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GiftforschungTiergifte: Wie Spinnen, Schlangen und Schnecken Leben retten

18. Oktober 2024, 12:04 Uhr

Schlangen, Spinnen, Schnecken: Bei vielen Menschen lösen sie Unbehagen, manchmal auch Angst und Panik aus. Ihr Gift ist gefährlich, ihr Biss meist schmerzhaft und gelegentlich sogar tödlich. Doch diese kleinen und großen Tiere sind nicht nur Feinde, sondern auch Freunde – wenn nicht sogar Helden! Denn ihre hochkomplexen Gifte, die in der Natur zum Jagen und Töten eingesetzt werden, sind in der Medizin lebensrettend.

von Rojin Anousha

Grubenottern gehören als Unterfamilie der Crotalidae zu den Vipern. Bildrechte: IMAGO / Zoonar

Schlangengifte: Vom tödlichen Biss zur lebensrettenden Medizin   

Schlangen sind seit jeher eine Faszination aber auch eine Gefahr für den Menschen. Viele Arten sind für Mensch und Tier giftig. Pro Jahr werden weltweit über fünf Millionen Menschen von Schlangen gebissen, schätzt die Weltgesundheitsorganisation WHO. Bis zu 137.000 Todesfälle sind die Folge, dreimal so viele Amputationen oder bleibende Behinderungen, so die Behörde. (Nur zum Vergleich: Im Jahr 2023 gab es weltweit 69 registrierte Haiangriffe. Zehn davon endeten tödlich für Menschen.)

Die Wissenschaft beschäftigt sich schon lange mit Schlangengiften. Ziel war es immer, Gegengifte zu finden. Seit der Erforschung der Schlangengifte wird aber auch versucht, die Gifte medizinisch zu nutzen. In den 1970er-Jahren gelang auf diesem Gebiet ein Durchbruch. Aus den Schlangengiften konnten Peptide gewonnen werden, die medizinisch nutzbar sind. Peptide sind Moleküle, die aus Aminosäuren aufgebaut sind. 

Mit der Lanzenotter gegen Bluthochdruck

Das bekannteste Beispiel ist Captopril. Es ist ein Bestandteil des Giftes der Grubenotter aus Südamerika, genauer gesagt der Jararaca-Lanzenotter. Das Gift dieser Grubenotter enthält Teprotide. Dieses Gift bewirkt, dass der Blutkreislauf des Opfers zusammenbricht und die Schlange so an ihr Opfer herankommt. In den 1970erJahren versuchte die Wissenschaft, diesem Teprotide auf molekularer Ebene näher zu kommen, um es medizinisch nutzen zu können. 

Grüne Amazonas-Lanzenotter Bildrechte: IMAGO / blickwinkel

Zum einen gelang es, ein Gegengift zu entwickeln, um Menschen nach einem Biss vor größeren Schäden zu bewahren. Zum anderen wurde mit Captopril ein Medikament entwickelt, das zur Behandlung von Bluthochdruck eingesetzt wird und seither Millionen von Menschen das Leben gerettet hat.  

Captopril hemmt die Aktivität des Angiotensin-Converting-Enzyms (ACE). Diese Hemmung führt zu einer Erweiterung der Blutgefäße und damit zu einer Senkung des Blutdrucks. Das Medikament ist seit den 1980er-Jahren auf dem Markt. Es ist der Grundbaustein für viele weitere Medikamente gegen Bluthochdruck und andere Herzerkrankungen. 

Bildrechte: IMAGO/Pond5 Images

Spinnengifte - ein neuer Durchbruch in der Medizin? 

Weltweit gibt es etwa 51.000 bisher entdeckte Spinnenarten. Jedes Jahr kommen etwa 500 bis 700 neue Arten hinzu. Fast alle Spinnen sind giftig. Ihre Gifte setzen sich aus mehreren tausend Toxinen zusammen. Im Vergleich dazu enthalten Schlangengifte nur einige hundert Toxine. Im Gegensatz zu Schlangen sind die meisten Spinnen für den Menschen jedoch ungefährlich. Das bedeutet, dass Spinnengifte viel weniger Nebenwirkungen auf den menschlichen Körper haben als andere Tiergifte, da die Toxizität der Spinnengifte viel geringer ist. 

Spinnengifte sind in erster Linie Nervengifte. Das heißt, sie wirken auf das zentrale Nervensystem. Das ist ein Bereich, in dem der Mensch unter vielen Krankheiten leidet. Dazu gehören Schlaganfall, Alzheimer, Epilepsie, Parkinson, Multiple Sklerose und viele andere. Das zentrale Nervensystem ist auch für das menschliche Schmerzempfinden verantwortlich. Viele Millionen Menschen leiden an diesen Krankheiten und bisher gibt es nur wenige Medikamente. 

