MedizinKranke Nieren: Warum der Osten besonders betroffen ist
Die Niere gilt als Waschmaschine des Körpers. Sie filtert Gifte und Schadstoffe aus dem Blut und ist zum Leben essenziell. Doch viele Zehntausende Menschen erkranken jährlich chronisch an ihren Nieren. Wie viele Menschen wo betroffen sind, erfasst das Zentralinstitut der Kassenärztlichen Versorgung (ZI) in einem Versorgungsatlas. Ein Ergebnis: Nirgends ist die Zahl so hoch wie in Ostdeutschland. Besonders betroffen sind Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Ohne sie geht nichts: Nieren gelten als Waschmaschine des menschlichen Körpers. Etwa 300-mal täglich filtern sie das gesamte Blut. Das gibt pro Tag 1.500 Liter. Funktionieren sie nicht mehr richtig, läuft der Körper Gefahr, sich selbst zu vergiften. Nicht selten sind Menschen auf eine Dialyse (Blutwäsche) angewiesen. Der Versorgungsatlas des Zentralinstituts der Kassenärztlichen Versorgung zeigt jetzt: Die Zahl der Erkrankungen ist in Ostdeutschland besonders hoch. Spitzenreiter ist Sachsen-Anhalt. Dort sind im Jahr 2022 knapp zwölf Prozent der gesamten Bevölkerung ab einem Altern von 40 Jahren chronisch an den Nieren erkrankt. Doch Sachsen, Thüringen und auch Brandenburg stehen hier in nichts nach, hier sind etwa elf Prozent aller Menschen ab 40 Jahren chronisch nierenkrank. Zum Vergleich: In Hamburg sind nur etwa fünf Prozent erkrankt – weniger als die Hälfte.
Nierenerkrankungen stellen Osten vor Herausforderungen
"Unsere Daten zeigen eine erhöhte Erkrankungslast durch chronische Nierenkrankheiten in den ostdeutschen Bundesländern", sagte der ZI-Vorstandsvorsitzende Dr. Dominik von Stillfried. "Diese sind für die medizinische Versorgung in den besonders betroffenen Regionen eine große Herausforderung. Denn mit einer chronischen Nierenkrankheit gehen oftmals Folge- und Begleiterkrankungen einher, die zusätzliche Anforderungen an die verfügbaren Kapazitäten in den Praxen und Krankenhäusern der Region stellen." Besonders Hausärzte seien hier gefragt, ihnen falle eine wichtige Lotsen- und Präventionsaufgabe zu.
Warum sind so viele Ostdeutsche nierenkrank?
Doch warum sind gerade so viele Ostdeutsche an den Nieren erkrankt? Einen Grund sehen die Autoren der Studie in den Risikofaktoren Bluthochdruck (Hypertonie) und Diabetes (Mellitus Typ 2). Schon diese seien im Osten überdurchschnittlich vertreten. "Für Hypertonie und Diabetes mellitus konnte in früheren Berichten des Versorgungsatlas nahezu in allen ostdeutschen Kreisen flächendeckend eine erhöhte Zahl von Erkrankungen beobachtet werden", erklärte Sprecher Daniel Wosnitzka.
Alkohol und hoher Cholesterin-Spiegel als gefährliche Risikofaktoren
Als Risiko-erhöhend für Bluthochdruck gelten neben einer genetischen Prädisposition Umwelt- und Lebensstilfaktoren wie erhöhter Alkoholkonsum, Zigaretten, Übergewicht, Bewegungsmangel und ungesunde Ernährung mit einem erhöhten Cholesterin-Spiegel als ursächlich. Können also die Vielzahl an Nierenerkrankungen auch mit einem hohen Konsum von Alkohol in der ehemaligen DDR zusammenhängen?
DDR bei Alkoholkonsum weltweit vorn
Diese Frage zu beantworten, obliegt sicher weiteren Forschungsarbeiten. Fest steht aber: "In der DDR wurde wie in kaum einem anderen Land so oft und so viel Alkohol getrunken. In der Menge und in der Art des Gebrauchs nahm der Alkoholkonsum eine herausragende und besondere Stellung ein", erklärte Historiker Thomas Kochan in seiner Forschungsarbeit.
Schon die reinen Zahlen beeindrucken: Im Pro-Kopf-Verbrauch von Bier und Spirituosen belegte die DDR im weltweiten Vergleich seit 1982 einen der drei vordersten Plätze.
Thomas Kochan | Historiker
"Schon die reinen Zahlen beeindrucken", schreibt Kochan. "Im Pro-Kopf-Verbrauch von Bier und Spirituosen belegte die DDR im weltweiten Vergleich seit 1982 einen der drei vordersten Plätze. Von Mitte der fünfziger Jahre bis 1988 erhöhte sich der durchschnittliche Bierkonsum von 68,5 auf 143,0 Liter. Beachtlicher noch sind die ostdeutschen Zahlen in puncto 'harte' Sorten: 1955 schluckte der DDR-Durchschnittsbürger 4,4 Liter Weinbrand, Klaren und Likör, 1988 schon 16,1 Liter. Das sind pro Kopf 23 Flaschen!"
