Deutschland-Barometer Depression Depression und Suizidgefahr im Alter unterschätzt

28. November 2019, 17:49 Uhr

Alte Menschen leiden weniger an schweren Depressionen als junge Menschen. Laut Robert Koch-Institut sind es nur 6,1 Prozent der über 70-jährigen, bei den Jüngeren hingegen über acht Prozent. Jetzt gibt es aber auch Zahlen, die damit gar nicht zusammenpassen. Die Selbstmordrate. Ab 80 Jahren steigt sie um das bis zu Fünffache. Als Hauptursache für einen Selbstmord sehen Psychologen der Deutschen Stiftung Depressionshilfe aber Depressionen.

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Alte Menschen leiden weniger an schweren Depressionen als junge Menschen. Eine Entwicklung, die nicht zu einer anderen Zahl passt. Denn im Alter steigt die Suizidgefahr dramatisch.

MDR AKTUELL Di 26.11.2019 13:24Uhr 03:07 min

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Weniger Depressionen, mehr Selbstmorde? In Berlin wurde am 26. November 2019 das "Deutschland-Barometer Depression" vorgestellt. Die Untersuchung der Deutschen Depressionshilfe befasst sich in diesem Jahr  ganz besonders mit diesem Widerspruch. Sie erfragt, was die Deutschen über Depressionen im Alter überhaupt wissen und wie sie behandelt werden.

Depression – die unbekannte Krankheit?

Christina Merseburger ist 73 Jahre alt und leidet schon einige Jahrzehnte an Depressionen. Die kleine Frau, mit gewelltem, kurzem Haar möchte anderen erzählen, wie es ihr geht. Denn sie glaubt, dass viele Leute immer noch nicht wissen, was Depressionen sind.

Also bei mir waren Symptome, dass ich plötzlich ganz viel Gewicht verloren habe, dass ich nicht essen konnte, morgens vor allen Dingen, dass ich völlig aufgedreht war, dass Schlaf- und Wachrhythmus außer Rand und Band waren, dass ich morgens ganz zeitig munter wurde.

Christina Merseburger

Dann habe sie stundenlang im Bett gelegen und all ihre Probleme gewälzt. Sie hatte das Gefühl, ganz viel machen zu müssen. Das wiederum überforderte sie, so dass sie nicht aufstehen konnte. Fast zehn Mal war sie in stationärer Behandlung und kann, dank ärztlicher Hilfe, heute ein glückliches Leben führen. Doch 30 Prozent der Deutschen denken, dass man Depressionen im Alter nicht behandeln müsse, ergab nun eine Onlinebefragung von 5.300 Menschen. Viele würden sogar davon ausgehen, dass es normal ist, im Alter Depressionen zu haben.

Werden Ältere benachteiligt?

Vor allem jüngere Menschen haben diese Meinung, sagt der Vorsitzendende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, Prof. Ulrich Hegerl. Er findet diese Haltung nicht akzeptabel, denn sie führt zur Benachteiligung älterer Menschen.

Das Risiko, dass eine Depression im Alter unterschätzt wird, ist relativ groß und ein anderes großes Problem ist, dass es in der Bevölkerung die Meinung gibt, dass alte Menschen keine Psychotherapie wollen.

Prof. Ulrich Hegerl

Prominente halten Sprechblasen in der Hand, mit denen sie mehr Aufmerksamkeit für Depression einfordern.
Viele Porminente unterstützen die Deutsche Depressionshilfe und fordern mehr Aufklärung über das Thema - wie hier beim Kongress der Stiftung im September 2019. Bildrechte: Deutsche Depressionshilfe

Die Befragung habe jedoch das Gegenteil gezeigt. Alte Menschen wollen Hilfe und würden auch eine Psychotherapie annehmen. Allerdings bekommen sie die nur selten angeboten. Während im Schnitt ein Drittel aller Menschen unter 70 Jahren eine Therapie bekommen, sind es bei den über 70 jährigen nur noch 12 Prozent.

