Eine Schülerin wird vom mobilen Impfteam in der Schule geimpft
Impfen oder nicht impfen - das war lange die Frage. Erbittert wurde sich gestritten, bis heute sind die Lager gespalten. Forschende empfehlen Augenhöhe und Wertschätzung. Bildrechte: imago images/epd

Corona-Debatten Psychologie der Impfdiskussion: Forscher empfehlen Augenhöhe und mehr Wertschätzung

14. November 2022, 11:05 Uhr

Erbittert haben Geimpfte und Ungeimpfte gestritten und tun es bis heute. Warum ist die Atmosphäre so aufgeheizt? Wie befördert ein unfairer Ton gesellschaftliche Spaltung? Antworten liefert eine Studie des Cosmo-Panels der Universität Erfurt. MDR WISSEN sprach mit Luca Henkel, Verhaltensökonom am Cosmo-Panel darüber wie eine Identifizierung mit der eigenen Gruppe das Lagerdenken erhöht, die gesellschaftliche Spaltung befördert und welche Rolle Social Media und Messengerdienste dabei spielen.

Herr Henkel, Sie haben das Konfliktpotenzial bei Impfdiskussionen untersucht. Stehen sich Geimpfte und Ungeimpfte wirklich so unversöhnlich gegenüber?

Wir wollten herausfinden, inwieweit die Debatte rund um die Impfdiskussionen polarisiert ist. Wie haben die Menschen die Debatte erlebt? Wie weit haben sie Diskriminierung und Ausgrenzung erlebt? Das alles sind Fragen, die wir uns gestellt haben. Dafür haben wir einerseits Fragebögen ausgewertet, aber auch Verhalten experimentell untersucht.

Sie haben ein Experiment mit Geimpften und Ungeimpften durchgeführt?

Ja, uns hat interessiert, wie sich die Menschen direkt sozial zueinander verhalten. Dafür haben wir unsere Probanden im Rahmen der Studie mit hundert Euro ausgestattet. Sie konnten das Geld zwischen sich und einer anderen Person aufteilen. Hierbei zwischen geimpften und ungeimpften Personen. Das Ergebnis war in seiner Deutlichkeit verblüffend. Die Geimpften gaben das Geld lieber den Geimpften, ebenso verteilten die Ungeimpften das Geld lieber unter Gleichgesinnten. Die eigene Gruppe wurde immer bevorzugt, die andere diskriminiert.

Luca Henkel
Verhaltensökonom Henkel: "Gruppen der verschiedenen Lager diskriminierten sich gegenseitig." Bildrechte: Luca Henkel

Das klingt gravierend …

Identifizierungsprozesse scheinen bei diesen Vorgängen eine entscheidende Rolle zu spielen. Je höher die Identifizierung mit der eigenen Gruppe und den jeweiligen Positionen war, desto polarisierter gestaltete sich das Geschehen. Eine hohe Identifikation äußerte sich beispielsweise darin, dass Geimpfte und Ungeimpfte "stolz" auf ihren jeweiligen Impfstatus sind. Besonders interessant: Mediennutzung spielte eine wichtige Rolle. Zum Beispiel war die Identifikation bei Ungeimpften viel höher, wenn sie ihre Informationen primär aus sozialen Medien und Messenger-Diensten bezogen. Viel kleiner waren die Identifikation und demnach auch das Polarisierungspotenzial, wenn vor allem klassische Medien konsumiert worden sind.

Je mehr soziale Medien konsumiert wurden, desto stärker also die Polarisierung?

Im Grunde lässt es sich das so zusammenfassen. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass soziale Medien und Messenger einen Verstärkereffekt haben. Doch es gab auch noch einen anderen interessanten Faktor, das Vertrauen in die Regierung. Hier haben wir zwei gegensätzliche Entwicklungen bei den Geimpften und Ungeimpften. Je mehr die Geimpften dem Staat vertrauten, desto mehr identifizierten sie sich mit der eigenen Gruppe. Bei den Ungeimpften besteht der umgekehrte Zusammenhang. Je mehr diese dem Staat vertrauten, desto weniger identifizierten sie sich mit der Gruppe der Ungeimpften.

Doch warum kommt es zu dieser starken Identifikation? Was steckt dahinter?

