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Kindheit und ErziehungVerhaltensauffällige Kinder: "Mit ADHS wurde es plötzlich normal, Kindern regelmäßig Psychopharmaka zu verabreichen"

21. Oktober 2024, 16:12 Uhr

Schreien, Aggression, Rückzug – wo fangen Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern an und wie geht die Gesellschaft damit um? Ein Thema, so wichtig, dass sich die Herbsttagung der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina damit beschäftigt. Jens Elberfeld vom Institut für Pädagogik der Uni Halle spricht dort über den Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern zwischen 1960 und 2000. MDR WISSEN erklärt der Historiker vorab, was sich seit den 60igern geändert hat und wie es heute läuft.

von Katrin Tominski

Herr Elberfeld, der Landesschülerrat Sachsen warnt, mentale Probleme bei Kindern und Jugendlichen nehmen immer stärker zu. Ist das so? Müssen wir uns Sorgen machen?

Die Frage lässt sich gar nicht so leicht beantworten. Es gibt zwar Studien, laut denen es mehr verhaltensauffällige Kinder gibt. Gleichzeitig gehören Warnungen vor einer Zunahme seit Jahren dazu. Im Laufe der letzten Jahrzehnte allerdings sehen wir, dass die Zahl verhaltensauffälliger Kinder relativ konstant ist. Die Frage ist, wie wir Verhaltensauffälligkeiten definieren. Bei einem weiten Verständnis sprechen wir bei bis zu einem Viertel aller Kinder von Verhaltensstörungen. Bei einem engeren Verständnis reden wir über ein bis drei Prozent.

Dr. Jens Elberfeld vom Institut für Pädagogik der Universität Halle erforscht, wie sich der Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern geändert hat. Bildrechte: Jens Elberfeld

Wie definiert man kindliche Verhaltensauffälligkeiten?

Das ist ein breites Spektrum an irgendwie auffälligem Verhalten. Es kann von banalen Dingen wie Schüchternheit und Nägelkauen bis hin zu Depressionen, einer gesteigerten Aggressivität und gewalttätigem Verhalten reichen. Hinter dem Begriff verbirgt sich also eine sehr große Spannbreite an Verhalten, das als problematisch wahrgenommen wird.

Wenn mein Kind sich auf den Boden wirft, schreit und um sich schlägt, muss ich mir dann Sorgen machen?

Das Interessante ist: Mit dem populären Konzept der Verhaltensstörung beginnen wir, andere Fragen zu stellen. Ist das Kind vielleicht gar nicht schlecht erzogen, sondern hat es eine Verhaltensstörung? Ist dem so, bringt es nichts, Hausarrest zu verordnen. Dann ist es wichtig zu schauen, warum das Kind rebelliert, was dahintersteckt. Der Umgang mit Kindern hat sich also definitiv geändert.

Wie kann man das auseinanderhalten?

Das ist überhaupt nicht einfach. Die Psychotherapie bietet hier verschiedene Verfahren, das zu erkennen. Dennoch existiert immer noch eine Grauzone. Diese kann bei Eltern aber auch dazu führen, schon auf kleinste Anzeichen zu reagieren und professionellen Rat zu suchen. Viel früher als noch vor ein oder zwei Generationen.

Oft schütteln Großeltern über ihre Enkel den Kopf, sie seien nicht erzogen, undiszipliniert und verhaltensauffällig – wenn sich Kinder beispielsweise in der Waschmaschine verstecken. Wie bewerten Sie das?

Waschmaschinen sind natürlich nicht ungefährlich – sage ich jetzt als Vater. Was tun, wenn mein Kind die Maschine von innen verriegelt oder sonst irgendwie feststeckt? Historisch betrachtet haben sich Vorstellungen und Erziehungsstile jedenfalls sehr geändert. Zwischen den Generationen hat sich eine Kluft aufgetan, in der Ältere oft über ein Verhalten den Kopf schütteln, bei dem in ihrer Zeit schon viel früher eingegriffen worden wäre. Daraus jedoch zu schließen, es gebe mehr Verhaltensauffälligkeiten, ist schwierig. Eher hat sich das Spektrum an mehr oder weniger akzeptiertem kindlichen Verhalten vergrößert.

Sie forschen über die Kindheit im Wandel der Zeit. Wie hat sich der Umgang mit kindlichen Verhaltensstörungen verändert?

