Einmal Dr. Heilmann bitte! Arztserien wecken Erwartungen und Ängste

22. April 2019, 05:00 Uhr

Engagierte Ärzte, die rund um die Uhr im Einsatz sind, jede medizinische Disziplin beherrschen und auch noch viel Zeit für ihre Patienten haben - so erleben wir es auf dem Bildschirm. Doch die Magie der Ärzte- und Krankenhaus-Serien geht am Alltag in Kliniken und Praxen nicht spurlos vorüber, wie verschiedene Studien belegen. Serienfans haben hohe Erwartungen und mehr Angst, wenn sie dann selbst einen Arzt aufsuchen müssen.

Fiktion - zu diesem Genre gehören Arztserien. Der Duden übersetzt "Fiktion" mit: "etwas, was nur in der Vorstellung existiert, ... etwas erdachtes." Unter diesem Vorzeichen also stehen die Geschichten aus "In aller Freundschaft", "Familie Dr. Kleist", "Grey´s Anatomy" oder "Dr. House". Dass das offenbar leicht in Vergessenheit gerät, davon können Mediziner in der Realität ein Lied singen. Auch Chirurg Kai Witzel:

Ich wurde von meinen Patienten oft auf die Methoden der Fernsehärzte angesprochen.

Kai Witzel, Chirurg

Sie nahmen also für bare Münze, was sie gesehen hatten. Zum Teil dürfen sie das auch. Nicht umsonst heuern die Produzenten Fachberater an, die ihr medizinisches Wissen einbringen und darauf Acht geben, dass die Handlung zwar immer noch fiktional bleibt, aber theoretisch möglich. Als "The Dox" haben sich zum Beispiel Ärzte verschiedener Fachrichtungen zusammengeschlossen, die etwa Drehbuchautoren beraten und überprüfen, ob Fachbegriffe richtig angewendet werden. Sie sind auch beim Dreh vor Ort und zeigen den Schauspielern die einzelnen Handgriffe oder wie man eben einen Patienten behandeln würde.

Als ich dann selbst Arztserien schaute, habe ich schon richtige Therapieformen gesehen. Aber eben teilweise auch völlig Absurdes, worüber ich mich dann mit meinen Patienten auseinandersetzen musste.

Kai Witzel

Das veranlasste Kai Witzel, der auch promovierter Kommunikationswissenschaftler ist, einmal genauer unter die Lupe zu nehmen, welchen Einfluss solche Serien auf das Verhalten und die Erwartungen der Patienten haben. Dazu befragte er 162 Patienten - mit recht eindeutigem Ergebnis.

Leute, die oft Krankenhausserien sehen, haben ein hohes Angstniveau.

Kai Witzel

Alle anderen hingegen stellen sich mit deutlich weniger Ängsten vor. Witzel sieht den Grund dafür in den zugespitzten Fällen, die im Fernsehen gezeigt werden. Die Serien leben von der dramaturgischen Verdichtung. Nur wenn es spannend bleibt, bleibt der Zuschauer am Bildschirm. Dazu gehört zum einen, dass der OP bevorzugt zum Schauplatz von Beinahetragödien wird und die Visite zum kommunikativen Höhepunkt.

Klinik-Alltag sieht anders aus

Womit der "echte" Arzt im Alltag schon vor dem nächsten Dilemma steht. In der Realität schaut er auf die Wunde und fragt kurz, wie es dem Patienten geht. Damit hat er alle Informationen, die er aus medizinischer Sicht braucht. Aber der frisch Operierte hat ganz andere Erwartungen, besonders wenn er sonst - fiktional - z.B. in der Sachsenklinik zu Hause ist.

Dr. Henrik Oswald (Horst Janson, re.) der am Morgen für eine Beratertätigkeit in der Sachsenklinik war, wurde nun nach einem Autounfall mit einem gebrochenen Fuߟ eingeliefert. Als Dr. Roland Heilmann (Thomas Rühmann, mi.) und Dr. Martin Stein (Bernhard Bettermann, li.) nach dem genauen Unfallhergang fragen, fühlt Oswald sich sofort angegriffen: Er gehöre nicht zu den alten Menschen, die im Straߟenverkehr mit zunehmendem Alter zur Gefahr werden.
Bildrechte: MDR/Saxonia Media Filmproduktion/Kiss

Der Patient wartet den ganzen Tag auf die Visite, er möchte ausführlich berichten, wie es ihm geht, möchte reden. Aber er ist ja nicht der einzige. Man hat noch zig andere Patienten. Das passt schon vom Zeitmanagement gar nicht.

Kai Witzel

Da sei die Unzufriedenheit vorprogrammiert, selbst wenn die OP hervorragend verlaufen und die Genesung in vollem Gange ist, so Witzel.