Darüber können wir keine kausalen Aussagen treffen, das haben wir nicht untersucht. Wir haben aber analysiert, wie die Debatten geführt wurden und inwieweit Diskriminierung und Ausgrenzung vorherrscht. Je mehr die jeweiligen Gruppen diskriminiert wurden, desto höher war die Identifikation mit der eigenen Gruppe. Ähnliche Effekte kennen wir aus der Literatur in anderen Bereichen. Der Effekt nennt sich "rejection idenfication", beschreibt also steigende Identifikation durch eine gemeinsam erfahrene Ablehnung.

Schließt nicht ein solcher Identifikationskonflikt auf andere gesellschaftliche Wunden oder auch Eruptionen?

Das ist nicht auszuschließen, dies könnte durchaus der Fall sein. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die Identifikation mit der eigenen Gruppe über die Zeit außerordentlich stabil geblieben ist. Unsere Ergebnisse haben sich vom ersten bis zum letzten Zeitpunkt der Befragung kaum verändert.

Was meinen Sie konkret damit?

Wenn Probanden beispielsweise zu Beginn der Studie im Dezember 2021 angegeben haben, stolz zu sein, sich geimpft zu haben, war das mit hoher Wahrscheinlichkeit auch viele Monate später so. Umgekehrt war eine geringe Identifikation zu Beginn auch später noch zu finden. Das ist sehr interessant, weil ja in der Zeit eine Menge passiert ist. In Österreich wurde die Impflicht angekündigt und später wieder zurückgenommen, im Februar brach der Krieg aus, viele sind mittlerweile mit Covid infiziert gewesen. Das alles scheint keinen wesentlichen Einfluss gehabt zu haben, die Einstellungen scheinen sich verfestigt zu haben.

Warum ist das so? Wie erklären Sie sich das?

Da kann ich mit den uns aktuell vorliegenden Daten nicht sagen. Das ist eine spannende Frage, die wir in Zukunft untersuchen wollen.

Haben Ungeimpfte die Debatte wirklich als unfairer erlebt? Woraus schließen Sie, dass sie sich sozial ausgegrenzt gefühlt haben?

Wir haben die Probanden gefragt, wie sie Debatte erlebt haben. Über 80 Prozent der Ungeimpften haben den Ton der Debatte als sehr unfair erlebt. Dies empfanden jedoch nur 23 Prozent der Geimpften. Auch hier sehen wir ein Lagerdenken und die Rolle der Identifikation. Die Protagonisten, die sich mit ihrer Gruppe wenig identifizierten, empfanden die Debatte ähnlich. Je stärker jedoch die Identifikation, desto unfairer empfanden besonders die Ungeimpften die Debatte. Es entwickelte sich ein unterschiedliches Empfinden darüber, wie unangemessen der Ton ist.

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Sie empfehlen, die Polarisierung unbedingt zu reduzieren? Wie kann das gelingen?

Das Problem einer starken Polarisierung ist, dass Debatten nicht mehr sachlich und faktenbasiert geführt werden. Gerade der Ton verhindert eine sachliche Diskussion. Was das Lösungsangebot angeht, haben wir keine belastbaren Befunde. Wir können nur Empfehlungen geben. Normalerweise würde man sagen, man muss sich auf Daten und Fakten konzentrieren, um Polarisierung zu reduzieren. Wir sind jetzt aber auf einer anderen Ebene – sozusagen einer Meinungsebene. Wir müssen uns vielleicht niedrigschwellig auf den kleinsten gemeinsamen Nenner konzentrieren, auch wenn dies schwer fällt.

Das klingt einfach, ist in der Praxis sicher nicht ganz so einfach. Wie lässt sich konkret die Ideologie aus der Debatte nehmen?

Wenn man sich gegenteilig mit mehr Wertschätzung und auf Augenhöge begegnet, besteht die Hoffnung, dass sie die Identifikation mit den Gruppen der jeweiligen Lager verringert und somit die Polarisierung abnimmt.

Glauben Sie wirklich, man könne plötzlich wieder Wertschätzung in die Debatte bringen?

Die Forschung kann nur Ansätze liefern, wie das funktionieren könnte. Die Frage ist aber doch, was sind die Alternativen. Wollen wir in einer solch aufgeheizten Stimmung weitermachen oder nicht?

Wie hoch schätzen Sie die Relevanz von Vorbildern?

Wir wissen aus einer Vielzahl von Studien, auch aus dem Corona-Kontext, dass sich Menschen an Vorbildern orientieren. Gerade im Social-Media-Kontext haben Vorbilder eine enorme Reichweite. Sie sind also in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzen.

Was empfehlen Sie Familien und Freundeskreisen für den Weihnachtsfrieden?

