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Soziale InteraktionUnterstützungstherapie für Eltern führt zu weniger Autismus-Verhalten bei Dreijährigen

12. Oktober 2021, 14:44 Uhr

Wenn die Eltern potenziell autistischer Kleinkinder frühzeitig lernen, wie sie mit den Besonderheiten der Kinder umgehen können, wird bei diesem im Alter von drei Jahren seltener Autismus diagnostiziert, zeigt jetzt eine neue Studie.

von Clemens Haug

Vor einer Autismus-Spektrum-Diagnose bei ihren Kindern haben Eltern Angst. Die neurologische Störung bedeutet meist ein Leben mit vielen schwierigen Herausforderungen. Ob ein Kind Autismus hat oder nicht, kann nach derzeitigem Stand allerdings erst in einem Alter von drei Jahren diagnostiziert werden. Kinder, die schon zuvor erste Anzeichen von Autismus zeigen, können jedoch in ihrer Entwicklung von ihren Eltern unterstützt werden. Wie ein britisch-australisches Forscherteam jetzt im Fachblatt "JAMA Pediatrics" zeigt, kann eine Therapie den Eltern helfen, mit den Besonderheiten ihrer Kinder umzugehen. Wurden Eltern auf diese Weise unterstützt, wurde bei ihren Kindern im Alter von drei Jahren seltener Autismus diagnostiziert als bei Kindern, deren Eltern diese Therapie nicht durchlaufen hatten.

Ursache von Autismus nach wie vor nicht abschließend erforscht

Was Autismus, beziehungsweise eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) genau ist, darüber wird in der Wissenschaft nach wie vor gestritten. Eine entscheidende defekte Stelle im Gehirn habe bislang kein Forscher gefunden, genetische Vorprägung scheint aber eine große Rolle zu spielen. Sichtbar werde eine ASS als Schnittmenge zweier Gruppen von Symptomen zu handeln, erklärt Jonathan Green, Kinderpsychologe an der Universität Manchester in England. Einerseits seien das die Probleme in der Kommunikation und dem sozialen Handeln mit anderen Menschen, andererseits oft ein repetitives Verhalten verbunden mit überstarker Sensibilität gegenüber bestimmten äußeren Reizen.

"Autismus kommt relativ häufig vor. Etwa ein bis zwei Prozent aller Menschen weltweit kommt mit einer Störung im autistischen Spektrum auf die Welt ", sagt Green. Um diese Menschen und ihre Familien im Lauf des Lebens zu unterstützen, wenden Gesundheitssysteme viele Mittel auf. Allein beim Nationalen Gesundheitsdienst in UK sind es rund 32 Milliarden Pfund. Folglich hat das Thema Priorität beim NHS und auch bei der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Eltern können ihren Kindern sehr gut helfen, wenn sie ihre Signale besser verstehen

Ein Problem bei der Behandlung war bisher: Therapien sind umso erfolgreicher, je früher sie angewendet werden. Doch eine Autismus-Diagnose ist meist erst nach dem dritten Geburtstag eines Kindes möglich. Vorher gibt es nur Anzeichen. "Wir sehen, dass Eltern von den Reaktionen ihrer Kinder verwirrt sind und die Kinder wiederum weniger Feedback von ihren Eltern bekommen, mit dem sie etwas anfangen können", erklärt Green. Dadurch könne die natürliche Schwingung zwischen Eltern und Kindern gestört werden. "Wir glauben, dass diese frühen Störungen der sozialen Interkation in einer Kaskade münden und so die Entwicklung eines Autismus verstärken."

Zusammen mit seinem Team aus UK und Australien hat er nun einen neuen Ansatz entwickelt. Gibt es frühe Warnzeichen bei den Kindern oder sind familiäre Vorprägungen bekannt, etwa durch Geschwister mit bereits diagnostiziertem Autismus, dann können Eltern ihren Kindern offenbar sehr gut helfen, wenn sie lernen, wie sie mit ihnen trotz der Besonderheiten sozial interagieren können, etwa im Spiel.