Die Lösung könnte in einem der Millionen Spinnengifte liegen. Tim Lüddecke ist Biochemiker, Zoologe und Leiter der Arbeitsgruppe Tiergifte am Fraunhofer-Institut in Gießen. In seiner Forschungsgruppe untersuchen er und sein Team Tiergifte, vor allem Spinnengifte. 

Es gibt 10 Millionen Spinnengifte

"Ein kleines Zahlenbeispiel. In den 51.000 bisher entdeckten Spinnenarten gibt es etwa 10 Millionen Gifte. Von diesen 10 Millionen kennen wir heute, nach rund 50 Jahren Tiergiftforschung, gerade einmal 2.000 – das ist nicht einmal ein Prozent", zitiert Tim Lüdecke Studien von australischen Kollegen. Was verbirgt sich also noch hinter den Millionen von Toxinen, die in Spinnengiften enthalten sind?  

Die technischen Entwicklungen der letzten Jahre, Robotik, Systembiologie, Biotechnologie und künstliche Intelligenz, haben die Erforschung von Tiergiften auf ein ganz neues Niveau gehoben. Kleinste Tiere wie millimetergroße Spinnen oder Mücken können so (besser) untersucht werden. Mit Hilfe dieser Technologien können die Gifte dieser Tiere erforscht werden. "Wir können die Gifte darin ausfindig machen. Und wenn wir sie ausfindig gemacht haben, können wir die Gene, die eben dieses Gift produzieren, in Bakterienzellen einbauen und so diese Gifte im Labormaßstab produzieren und testen. Durch diese Technologien können wir Tiergifte erschließen, die wir vor zehn Jahren nicht mal hätten erforschen können.", sagt Lüddecke.

Derzeit gibt es viele Toxine aus Spinnengiften, die dank des technischen Fortschritts nun in klinische Studien untersucht werden können, und auch eine ganze Reihe von Toxinen, die bald als Medikamente auf den Markt kommen könnten.

Ein sehr spannendes Beispiel ist Hi1a. Das ist ein Toxin der Fraser Island Trichternetzspinne. Es könnte vor Folgeschäden von Schlaganfällen schützen. "Dieses Toxin blockt einen Ionenkanal im menschlichen Körper, der ganz maßgeblich die Zellantwort auf Sauerstoffmangel reguliert", erklärt Lüddecke.

Trichternetzspinne rettet uns bei Schlaganfall

Kommt es im menschlichen Körper zu einem Sauerstoffmangel in den Geweben, in denen sich dieser Kanal befindet, wird er aktiviert und führt zum Absterben der Zellen. Das passiert bei Schlaganfällen und Herzkreislauf-Erkrankungen. Bei einem Schlaganfall kommt es zu einer Durchblutungsstörung im Gehirn. Die Gehirnzellen erhalten keinen Sauerstoff mehr und sterben ab. Dieser Gewebeschaden führt dann zu den schweren Folgen des Schlaganfalls.  

Trichternetzspinne. Ihr Gift hilft Schlaganfallpatienten. Bildrechte: IMAGO / Avalon.red

Hi1a blockiert bestimmte Ionenkanäle und schützt so die Zellen bei einem Schlaganfall vor dem Absterben. Ein weiterer großer Vorteil von Hi1a ist, dass es nicht blutverdünnend wirkt. Das ist für die Behandlung eines Schlaganfalls entscheidend. Man unterscheidet nämlich zwischen zwei Arten von Schlaganfällen. Bei einem "klassischen" Schlaganfall spricht man von einem "ischämischen Schlaganfall”. Hier kommt es zu einer Verstopfung der Blutgefäße im Gehirn, wodurch das Gewebe nicht mit genügend Sauerstoff versorgt wird und abstirbt. Wird diese Art von Schlaganfall diagnostiziert, kann man dem Patienten entsprechende Medikamente verabreichen. Das Problem dabei ist, dass diese Medikamente blutverdünnend sind. Beim "hämorrhagischen Schlaganfall", können sie nicht eingesetzt werden. Denn bei dieser Art von Schlaganfall kommt es zu einer Hirnblutung. Blutverdünnende Medikamente wären hier also besonders schädlich.
 

Time is brain: Beim Schlaganfall zählt jede Sekunde

Wenn nun ein Mensch einen Schlaganfall erleidet, dauert es oft sehr lange, bis sich herausstellt, um welche Art von Schlaganfall es sich handelt. In dieser Zeit können Millionen von Nervenzellen absterben ("time is brain” heißt das international bei Notfall-Medizinern). 