Die Epochenschwelle sind die 70iger-Jahre. Bis dahin wurden auffällige Kinder vornehmlich bestraft und diszipliniert. Besonders schwere Fälle landeten in psychiatrischen Anstalten oder Fürsorgeheimen. Mit der 68iger-Bewegung änderte sich das. Zugleich entstand nun das Konzept der Verhaltensstörung. Es fußte auf der Annahme, dass auch Störungen auf erlerntem Verhalten basieren und dementsprechend wieder verlernt werden können. Kinder und Jugendliche sollten nicht mehr moralisch verurteilt und pathologisiert werden. Im Gegenteil: man wollte ihnen helfen, andere Verhaltensweisen zu entwickeln. Dem wohnte anfangs ein enormer therapeutischer und pädagogischer Optimismus inne.

In den 60iger-Jahren gab es Verhaltensstörungen also noch gar nicht?

Streng genommen: nein. Denn mit älteren Begriffen war auch eine andere Wahrnehmung der Kinder und vor allem ein anderer Umgang mit ihnen verbunden. In den 60igern nahm man Verhaltensauffälligkeiten und -abweichungen zudem vorrangig als ein Problem wahr, das untere Gesellschaftsschichten betraf, nicht, wie heute, als gesamtgesellschaftliches Phänomen.

Auffällige Kinder werden einkommensschwachen und bildungsfernen Familien zugeordnet – ist das nicht heute auch so?

In der medialen Debatte trifft das leider zu, nicht aber auf die Wissenschaft. Grundsätzlich sind Verhaltensauffälligkeiten von Kindern wie ADHS oder auch Legasthenie nicht an eine Schicht gebunden, sondern durchgängig gegeben. Der Umgang und die damals damit verbundene Stigmatisierung haben sich heute gewandelt. Das Methodenspektrum ist wesentlich breiter und hat sich immer wieder erneuert.

Kinderheime waren in Ost und West Normalität – wer ging dorthin und warum?

Wir müssen zwischen DDR und alter BRD unterscheiden. In der DDR finden wir Kinderheime bis zur politischen Wende 1989. In der alten BRD führten die 68iger zu einer großen Kritik an Heimunterbringung und geschlossenen Anstalten. Neue Formen der Betreuung wurden ausprobiert – weg von früheren Formen, hin zu betreuten Wohngruppen und ähnlichem.

Wer landete eigentlich in Kinderheimen?

Heimerziehung ist ein Feld für sich, hier bin ich nicht der Experte. Doch eines kann ich sagen. In Kinderheimen in der alten BRD sind vor allem Kinder- und Jugendliche aus nichtbürgerlichen Familien gelandet. Oft haben sie gegen gesellschaftliche Normen verstoßen, sind zu Hause ausgebrochen und haben sich herumgetrieben. Das war etwas anderes als das, was heute diskutiert wird. 

Verstöße gegen Normen – sind das nicht einfach Proteste gegen Erwartungen und Regeln und gehören zur Jugend dazu?

Das darf man nicht aus den Augen lassen, dieser Aspekt muss berücksichtigt werden. Kinder gelten auch als verhaltensauffällig, wenn sie den Schulunterricht stören und zum Beispiel herumlaufen oder reden. Wäre Schule jetzt anders konzipiert, wäre das Verhalten der Kinder gar nicht auffällig, weil es die Regeln gar nicht gibt.

Was als Auffälligkeit gilt, ist also ein weites Feld?

Ja. Nägelkauen wurde in den 70iger-Jahren als Symptom für verhaltensauffällige Kinder betrachtet. Ich kaue heute noch manchmal an meinen Nägeln, bin ich deswegen verhaltensauffällig?

Junge Eltern verurteilen oft die "schwarze Pädagogik" der früheren Jahre, bei der es darum ging, Kinder unterzuordnen. War das wirklich so? Was ist schwarze Pädagogik?

Ja, aber: Der Begriff "schwarze Pädagogik" ist mit Vorsicht zu genießen, weil er aus der Kritik der 70iger stammt. Trotzdem hat es in den 60iger-Jahren noch eine eher autoritäre Erziehung gegeben. Die Prügelstrafe in Schulen wurde erst in den 70igern abgeschafft – in der DDR übrigens früher. Prügeln war jahrhundertelang ein Konzept der Erziehung, was erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit abgeschafft worden ist. Insofern können wir tatsächlich von schwarzer Pädagogik reden.

Heute kritisieren die Älteren oft das Gegenteil, junge Eltern versuchten ständig ihren Kindern alles recht zu machen ...

Bedürfnisorientierte Erziehung ist als eigenes Konzept in den vergangenen 15 Jahren populär geworden. Das geht mit großen Anforderungen für die Eltern einher, weil sie permanent ihre Bedürfnisse hintanstellen. Ich bezweifle, ob es gut ist, Kinder ständig in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Vielleicht finden sie es ja auch gut, einmal unbeobachtet zu sein und ihre kindliche Autonomie auszuleben. Das sage ich jetzt allerdings als Vater und nicht als Historiker.