Dafür gewann das Team 103 australische Kinder mit Anzeichen eines beginnenden Autismus. Zu Beginn der Studie waren sie zwischen 9 und 15 Monate alt. Eine Hälfte der Kinder wurde in den folgenden Monaten und Jahren mit bereits erprobten Therapien behandelt. Bei der anderen Gruppe wurden die Eltern in insgesamt 10 Therapie-Sitzungen im Verlauf von fünf Monaten darin gecoacht, auf ihre Kinder einzugehen und ihre Signale besser zu deuten.

Eltern lernen, sich weniger direktiv zu verhalten und stärker auf die Kinder einzugehen

"Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die Arbeit mit Eltern und versucht, die Eltern in ihrem Interaktionsverhalten zu unterstützen und die Feinfühligkeit und Responsivität der Eltern in der Interaktion mit ihrem Kind zu fördern", erklärt Sanna Stroth, Psychotherapeutin in der Spezialambulanz für Autismus-Spektrum Störungen an der Universitätsklinik in Marburg, in einem Kommentar für das Sciencemediacenter. Strotz, die nicht an der Studie beteiligt war, führt weiter aus: "Innerhalb von zehn videogestützten Sitzungen, in denen das Interaktionsverhalten der Eltern trainiert wird, zeigt sich in der Studie eine Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion, insbesondere darin, dass sich die Eltern weniger direktiv verhalten und verstärkt auf ihre Kinder eingehen."

Waren die Eltern beispielsweise zu Beginn oft irritiert darüber, dass die Babys auf bestimmte angebotene Spielsachen kaum reagierten und Blickkontakte mieden, lernten sie im Verlauf der Therapie, dass das nicht bedeutet, dass die Kinder keine Lust auf die Interaktion hatten. Gemeinsam mit den Therapeuten entwickelten die Eltern Alternativen mit dem Ziel, Wege zu finden, wie Mutter und Vater mit ihren Kindern einen sicheren Kontakt aufbauen und spielen lernen konnten. "Es sind diese Interaktionen, die dem Kind helfen, sich zu entwickeln", sagt Green.

Umfeld lernt, soziale Interaktion und Kommunikation je nach Stand des Kinders zu fördern

Nach der Therapie untersuchten die Forscher die Familien in regelmäßigen Abständen, bis die Kinder schließlich drei Jahre alt waren. Dabei zeigte sich, dass es am Ende der Beobachtungszeit in der Versuchsgruppe Autismus-assoziierte Verhaltensweisen seltener waren und die Kinder ihr Sozialverhalten besser entwickeln konnten, als in der Kontrollgruppe. Wo die Eltern therapiert worden waren, sank der Anteil der Kinder, die ein paar Jahre später dennoch eine Autismus-Diagnose bekamen, auf 6 Prozent. Bei den traditionell behandelten Kindern lag dieser Anteil bei 20 Prozent, also mehr als drei Mal höher.

Bei der Nachuntersuchung zeigte sich zudem, dass Kinder wesentlich besser gelernt hatten, mit ihrem Umfeld zu interagieren, als die Kinder der Kontrollgruppe. Sie neigten seltener zu stereotypem Verhalten und sie zeigten bessere sensorische Wahrnehmungen. "Der Effekt der Therapie signifikant und überzeugend", sagt Green. Drücke man es in medizinischen Maßen aus, dann zeige sich, dass sieben Einheiten Therapie zu einer Diagnose weniger führten. "Das ist sehr starker Effekt." Beim Einsatz von Medikamenten zur Behandlung von Herzkreislaufkrankheiten seien die Effekte oft schlechter.

Sanna Stroth sieht die Effekte etwas zurückhaltender. "Die meisten Ansätze waren bisher wenig erfolgreich, die Autismus-Symptomatik zu verringern oder gar zu verhindern. Und auch in der vorliegenden Studie sind die Effekte relativ klein. Die Autismus-Spektrum-Störung ist eine genetisch verankerte Störung der Hirnentwicklung und es scheint schwer möglich zu sein, die Manifestation zu verhindern." Dennoch zeige die vorliegende Studie eindrucksvoll, wie viel man mit spezifischen, entwicklungspsychologisch begründeten Interventionen erreichen könne, "wenn das kindliche Umfeld in die Lage versetzt wird, die grundlegenden Funktionen sozialer Interaktion und Kommunikation alters- und entwicklungsspezifisch zu fördern."