Suizidrate steigt im Alter dramatisch

Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Menschen gehen nicht zum Arzt, weil zu Depressionen auch immer dazu gehört, bei sich selbst die Schuld zu suchen. Vielleicht werden sie in ihrem Leid auch nicht ernst genommen, weil sie eben alt sind. Oder sie leben alleine, gehen kaum noch aus dem Haus und niemand bemerkt, wie es ihnen geht. Ulrich Hegerl denkt jedenfalls, dass dadurch die hohe Suizidrate zustande kommt. Ab 80 Jahren steigt sie um das Fünffache an.

Also eine dramatische Zunahme und dies, obwohl die Depressionshäufigkeit nicht zunimmt. Das hat damit zu tun, dass ältere Menschen häufig nicht diagnostiziert werden, die Depression, nicht konsequent behandelt wird.

Prof. Ulrich Hegerl

Christina Merseburger gehört zu denen, die Hilfe bekommen und dafür ist sie dankbar. Einmal hätte ihre Familie gesagt, wir schaffen das alleine, du musst nicht in die Klinik. Aber nach Ihrer Erfahrung sei das bei einer schweren Depression nicht möglich.

Es ist schon so, dass man erstmal versucht, das so lange wie möglich rauszuziehen, aber das ist falsch. Ich weiß, dass ich mal zu einer Freundin gesagt habe: Sagt mir das nächste Mal, wenn ihr merkt, es ist so weit, bestärkt mich, dass ich gehe.

Christina Merseburger

Vor sechs Jahren starb ihr Mann und es wurde sehr einsam in ihrem Haus. Sie entschloss sich deshalb ins betreute Wohnen zu gehen. Dort lebt die 73-jährige nun mit anderen Menschen zusammen und weiß, dass sie immer jemanden zum Reden hat und auch Hilfe bekommt.

Deutschland-Barometer Depression

Die Deutsche Depressionshilfe veröffentlicht seit 2017 jedes Jahr das Deutschland-Barometer Depression. Die Ergebnisse sind auch für die vergangenen Jahre auf der Seite der Organisation abrufbar. Dort finden Sie auch einen Selbsttest, mit dem Sie Hinweise erhalten, ob Sie eine Depression haben und einen Arzt aufsuchen sollten.

Sie haben Selbsttötungsgedanken oder eine persönliche Krise? Die Telefonseelsorge hilft Ihnen rund um die Uhr: 0800 1110111 und 0800 1110222. Der Anruf ist anonym und taucht nicht im Einzelverbindungsnachweis auf. Auf der Webseite finden Sie weitere Hilfsangebote.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 26. November 2019 | 15:50 Uhr

1 Kommentar

part am 27.11.2019

Soziologisch betrachtet kein Wunder in der Gesellschaft, in der nur die Leistungsträger und Erfolgreichen etwas zählen, in der aber auch die Leistungsträger von einst keine Beachtung mehr finden und ihr Lebenswerk, ihre Biographien und Lebenserfahrungen immer mehr der Bedeutungslosigkeit anheim fallen. Fehlende staatlich- soziale Umsorge begünstigt diese Entwicklung, die einst Teil der Daseinsvorsorge war, zunehmende Altersverarmung und die Nichtteilnahme am öffentlichen Leben runden das Bild ab, sehr traurig aber zu oft real... Senioren werden durch Politik, Berichterstattung und staatliche Fürsorge immer mehr als belastend dargestellt für eine angeblich existierende Solidargemeinschaft. Soziale Betreuung, Vermittlung zu Hilfangeboten oder Vereinsmitgliedschaften oder die ganze Bandbreite gesellschaftlicher Teilhabe wird leider immer wenige staatlich gefördert. Nachkommen, die leider nicht mehr die Kraft aufbringen können, wie der Verlust des Hausfrauenstatus seit den 80- Jahren.