Was hat sich seit den 70igern verändert? 

Vieles hat sich gehalten; neue Phänomene wie ADHS haben sich etabliert. Über die Diagnose ADHS wurde es plötzlich normal, Kindern regelmäßig Psychopharmaka zu verabreichen. Einzeln geschah dies schon vorher, doch die massenhafte Verabreichung von Ritalin begann erst mit der Diagnose ADHS. Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ist heute die am häufigsten diagnostizierte Erkrankung bei Kindern. Das ist noch einmal eine neue Qualität. In den USA werden bei etwa sieben Prozent aller Grundschulkinder ADHS diagnostiziert, das ist in Deutschland ähnlich.

Mehr Sport, weniger Bildschirm: Wird ADHS zu viel diagnostiziert?

Man kann kritisch hinterfragen, ob ADHS nicht als Ausweg dient, regelwidriges Verhalten zu behandeln. Ritalin heilt ja ADHS nicht, es setzt an den Symptomen an. Natürlich lassen sich Kinder damit ruhigstellen. Die Grenzen zwischen leicht auffälligem Verhalten und Aufmerksamkeitsstörung lassen sich nicht scharf ziehen. 

Es liegt also nicht unbedingt an den Kindern, sondern auch an der Gesellschaft?

Auch das ist keine leicht zu beantwortende Frage. Es gibt Arbeiten, die sich mit der Frage beschäftigen, was ist das für eine Gesellschaft, die eine solche Art von Kindern produziert. Seit Jahren erleben wir eine besorgte und kritische Debatte um Kinder und Jugendliche. Überall werden Gefahren ausgemacht. Ich sehe eher das Problem, dass wir Kinder nur noch unter einem Risikoaspekt betrachten.

Sind wir heute zu sehr auf die Bedürfnisse der Kinder konzentriert?

Wer sich für die Autonomie von Kindern stark macht, könnte kritisch sehen, dass wir Kinder immer mehr beobachten. Ein klassisches Beispiel ist die Ortung und Überwachung von Kindern per Smartwatch. Einerseits wollen wir selbstständige Kinder, andererseits verfolgen wir ihr Tun auf Schritt und Tritt. Müssen wir Eltern wirklich alles mitbekommen?

Welche Rolle spielen Drogen?

Drogen sind ein Problem der Jugend, meine Forschung bezieht sich eher auf Kinder. Doch eines kann ich sagen: Drogen werden als Teil von Verhaltensauffälligkeiten gesehen und können Krankheiten verstärken.

Müssen wir Kinder stärker fördern – ihnen mehr zutrauen?

Das ist ein zweischneidiges Schwert. Natürlich sollen Kinder gefördert werden. Das darf jedoch nicht dazu führen, dass sie keine Kinder mehr sein dürfen und sich ständig optimieren. Eine ständige und bestmögliche Förderung kann auch dazu führen, dass wir Kinder überfrachten. 

Welche Rolle spielt der Faktor Zeit?

Fehlende Zeit für die Kinder wurde immer angeführt, um die vermeintliche Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten zu erklären. Fehlende Zeit, weniger Bindung, mehr Störungen, dieses Argument ist gang und gäbe und hat sich bis in die Gegenwart gehalten. Die bedürfnisorientierte Erziehung fußt darauf, sie propagiert eine sehr zeitintensive Pflege und Betreuung.

Was raten Sie – als Historiker und Vater?

Auffälliges Verhalten wird heute eher akzeptiert als früher. Gleichzeitig hängt die Vorstellung über eine Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten davon ab, dass wir sie stärker in der Gesellschaft diskutieren. Ich warne, darauf zurückzuschließen, dass Kinder tatsächlich verhaltensauffälliger sind. Als Historiker rate ich zu mehr Gelassenheit: Kritik an der Jugend gab es schon immer. Die Klagen über den Zustand der Kinder sind alt und reichen bis in die Antike zurück. Trotzdem existiert die Welt noch immer. 

Werden Kinderrechte heute mehr berücksichtigt als damals?

Ja und Nein. Kinderrechte sind eine junge Vorstellung. In Deutschland gelten sie erst seit 1992. Hier zeigt sich eine Ambivalenz: Den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung unserer Kinder beispielsweise können wir eigentlich nur garantieren, wenn wir sie ständig beobachten. Das führt jedoch auch dazu, dass wir als Erwachsene die kindliche Autonomie verletzen. Das Ambivalente bei Kinderrechten ist, dass die Erwachsenen für deren Wahrung verantwortlich sind.

tomi

Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 17. Oktober 2024 | 13:10 Uhr

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