Sozialen Rückzug verhindern, damit Kinder Lernmöglichkeiten behalten

Auch Jonathan Green selbst warnt vor überzogenen Erwartungen an die von ihm entwickelte Therapie. Sie sei keine Heilung oder Verhinderung von Autismus. Das sei auch nicht das Ziel. Es gehe nicht darum, die Symptome zu beseitigen, sondern darum, die Bedingungen für die Kinder so zu verbessern, dass diese sich optimal entwickeln können. "Es ist nicht die magische Kur, die die Kinder neutorypisch macht", so Green. Viele Kinder hätten danach immer noch Entwicklungsprobleme, diese seien aber viel kleiner als bei der Gruppe ohne Therapie. Das berge allerdings auch die Gefahr, dass Kindern aufgrund einer fehlenden Autismus-Diagnose später nötige Hilfen verweigert würden. "Wir glauben, der Fehler hier liegt im System. Hilfen sollten auf Basis von Bedürfnissen zugeteilt werden, nicht auf Basis von Diagnosen", sagt der Psychologe.

Bedeuten die Ergebnisse der Studie umgekehrt, das Eltern Schuld daran sind, wenn ihre Kinder eine Autismus-Diagnose bekommen? Nein, denn die Störung sei grundsätzlich angeboren. Aber die Umgebung könne eben beeinflussen, wie gut sich Babys und Kinder trotzdem entwickeln können. "Selbst wenn es nur gelingt einen kleinen Effekt zu erzielen, der akkumuliert sich über die Zeit. Und diese Akkumulation bringt die Veränderung", sagt Green.

"Die Autismus-Spektrum-Störung ist mit einer veränderten sozialen Interaktion verbunden – die Kinder setzen kaum Mimik, Gestik oder Blickkontakt ein, um Interaktionen zu steuern, stellen kaum gemeinsame Aufmerksamkeit her oder bringen sich nicht in ein gemeinsames Spiel ein", sagt Psychotherapeutin Stroth. Der Rückzug aus sozialen Situationen auch mit den Eltern bedeute, dass Kinder Gelegenheiten verlieren, diese Fertigkeiten auszubilden und zu üben. "Die Idee der vorliegenden Studie ist daher, ein reiches Feld an Interaktionsmöglichkeiten und damit einhergehende Lernmöglichkeiten zu schaffen, in denen die Kinder ihre sozial kommunikativen Fertigkeiten entwickeln können."

Wir müssen lernen, die Signale von Autisten richtig zu verstehen

Für Andrew Whitehouse von der Universität of Western Australia war der neue Ansatz logisch. "Eltern und erwachsene Autisten haben uns bereits seit vielen Jahren gesagt, dass man verändern muss, wie mit dem Autismus umgegangen wird. Dass man lernen muss, wie man die Signale von Autisten richtig versteht." Der bisherige Ansatz, nach einer zentralen Veränderung im Gehirn zu suchen, die den Autismus auslöse, habe keine Verbesserung gebracht. "Es sind aber wahrscheinlich die kleinen Verhaltensänderungen, die den Unterschied machen."

In den kommenden Jahren soll bei weiteren Folgeuntersuchungen geklärt werden, ob und wenn ja wie lange die Erfolge in der weiteren kindlichen Entwicklung beibehalten werden können.

Hinweis: Nach kritischem Feedback auf diesen Beitrag haben wir einige Formulierungen geändert und um Einordnungen ergänzt, um mögliche Missverständnisse auszuräumen. Vielen Dank für die Hinweise. Außerdem sind Aussagen einer unabhängigen Expertin eingeflossen, die die Ergebnisse der Studie inzwischen bewertet hat.

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