbeitet. Springt das Empathie-Zentrum an, arbeitet es mit spezialisierten anderen Hirnregionen zusammen - etwa der für die Gesichts- und Spracherkennung. Ganz ähnlich ist es bei der Perspektivübernahme, so das Forschungsteam. Hier entspricht das Hauptnetzwerk jedoch den Hirnregionen, die auch beim Erinnern an Vergangenes oder dem Fantasieren über Zukünftiges zum Einsatz kommen. Und in den konkreten Situationen schalten sich auch hier je nach Bedarf andere Regionen hinzu.
Komplexe Probleme brauchen beide Fähigkeiten
Ein weiteres Kernergebnis der Forschenden bezieht sich auf besonders komplexe soziale Probleme. Die Analyse habe gezeigt, dass dann eine Kombination der Fähigkeiten Empathie und Perspektivübernahme notwendig sei. Und hier liege das Talent besonders sozial kompetenter Personen: Sie scheinen andere Personen auf beide Arten zu betrachten - also gefühlsbasiert und rational denkend. In ihrem Urteilsvermögen fänden sie dann die richtige Balance aus beidem, heißt es weiter.
Unsere Analyse zeigt aber auch, dass Mangel an einer der beiden Sozialkompetenzen auch bedeuten kann, dass nicht die Kompetenz als Ganzes begrenzt ist. Womöglich ist nur ein bestimmter Teilfaktor betroffen, etwa das Verständnis von Mimik oder Sprachmelodie.
Wenn die sozialen Fähigkeiten einer Person eingeschätzt werden sollen, reiche ein einzelner Test deshalb nicht aus, ergänzt Neurowissenschaftler Kanske. Es brauche eine ganze Reihe an Testverfahren, um zu bewerten, ob ein Mensch wenig empathisch ist oder unfähig, die Sichtweisen anderer nachzuvollziehen.
(kie)