Hierzu kann ich als Privatperson, nicht als Forscher eine Empfehlung abgeben. Für den Anfang kann es eventuell schon helfen, direkte Schuldzuweisungen zu vermeiden, sich nicht auf vergangenes Fehlverhalten zu konzentrieren, sondern stattdessen auf gemeinsame Erinnerungen und geteilte Erlebnisse. Das ist ja letztlich auch das, worauf es ankommt. Also auch wenn es schwer fällt, schwierige Themen vielleicht lieber nicht konfrontativ ansprechen.  

Die Empfehlung der Forschergruppe Die Forschenden empfehlen, die Polarisierung zwischen den Gruppen schnellstmöglich zu reduzieren. Ein gegenseitig wertschätzender Umgang, insbesondere durch Personen des öffentlichen Lebens, könne dazu beitragen, dass die beiden Gruppen wieder mehr aufeinander zugehen und ins Gespräch kommen, "so dass Impfen wieder zu einer Gesundheitsentscheidung werden kann und nicht mehr eine ideologische Wertentscheidung ist".

Infos/Studie

Das Forscherteam hat insgesamt 3.000 geimpfte und 2.000 ungeimpfte Studienteilnehmer aus Deutschland und Österreich befragt. Die Anzahl der Teilnehmer aus beiden Lagern ist verschieden, da nach Aussagen der Forschenden die Rücklaufquote der Fragebogen bei den Ungeimpften geringer war als erhofft. Die Daten wurden quantitativ mit Fragebögen erhoben. Die Studie ist nicht repräsentativ, "sie bildet die Bevölkerung in Österreich und in Deutschland nicht perfekt ab". Doch alle Bevölkerungsgruppen sind laut Henkel "relativ gut repräsentiert".

Details zur Publikation: Henkel, L., Sprengholz, P., Korn, L., Betsch, C., & Böhm, R. (2022). The association between vaccination status identification and societal polarization. Veröffentlicht in Nature Human Behaviour (https://www.nature.com/articles/s41562-022-01469-6).

(tom)

Ein Apotheker bereitet eine Spritze mit einer Dosis des Impfstoffs von Moderna vor. 24 min
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137 Kommentare

MDR-Team am 17.11.2022

Nachtrag: Leider war die Formulierung "Eine Corona-Impfpflicht hat es zu keinem Zeitpunkt in Deutschland gegeben" etwas missverständlich. Im Kontext des Nutzers Marvin0815 ging es um die Diskussionskultur, u.a. auch über die zur Impfpflicht. Hier gingen wir von einer allgemeinen Impfpflicht aus. Wir bitten Sie, dieses Missverständnis zu entschuldigen. Herzliche Grüße und vielen Dank für Ihr Verständnis.

Bria21 am 15.11.2022

Inzwischen sollte doch Jedem klar sein, dass Impfung nicht vor Ansteckung und Weitergabe sondern schwerem Krankheitsverlauf schützt. Natürlich gibt es Ausnahmen, so wie bei einem Autounfall auch mal jemand , der angeschnallt war, schlimmer verletzt sein kann als ohne Gurt, deshalb wird aber die Gurtpflicht nicht abgeschafft. Wenn also Geimpfte „unter sich“ sind, können die sich untereinander auch anstecken aber haben ein geringeres Risiko auf der IST zu landen. Bei einer Pandemie geht es nicht um Befindlichkeiten Einzelner sondern darum, das Gesundheitswesen nicht zu überlasten. Es ging dabei nicht um Ausgrenzung sondern Schutz und Schadensbegrenzung für die Allgemeinheit. Jeder konnte selbst entscheiden ob er dazu beiträgt oder seine persönlichen Gefühle, z.B.Zweifel an der fortschrittlichen Forschung oder Rebellion gegen die Regierung a la „ich lass mir nichts vorschreiben“ in den Vordergrund stellt, dann aber mit entsprechenden Konsequenzen.

MDR-Team am 15.11.2022

Da war nichts unbemerkt. Alle Informationen zum Infektionsschutzgesetz sind transparent einsehbar und es wurde auch in den Medien berichtet.

https://www.mdr.de/wissen/faktencheck/faktencheck-booster100.html

https://www.infektionsschutz.de/coronavirus/wie-verhalte-ich-mich/aktuelle-corona-regeln/

https://www.bmj.de/SharedDocs/Artikel/DE/2022/0912_IfSG_Mythen_Fakten.html