Realitätsverlust hat einen Namen: Der "Grey´s Anatomy Effect"

Was Kai Witzel untersucht hat, ist kein deutsches Phänomen. Auch in den USA haben Ärzte dazu geforscht, weil sie erstaunliches in ihrer Praxis erlebten. So wurde ein junger Mediziner in Wilson/North Carolina von einem Patienten gebeten, ihm eine neue Niere zu drucken. Der hatte gesehen, wie bei "Grey´s Anatomy" mit einem 3D-Drucker ein Neugeborenenherz produziert wurde. Es sollte jedoch nie transplantiert werden. Die Chriurgen sollten daran den Eingriff an einem Baby trainieren. Gedruckte Organe zu implantieren, ist derzeit noch Zukunftsmusik.

Halbwissen und Missverständnisse machen Ärzten das Leben schwer

Mental so vorbereitet kommen die Patienten dann in die Kliniken und konfrontieren das Personal mit ihren Wünschen. Das veranlasste Dr. Jaclyn Portanova (2015 an der University of Southern California) und ihre Kollegen, "Grey´s Anatomy" und "Dr. House" auf ihre Differenz zum wahren Leben hin einmal genauer zu analysieren.

Auch hier waren die Studienergebnisse eindeutig, zum Beispiel im Hinblick auf den Erfolg von Wiederbelebungsversuchen: In 91 Folgen erhielten 46 Patienten eine Herz-Lungen-Wiederbelebung. Ca. 50 Prozent davon überlebten dauerhaft. In der Realität schaffen es nur etwa 25 Prozent, also die Hälfte.

Diese unrealistische Darstellung der Wiederbelebung zum Beispiel beeinflusst Patienten und Ersthelfer und beeinträchtigt ihr Handeln in echten Notsituationen.

Jaclyn Portanova

Auch in Sachen Schädel-Hirn-Traumata bestätigt die Studie von Rosemarie O. Serrone (St. Joseph’s Hospital and Medical Center, Phoenix, Arizona) und deren Kollegen dieses Bild. Dazu verglich sie die Entwicklung von 290 Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma aus TV-Serien mit 4.812 Patienten aus der realen Trauma-Datenbank. Das Fazit der 2017 veröffentlichten Studie: 22 Prozent der Fernehpatienten erlagen ihren Verletzungen, im wahren Leben starben nur sieben Prozent der Betroffenen. Nur ein Viertel der echten Notfallpatienten müssen sofort operiert werden, bei den Serienpatienten sind es ganze 71 Prozent, womit wir wieder bei der Verdichtung der Ereignisse im Dienste der Spannung am Bildschirm sind. Die Langzeitaufenthalte in der Klinik oder gar im Pflegeheim hingegen finden in Drehbüchern keinen Platz, sind aber häufig die Folge solcher Verletzungen.

Dieses Verzerrung der Realität weckt völlig falsche Erwartungen bei Patienten und Angehörigen. Da sind Konflikte und Enttäuschungen vorprogrammiert.

Studie: Grey’s Anatomy effect

Auch die Umfrage des Mediziners Bruce Lee von der John Hopkins Bloomberg School für Gesundheitswesen in Baltimore bestätigt das. Er hatte Serienfans über die sozialen Medien dazu befragt, welche Erwartungen sie an ihre Genesung nach einer Operation hätten:

Sie unterschätzten den Genesungsprozess gewaltig. Schließlich sehen die Schauspieler ja oft so aus, als wollten sie zu einer Dinnerparty, sobald sie aus der Narkose erwacht sind.

Bruce Lee

Lernen von Dr. House & Co.

Dass man aus Arztserien auch lernen kann, sieht der Mediziner Jürgen Schäfer von der Universität Marburg und setzt sie daher seit einigen Jahren gezielt in seinen Vorlesungen ein. Sein Seminar "Dr. House - oder: Hätten wir den Patienten in Marburg auch geheilt?" ist gut besucht. Die in der Serie dramatisch zugespitzten Fälle werden von Studenten höherere Fachsemester unter wissenschaftlichen Aspekten analysiert. Dabei legt Prof. Schäfer, der am  Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen des Universitätsklinikums Gießen-Marburg arbeitet, auch großen Wert auf fachübergreifende Teamarbeit und eine integre Arztpersönlichkeit. Dieser Ansatz bescherte ihm eine gewaltige öffentliche Ressonanz und den Ars legendi - Fakultätenpreis für exzellente Lehre in der Medizin 2010.

Idealbild ist nicht nur Fluch

... sondern auch Segen. So nimmt sich Kai Witzel inzwischen mehr Zeit für die Gespräche mit seinen Patienten.

Die Visite und der Patientenkontakt außerhalb des OP´s sind mindestens genauso wichtig wie die Operation selbst. Darauf habe ich mich inzwischen eingestellt.

Kai Witzel

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der Osten - Entdecke, wo du lebst | 23. April 2019 | 21:00 Uhr