Ein wesentlicher Vorteil des Hi1a-Toxins besteht darin, dass es unmittelbar nach der Diagnose eines Schlaganfalls, unabhängig von der Art des Schlaganfalls, eingesetzt werden kann. Da es keine blutverdünnende Wirkung hat, kann es vom Rettungspersonal, das die entsprechenden Symptome erkennt, sofort verabreicht werden, um mögliche Hirnschäden zu verhindern.   

Der Schlaganfall ist nach dem Herzinfarkt die zweithäufigste Todesursache weltweit. Wer einen Schlaganfall überlebt, hat oft jahrelang mit den Folgen zu kämpfen. Viele Menschen sterben innerhalb von einigen Jahren an den Folgeschäden von Schlaganfällen. Das Peptid Hi1a könnte daher ein neuer Durchbruch in der Medizin sein. Es könnte Millionen von Menschen das Leben retten. 

Netz-Kegelschnecke (Darioconus textile, Conus textile) Bildrechte: IMAGO / blickwinkel

Die Kegelschnecke - eines der giftigsten Tiere der Welt  

Die etwa 8 cm langen Kegelschnecken sind fleischfressende Meeresschnecken. Zum Beutefang und zur Abwehr von Feinden setzen sie ein starkes Nervengift ein, das sie mit ihrem harpunenartigen Pfeil in ihre Opfer injizieren.   

Auch für den Menschen ist die Kegelschnecke sehr gefährlich. Bei einem Stich breitet sich das Gift innerhalb von Minuten im Körper aus. Es führt zu starken Lähmungserscheinungen bis hin zur Atemlähmung und zum Tod. Selten werden Menschen von der Kegelschnecke gestochen. Meistens passiert es, wenn Taucher nach ihnen greifen und die Schnecke sich verteidigt.  

Die Bestandteile ihres Giftes sind jedoch in der Medizin sehr nützlich. Das Gift enthält Conotoxine. Conotoxine sind neurotoxische Peptide mit spezifischen Wirkungen auf das Nervensystem. Sie können Ionenkanäle blockieren und dadurch Schmerzen lindern.  

General-Kegelschnecke Bildrechte: imago/blickwinkel

Aus dem Gift der Kegelschnecke wurde das Schmerzmittel Ziconotid entwickelt. Es wird bei starken chronischen Schmerzen eingesetzt. Vor allem dann, wenn andere Medikamente nicht mehr helfen. Das Gift ist sehr stark, tausendmal stärker als Morphium. Im Gegensatz zu Morphium dockt es aber nicht an die Nikotinrezeptoren an. Es macht also nicht abhängig. Der Nachteil des Schmerzmittels ist allerdings, dass man Ziconotid nicht einfach oral, z.B. als Tablette, einnehmen kann. Es muss mit einer Spritze direkt in das Rückenmark gespritzt werden. Nur so kann es im Gehirn die Schmerzlinderung bewirken. 

Was sind die giftigsten Tiere der Welt?

"Um das festzustellen, müsste man die Giftigkeit am Menschen experimentell testen… das ist menschenrechtlich schwierig", erklärt Tim Lüddecke. Tatsächlich ist die Beantwortung dieser Frage nicht so einfach. Man müsste sich zuerst einmal fragen. Für wen giftig? "Die meisten Spinnen sind für Fliegen giftig aber für den Menschen harmlos", erklärt er weiter. Um wissenschaftlich fundiert sagen zu können, welche Tiere für den Menschen am giftigsten sind, müsste man das an Menschen testen. Das ist aber nicht möglich, deshalb gibt es dazu keine richtigen Daten.

Natürlich gibt es Tiere, die eine hohe Toxizität in sich tragen. Dazu gehört die Seewespe (eine Art der Würfelquallen), aber auch die bereits erwähnte Kegelschnecke. Doch welches dieser Tiere ist für den Menschen giftiger? "Ab einer bestimmten Toxizität spielt das keine Rolle mehr", sagt Lüddecke. Die Seewespe und die Kegelschnecke seien die giftigsten Tiere für den Menschen. Aber beide sind so giftig, dass es letztlich keine Rolle spielt. Beide sind für den Menschen gleich tödlich.

Europas Gift-Netzwerk

Seit 2020 gibt es ein Netzwerk zur Giftforschung auf europäischer Ebene: Das Euven – European Venom Network. Ende September treffen sich die Vertreter zum 2. Euven-Kongress in Neapel. Auf dem Programm stehen neue Methoden und Ziele der Giftforschung.

Links/Studien

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Elefant, Tiger & Co | 12. Juli 2024 | 19:50 Uhr

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