Studien sehen auch Zusammenhang mit Armut
Das ZI sieht eine weitere mögliche Ursache in den Vermögensverhältnissen. Der Zusammenhang von Armut und chronischer Nierenkrankheit wurde zwar für diesen Bericht nicht untersucht, so ZI-Sprecher Wosnitzka. Aber aus Studien in anderen westlichen Ländern ist bekannt, "dass chronische Nierenkrankheiten ebenso wie die Risikofaktoren Diabetes und Bluthochdruck vermehrt in von Armut betroffenen Milieus auftreten".
Sachsen: Zahl chronischer Nierenerkrankungen steigt um 91 Prozent
Doch nicht nur die absoluten Krankheitszahlen beschäftigen die Analytiker. In allen Regionen Deutschlands nahm die Zahl chronischer Nierenerkrankungen enorm zu – besonders stark auch wieder im Osten. Sachsen verzeichnete 2022 mit einem Plus von 91 Prozent den höchsten Anstieg von chronischen Nierenerkrankungen gegenüber dem Jahr 2013. Beim zweiten Platz zeigt sich ein kleiner Ausreißer nach Westen: Baden-Württemberg legte im Zehnjahresvergleich mit 89 Prozent fast ebenso viel zu wie Sachsen, bewegt sich aber auf einem niedrigeren Niveau (2013: 3,20 Prozent, 2022: 6,04 Prozent). Den dritten Platz belegt Thüringen, wieder auf hohem Krankheitsniveau mit einem Anstieg von 71 Prozent (2013: 6,38 Prozent, 2022: 11 Prozent).
Neben ostdeutschen Spezifika auch einfach mehr Diagnosen
Den Forschenden zufolge sei der deutschlandweit zu beobachtende Anstieg jedoch kein ostdeutsches Spezifikum, sondern sei vielmehr darin begründet, "dass in zunehmendem Ausmaß zuvor unerkannte chronische Nierenkrankheiten bei immer mehr Patientinnen und Patienten im ambulanten Versorgungsalltag erkannt, diagnostiziert und behandelt werden". Dennoch müsse von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden, weil chronische Nierenerkrankungen meist recht spät erkannt würden.
Bundesweit ein Anstieg um 60 Prozent
Bundesweit sind dem Bericht zufolge, 60 Prozent mehr Menschen erkrankt. Insgesamt waren im Jahr 2022 fast 2,94 Millionen Patientinnen und Patienten von einer diagnostizierten chronischen Nierenkrankheit betroffen – Männer stärker (52 Prozent) als Frauen. Die gute Nachricht: Die Zahl von Dialyse-Patienten und Patientinnen blieb in etwa gleich. Im Jahr 2022 waren in Deutschland etwa 86.000 Menschen von einer Blutwäsche abhängig. Für diese Behandlung liegen Erkrankte etwa dreimal pro Woche für vier bis fünf Stunden an einem Dialysegerät.
Nierenfunktion mindestens drei Monate geschädigt
Die chronische Nierenkrankheit ist durch eine mindestens drei Monate bestehende Schädigung der Nierenfunktion charakterisiert. Sie kann laborchemisch durch Blut- oder Urinuntersuchungen sowie durch bildgebende oder pathologische Untersuchungen des Nierengewebes diagnostiziert werden. Das Risiko für eine chronische Nierenkrankheit nimmt mit steigendem Alter zu. In industrialisierten Ländern gelten Diabetes 2 und Hypertonie als häufigste Risikofaktoren. Andere mögliche Ursachen reichen von genetischen Prädispositionen über Nebenwirkungen bestimmter Arzneimittel bis hin zu Autoimmunerkrankungen.
DatengrundlageDatengrundlage der veröffentlichten Studie waren die bundesweiten pseudonymisierten krankenkassenübergreifenden vertragsärztlichen Abrechnungsdaten gemäß § 295 SGB V. Die Prävalenz diagnostizierter Nierenkrankheiten wurde pro Berichtsjahr (2013 bis 2022) als prozentualer Anteil Erkrankter an der Gesamtpopulation vertragsärztlicher Patientinnen und Patienten ab 40 Jahren im Bund nach Alter und Geschlecht sowie in den Bereichen der Kassenärztlichen Vereinigungen und auf Kreisebene ermittelt.
Links/Studien
Holstiege J, Kohring C, Dammertz L, Heuer J, Samson-Himmelstjerna FA v, Akmatov MK, Müller D, Stillfried D v. Trends der Prävalenz diagnostizierter chronischer Nierenkrankheiten und der Inanspruchnahme der Dialyse in der vertragsärztlichen Versorgung. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi). Versorgungsatlas-Bericht Nr. 24/03. Berlin 2024 https://doi.org/10.20364/VA-24.03
- Der Bericht als PDF
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Dieses Thema im Programm:Das Erste | Mittagsmagazin | 29. Oktober 2024 | 13:00 Uhr